Präludien
zu einer nichtklassischen Anthropologie
Dr.
Frank Tremmel
Zuerst
publiziert in: „Saqartvelos fsiqologiis macne. Journal of Georgian
Psychology. Dimitri uznazis saxelobis fsiqologiis institutis 70
wlistavisadmi mizrunili saiubileo almanaxi. Saertasoriso gamocema.
International Edition. Tbilisi 2013, S. 345-385.
„Für
einen evolutionistischen und einen intuitivistischen Standpunkt
scheint es sehr wohl möglich zu sein, im Grade der Wirklichkeit ein
eigenartiges Prinzip aufzunehmen, das den Begriff des dualen Wirkens
in sich einschließt und dadurch allen am vulgären Dualismus oder
Monismus haftenden Schwierigkeiten und Scheinproblemen den Boden zu
entziehen.“
„Die
bisherige Philosophie ihrem abstrakten Charakter gemäß hat mit
wenigen Ausnahmen […]
von jeher diese zwei notwendigen Seiten des Lebens getrennt von
einander betrachtet; sie zerstückelt die konkrete Wirklichkeit, wie
es für das menschliche, zeitlich vor sich gehende Denken allein
möglich ist, und hypostasiert die isolierten Seiten des Ganzen zum
Ganzen selbst; das war die unerschöpfliche Quelle all der
widerspruchsvollen Behauptungen, die der abstrakten Philosophie eigen
zu sein scheinen.“
„Sobald
man sich auf den physiologischen Standpunkt stellt, ist man
gezwungen, immer in den Grenzen des Lokalen, des Partiellen zu
bleiben; physiologische Prozesse müssen irgendwo im Körper
lokalisiert werden. Doch muss man annehmen, dass gewisse
Teilprozesse, bestimmte lokale Änderungen, auf einer bestimmten
Stufe ihrer quantitativen Entwicklung die Bedeutung eines Faktors
gewinnen, der den Gesamtorganismus qualitativ mehr oder weniger
verändert. Diese Modifizierung des Ganzen in seiner Betätigung
nennen wir eben die Einstellung.“
Dimitri
Uznadze
Summary
The
present article describes the intellectual life of the Georgian
psychologist and philosopher Dimitri Uznadze as a search for
non-classical anthropology, as it corresponds to the new type of
rationality, developing in the 20th
century (Merab Mamardashvili). In contrast to the common
interpretation of the „psychology of set“ as a search for
stabilizing regulations of activity through fixation experiments the
article focused on „set“ as an onto-anthropological modus of
man-world-relation. Uznadzes approach is considered as an ecology of
mind“ (Gregory Bateson) and is dicussed in the context of the human
sciences of the early Soviet era. The article connected the efforts
of Uznadze with contemporary cognitive sciences and considered his
anthropology as compatible with the global era of „noosphere“
(Vladimir I. Vernadsky), the emerging „anthropological space of
knowledge“ (Pierre Lévy).
Unsere
Epoche, die eine der vermutlich weitgehendsten Transformationen des
anthropologischen Raumes seit der neolithischen und der
industriell-kapitalistischen Revolution erlebt, ist immer noch auf
der Suche nach ihrer Epistemologie. Der neu entstehende „Raum des
Wissens“, der die Räume der „Erde“, des „Territoriums“ und
der „Waren“ (Lévy 1994/1997, 137ff.) neu ordnet, ist nicht mehr
im Rahmen des klassischen Rationalitätsideals (Mamardaschwili 1984)
erfassbar. Diesem Ideal, das auf dem abstrakten Gegensatz von
Freiheit und Determination, von Erfahrung und Theorie, von Intuition
und Begriff, von transzendentalem Subjekt und Phänomen basiert und
dessen Anfänge bereits in den ersten staatlich organisierten,
räumlich distinkten, historischen Kulturen zu finden sind, liegt
auch noch der modernen Technowissenschaft zugrunde. Allerdings
beginnt sich dieser widersprüchliche Zusammenhang von Subjekt und
Objekt, der unser Denken und Handeln spätestens seit Sokrates
bestimmte, in den kybernetischen Logiken zunehmend aufzulösen. Die
Informationstheorie, die der Warenzirkulation entspricht, bringt aber
zunächst nur ein zerstückeltes Wissen hervor. „Eine neue
Rationalität“ ist in der „Konstruktion eines schmalen Pfades
zwischen blinden Gesetzen und willkürlichen Ereignissen“
(Prigogine/Stengers 2000, 251, 262) erst ansatzweise erkennbar. Das
Werden der „kollektiven Intelligenz“ und die „Wiederaneignung
der subjektiven Zeitlichkeiten“ (Lévy, 185), die mit dem Raum des
Wissens verbunden sind, benötigt eine Epistemologie, die über die
„sozialen Alchemien des 20. Jahrhunderts“ (Mamardaschwili ebd.,
68f.) hinausgeht. An die Stelle eines homogenisierenden
Bezugssystems, eines intersubjektiven Beobachtungsraums, in dem die
epistemischen Subjekte austauschbar sind und in dem ein
formalisiertes Wissen vermittelt wird, tritt dann ein kollektives
Wissen der individuierten Erfahrungswelten. Die „Wechselseitigkeit
von Identität und Wissen“ charakterisiert den „vierten
anthropologischen Raum“ als „Raum des Wissens“ (Lévy, 213).
Kognitionswissenschaft und Kognitionstechnik (Varela 1988/1990)
konvergieren in Richtung auf eine „allgemeine menschliche Ökologie“
(Lévy ,227ff.), mit der die Beziehungen zwischen den verschiedenen
anthropologischen Räumen harmonisch gestaltet werden können. Sie
erweisen sich so als Aspekte einer „Kosmopädie“ (Lévy 212f.),
einer neuen politischen Philosophie. Der russische Philosoph Ilia
Kassavine spricht von der „Suche nach einer nichtklassischen
Erkenntnistheorie“, die er vor allem als eine wesentliche
Erweiterung des Gegenstandsfeldes epistemologischer Untersuchungen
betrachtet , die aber auch in der „Analyse des ganzheitlichen
Erkenntnisverhältnisses“ diese Ganzheit „als die innerlich
differenzierte Mannigfaltigkeit des Wissens“ (Kassavine 2003,
19ff.) beschreibt. Seit den 1920er Jahren können wir in der
Geschichte der Humanwissenschaften ansatzweise die Entstehung einer
nichtklassischen Anthropologie beobachten, die sich mit der
Entfaltung globaler Kommunikationsverhältnisse zunehmend als
interkulturelle Episteme ausprägt. In den Werken des
US-amerikanischen Philosophen und Sozialpsychologen George Herbert
Mead, der deutschen Philosophischen Anthropologie und
Wissenssoziologie, wie sie Max Scheler, Helmuth Plessner, Karl
Mannheim und Alfred Schütz vertraten, in den Arbeiten der russischen
Forscher Lew S. Wygotskij, Wladimir I. Wernadski, Michail Bachtin und
Sergej L. Rubinsteins werden Grundzüge eines Wissens sichtbar, das
der Kreativität, der Bedeutungsbildung und den Werten in der
Ganzheit des Mensch-Welt-Verhältnisses Rechnung trägt.
Insbesondere in den Forschungen der Georgier Konstantin Megrelidze
und vor allem Dimitri Uznadzes zeichnen sich die Konturen einer
„kognitiven Ökologie“ (Lévy 201), einer „neuen
anthropologischen Kosmologie“ (Ders. 241) ab.
Die
auf den Psychologen Dimitri Uznadze (1886-1950) zurückgehende
georgische Schule der „Einstellungspsychologie“ nimmt in der
Wissenschaftsgeschichte eine Sonderposition ein. Dieser Ansatz
entstand bereits in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts im
regen Austausch mit der deutschen und russischen Wissenschaftskultur.
Viele Vertreter der geisteswissenschaftlichen Elite der nach dem
Ersten Weltkrieg entstandenen Demokratischen Republik Georgien
(1918-1921) hatten in Deutschland studiert. Uznadze selbst hatte 1909
in Halle 1886-1950 bei dem bedeutenden Kant-Forscher Paul Menzer
(1873-1960) über die Erkenntnistheorie des russischen Philosophen
Wladimir Solowjow (1853-1900) promoviert, nachdem er, wie auch George
Herbert Mead und viele andere, in Leipzig bei Wilhelm Wundt
(1832-1920), einem der Begründer der modernen
Experimentalpsychologie und bei Karl Lamprecht, dem bekannten
Vertreter der modernen Kulturgeschichtsschreibung, und bei dem
Philosophen
Paul
Ernst Emil Barth
studiert
hatte. Seine Arbeit über Solowjow kann, neben der 1905 ebenfalls in
Halle publizierten Dissertation von Emilie Tumarkin, zu den
Pionierleistungen der deutschsprachigen Solowjowrezeption gezählt
werden. Uznadze gehörte 1918 zu den Mitbegründern der Staatlichen
Universität Tbilissi, an der er den Fachbereich Psychologie
etablierte, dem er bis 1950 vorstand. Er richtete
dort auch das erste experimentalpsychologische Labor ein. 1943
wurde er Direktor des ersten unabhängigen Instituts für Psychologie
in der ehemaligen UdSSR an der ebenfalls von ihm mitbegründeten
Georgischen Akademie der Wissenschaften. Tbilissi war in den 1920er
Jahre, wie auch Odessa, Witebsk und Vilnius, Leningrad (St.
Petersburg), wo Sergej L. Rubinstein und Michail M. Bachtin
zeitweilig lebten und arbeiteten, eines der multikulturellen Zentren
Europas. Einflüsse der mittel- und westeuropäischen sowie der
russischen Kultur wurden auf höchst eigenständige Weise verarbeitet
und führten zu innovativen Leistungen auf den Gebieten der
Humanwissenschaften und der Philosophie. Denker und Forscher wie
Konstantin S. Bakradze (1898-1970), der ab 1922 eine Aspirantur bei
Edmund Husserl in Freiburg absolvierte, und Konstantin Megrelidze
(1900-1944), der 1924/25 ebenfalls bei Husserl Vorlesungen besuchte,
brachten die neue phänomenologische Methode nach Georgien. Schalwa
Nuzubidse (1888-1968), der sowohl in St. Petersburg als auch in
Leipzig studiert und später auch gelehrt hatte und mit Uznadze u.a.
die staatliche Universität Tbilissi begründete, waren die
erkenntnistheoretischen Arbeiten von Hans Driesch, Nicolai Hartmann,
Bernard Bolzano und Emil Lask bestens bekannt. Seine Arbeiten zur
„Aletheiologie“ waren nicht nur höchst eigenständige
philosophische Werke, sondern auch beeindruckende Synthesen der
deutschen epistemologischen Forschung. Megrelidze war zwischen 1925
und 1927 durch den Besuch von Vorlesungen und Übungen bei Max
Wertheim und Wolfgang Köhler an der Friedrich-Wilhelms-Universität
auch mit den Forschungsergebnissen der Berliner Gestaltpsychologie in
Berührung gekommen und verwandte diese Erkenntnisse in Georgien für
seine kognitionswissenschaftlichen Arbeiten. Uznadze vermittelte der
georgischen Wissenschaftskultur nicht nur Kenntnisse der
fortgeschrittenen erfahrungswissenschaftlichen
Experimentalpsychologie, er publizierte nach seiner Rückkehr aus
Deutschland 1920 auch eine Arbeit über Leibniz' petite
perceptions und
eine Monographie über Henri Bergson. Das georgische Publikum war
schon früh mit den Werken der Lebensphilosophie in Berührung
gekommen. Durch diverse Zeitungsartikel und die sich anschließenden
Diskussionen kannte die interessierte georgische Öffentlichkeit das
Werk Friedrich Nietzsches bereits Ende des 19./Anfang des 20.
Jahrhunderts (Iremadze 2006, 219f.). Durch die Übersetzungstätigkeit
von Nikolaz Imnaischwili und Paolo Iaschwili, die zwischen 1919 und
1924 Ökonomie in Berlin studiert hatten, waren auch wichtige Werke
von Marx und Engels in georgischer Sprache zugänglich. Die aktuellen
Strömungen der Philosophie und der Sozialwissenschaften wurden
rezipiert. Georgien wurde so zu einem der wichtigsten osteuropäischen
Zentren der damaligen Kognitionsforschung und der
Humanwissenschaften. Gefördert durch bzw. in unmittelbarer
Nachbarschaft von Uznadze schuf nicht nur Konstantin Megrelidze seine
einzigartige Soziologie des Denkens; Iwane Beritaschwili (1884-1974)
entwickelte in Georgien seine Theorie der psychoneuronalen
spontanen Aktivität und der bildgesteuerten Erinnerung, die
Ergebnisse der Selbstorganisations- und der aktuellen
Gedächtnisforschung (Eric Kandel, Patricia Goldman-Rakic, John M.
O’Keefe) vorwegnahm. So wie Megrelidze die naturalistischen
Genealogien des Bewusstseins in der frühen sowjetischen
Sozialwissenschaften kritisisierte und eine neuartige praxeologische
Bewusstseinstheorie vorschlug, so hat gleichsam analog auch
Beritaschwili Alternativen zum neuromaterialistischen Reduktionismus
der damaligen Reflexologie vorgelegt.
Die
Wissenschaftskultur der frühen Sowjetunion, in der auch die
georgischen Wissenschaftler nach 1921 ihren Platz suchten, war noch
vergleichsweise offen. Sie zeichnete sich durch vielfältige
Beziehungen zu ausländischen Wissenschaftsgemeinschaften und
innovative, interdisziplinär angelegte Forschungsansätze aus.
Vernetzungen aus vorrevolutionärer Zeit und auch neue
Forschungskooperationen schufen eine fruchtbares Milieu für die
Humanwissenschaften. Noch Anfang der 1930er Jahre konnte
beispielsweise Alexander R. Lurija (1902-1977) seine
Forschungsexpeditionen nach Zentralasien (Usbekistan und Kirgisien)
als international angelegte Projekte durchführen. Im geistigen
Austausch mit (Wolfgang Köhler, Kurt Lewin) und unter persönlicher
Beteiligung von ausländischen Kollegen (Kurt Koffka) wurden die
kulturhistorischen Veränderungen psychischer Prozesse untersucht.
Auch innerhalb der Sowjetunion entstanden produktive
Austauschbeziehungen. Im Kontext der neuen Disziplin der
Wissenschaftsforschung, die vor allem von Nikolai I. Bucharin
(1888-1938) gefördert wurde und auch in Westeuropa und den USA
Beachtung fand, entstanden Forschungsprojekte, an denen auch
georgische Forscher teilnahmen. Auch über das von dem Georgier
Nikolaj J. Marr (1864-1934) gegründete „Institut für Sprache und
Denken“ im damaligen Leningrad existierten wissenschaftliche
kommunikative Zusammenhänge. Megrelidze korrespondierte mit Bucharin
über seine Forschungsvorhaben, setzte sich sowohl mit der
„funktionellen Semantik“ Marrs auseinander und diskutierte mit
dem Wygotskijschüler Lurija über die Besonderheiten des
menschlichen Bewusstseins. Offenbar bestanden zwischen den
Forschungszusammenhängen um den Sprach- und Literaturwissenschaftler
Michail M. Bachtin, um Lew S. Wygotskij (1896-1934), um Boris G.
Ananjew (1907-1972), den Begründer einer interdisziplinären
Humanontogenetik, der Uznadzeschule u.a. Beziehungen, die aufgrund
der später einsetzenden administrativen Repressionen der 1930/40er
Jahren lange Zeit unbekannt blieben. Auch wenn die Zusammenhänge nie
ganz zerrissen und in den 1960/70er Jahren für die Renaissance der
interdisziplinären Bewusstseinsforschung in der Sowjetunion erneut
bedeutsam wurden, konnte doch an die ursprüngliche undogmatische
Frische dieser Ansätze nie wieder ganz angeknüpft werden. Es war
dieses produktive Ursprungsmilieu, in dem nahezu alle
kognitionswissenschaftlichen Forschungen des 20. Jahrhunderts
wurzelten. Auch die „kognitive Revolution“, die in den USA und
Westeuropa das vorherrschende behavioristische Paradigma ablöste,
blieben von diesen Ansätzen nicht unbeeinflusst. So fand durch den
von Jean Piaget popularisierten „Uznadze-Effekt“
(Piaget/Lambercier 1944, 139-196), einem wahrnehmungspsychologischen
Phänomen, ein zentraler Gedanke der „Einstellungspsychologie“
Eingang in die damalige Diskussion. Aus den Diskussionszusammenhängen
am Department for Social Relations an der Harvard Universität ging
in den 1960er Jahren das Center for Cognitive Studies hervor, an dem
u.a. auch der russische Philologe, Linguist und Semiotiker Roman O.
Jakobson (1896-1982) wirkte. Er brachte den Mitbegründer des Centers
und Doyen der US-amerikanischen Kognitionswissenschaft Jerome S.
Bruner in Kontakt mit den Forschungen und Vertretern der
kulturhistorischen Schule um Wygotskij. Er bemühte sich auch darum,
die Forschungen der Uznadzeschule über das Unbewusste in die moderne
Linguistik einfließen zu lassen. Insgesamt können die Ansätze der
1920er Jahre als geniale Antizipationen einer neuen
Bewusstseinsforschung betrachtete werden, die seit den 1960er Jahren
und erneut in den 1990er Jahren in immer neuen Schüben die
Ausbildung eines neuen anthropologischen Raums des Wissens begleitet.
Zusammen mit der Kybernetik und Systemforschung, die in der
Sowjetunion mit der „Tektologie“ Alexander A. Bogdanows
(1873-1928) eigene Wurzeln hat, der Kommunikationswissenschaft und
Semiotik, dem Aufkommen der „science of science“ und den
Fortschritten der anthropologisch-psychologischen Forschung
entstanden die Voraussetzungen einer „Ökologie des Geistes“
(Gregory Bateson), die das „Denken als planetare Erscheinung“,
als „Kraft in der Biosphäre“ (Wladimir I. Wernadski) begreift.
So
wie auch der aus Odessa stammende Psychologe Sergej L. Rubinstein,
der vor dem 1. Weltkrieg in Freiburg, Marburg und Berlin bei
Heinrich Rickert, Hermann Cohen und Ernst Cassirer studiert hatte und
zeitlebens an einer umfassenden „Ontologie des menschlichen
Daseins“ arbeitete, so schuf auch Dimitri Uznadze eine
nichtklassische Anthropologie, in der die „Einstellung“, unter
seine Schule später bekannt wurde, keineswegs in erster Linie einen
„psychischen Stabilisationsfaktor“ bezeichnet, „der
Verhaltensgleichförmigkeiten in rekurrenten Umständen erklärt und
dessen Allgegenwart durch die zahlreichen Spielarten des
Fixationsexperiments im Labor nachgewiesen wird“ (Matthäus 1988,
540). Diese Betrachtungsweise verbleibt in der Epistemologie des
territorialen Raums (Lévy, a.a.O, 208ff.), in der die
„Verdinglichung der psychischen Entitäten“, wie sie „mittels
extrinsischer Bezugsgrößen“ und auf Kosten der intrinsischen
evolutiven, kreativen und selbstbestimmten Dimensionen der
Subjektivierungsprozesse“ (Guattari 1989/2012, 24) erfolgt,
betrieben wird. Ähnlich wie Nikolaj N. Leontjew (1903-1979) in der
„Tätigkeitstheorie“ gegenüber dem Ansatz seines Lehrers
Wygotskij ein „Zusammendenken von Objekt- und Selbsterkenntnis“,
d.h.die „inhärente Gegenständlichkeit des Denkens“ durch die
„Annahme einer besonderen „Gegenständlichkeit“ (Friedrich
1991, 541ff.) ersetzt, so wurde in der Uznadzeschule in den 1940er
Jahren , teils durch ihren Begründer selbst, teils durch seine
Schüler, eine szientistische Substantialisierung der „Einstellung“
gegenüber ihrer nichtcartesianischen Bestimmung als Modus des
In-der-Welt-Seins favorisiert. Die stalinistische
Wissenschaftspolitik forderte ihren Tribut in Gestalt einer
methodologischen Disziplinierung der Subjektivität. Die
bergsonianische Anthropologie und Epistemologie, wie sie noch in
Uznadzes Werk „Impersonalia (1923) zum Ausdruck kam, konnte nur
noch untergründig weiterleben. So zeigt die von Eduard Kodua
besorgte zweibändige Ausgabe der philosophischen Schriften ein
komplexeres Bild als manche Kanonisierung. Uznadze, der noch in
seiner Dissertation über Solowjow, wie Kodua schrieb, der Annahme
Paul Valerys folgte, wonach „es tatsächlich keine Theorie [gibt],
die nicht eine von einer Autobiographie sorgfältig präparierte
Episode wäre“ (zitiert nach Kodua 1988, 78), konnte seine
Ontologie und Anthropologie, die weit über eine szientistische
Humanwissenschaft hinausging, in den späteren Jahren nicht mehr
explizit entfalten. Die von seinem Ich nicht abzulösende Philosophie
des Menschen, wie sie in Metaphysik und Poesie zum Ausdruck kommt und
die Uznadze bereits in der Dissertation mit dem Begriff der
Einstellung charakterisierte, wurde erst wieder in den 1960er Jahren
von seinem Schüler Angia Botschorischwili (1902-1982) aufgegriffen,
der am Zereteli Institut für Philosophie an der AdW Georgiens die
erste und einzige Abteilung für „Philosophische Anthropologie“
in der ehemaligen Sowjetunion begründete. Ähnlich wie Sergej L.
Rubinstein (1889-1960) in den 1920er Jahren in Odessa seine Theorie
der „schöpferischen Selbstaktivität“ entwickelte und später
seine philosophisch-anthropologischen Überlegungen im Rahmen der
erfahrungswissenschaftlichen Psychologie fortsetzte, so hat auch
Uznadze die Freisetzung dieses Potentials nicht mehr erlebt. Auch
Rubinsteins Ausführungen zu einer Mensch-Welt-Philosophie konnten
erst posthum ausschnittsweise publiziert werden (Rubinstein 1974,
271f.). Im Rahmen der psychologischen Uznadzeschule wird die
„Einstellung“ als psychischer „Vorbereitungszustand, der
konkreten Handlungen, Wahrnehmungen oder Bewusstseinsakten
vorausgeht“ thematisiert. In Auseinandersetzung mit der
Tätigkeitstheorie, wie sie vor allem von Leontjew vertrat, wurden
Prioritätsfragen erörtert, die aber erfahrungswissenschaftlich
nicht zu beantworten waren. Die Frage nach dem jeweiligen Vorrang von
„Einstellung“ bzw. „Tätigkeit“ bekam im Rahmen einer
szientistischen Auffassung der Humanwissenschaft triviale Züge. Wenn
allerdings der ontologische Status der „Einstellung“ nicht auf
das Psychische reduziert wird, sondern als Modus im Rahmen einer
Anthropologie verstanden wird, der es um die Überwindung des
cartesianischen Materie-Geist-Dualismus ging, dann bekommt die Frage
nach der Priorität durchaus einen nachvollziehbaren Sinn.
Verschiedene Uznadzeschüler wiesen in der jüngeren Vergangenheit
zurecht darauf hin, dass Uznadze die psychophysische Ganzheit der
Individuen in den Blick nehmen, d.h das Leben der Individuen
begrifflich fassen wollte. Ähnlich wie bei der Neurologen Kurt
Goldstein (1878-1965), der Mediziner Viktor von Weizsäcker
(1886-1957) und der Psychologe Kurt Lewin (1890-1947) betrachtet
Uznadze den Organismus in seiner umweltbezogenen Kinästhesie, die
humanspezifisch als Situation aufgefasst wird. Vergleichbare
Gedankengänge finden sich auch in der 2. Leipziger Schule der
Gestaltpsychologie und bei dem deutschen Philosophen Erich Rothacker
(1888-1965). Zweifellos muss an dieser Stelle auch der Umweltbegriff
des baltischen Biologen Jakob J. von Uexküll (1864-1944)
berücksichtigt werden, der in der Biosemiotik und Philosophischen
Anthropologie fortwirkte. Die Situation bzw. das integrierte
Eingestelltsein werden nach Uznadze in der „Biosphäre“
hervorgerufen. Die „Einstellung“ wird so zur existentiellen Basis
alles Psychischen. Das „Unmittelbarkeitspostulat“ (Nikolaj N.
Leontjew), d.h. die fälschliche Annahme einer unmittelbaren
Abhängigkeit des Verhaltens der Individuen von ihren
Umweltbedingungen, wird nicht durch ein psychologisches
Ganzheitsprinzip und auch nicht durch eine „Widerspiegelung des
Gegenstandes als bewusstgewordenes Ziel“ überwunden. Sie liegt
sogar noch dem voraus, was Erich Rothacker die „primäre
Vergegenständlichung unseres Wesens“ (Rothacker 1954, 22) nannte
und die Arnold Gehlen (1904-1976), ein anderer Vertreter der
deutschen Philosophischen Anthropologie, einmal folgendermaßen
beschrieb: „Ein
starkes und orientiertes Bedürfnis ist ganz eigentlich `innere
Außenwelt´ - es war Novalis [...],
der sagte, `dass es auch eine Außenwelt in uns gibt, die mit unserem
Inneren in einer analogen Verbindung steht, wie die Außenwelt außer
uns mit unserem Äußeren´. Ein gefühlsstarker, bildbesetzter
Interessenkomplex hat erlebnismäßig eine anschauliche
Eigenständigkeit, in der die Person sich selbst gegenständlich
wird, obgleich nicht im Sinne der Selbstbeobachtung oder
Selbstbesinnung“ (Gehlen
1956/2004, 85f.). Die
Einstellung kann als nichtsprachlicher primärer Dialog des
Individuums mit seiner Umwelt verstanden werden. Sie kann aus der
Sicht des psychischen Erlebens allerdings nur unvollständig
beschrieben werden. Das Psychische ist in diesem Sinne nur ein System
von Organen des leibhaftigen Subjekts. Die in der Uznadzeschule
perpetuierte Standardformulierung, die ihr Begründer allerdings nur
informell benutzte, wonach die Einstellung aus der Begegnung einer
Situation mit einem Bedürfnis hervorgeht, setzen bereits eine bild-
oder zeichenhafte Repräsentation voraus. Der deutsche
Kognitionspsychologie Wolfhart Matthäus referiert in diesem
Zusammenhang D. Amiredžibi
(Matthäus 1988, 542), der diese Auffassung ausdrücklich
kritisierte, weil sie nicht die existentielle Basis berücksichtigt,
sondern sich auf das Psychische stützt, das aus ihr hervorgeht.
Dieses präreflexive Verstehen ähnelt dem Dasein im Sinne der
Existenzialphänomenologen.
Der
Vergleich mit Martin Heideggers (1889-1976) Denken drängt sich hier
förmlich auf, aber auch der implizite Wirklichkeitsbegriff Michael
Polanyis (1891-1976) und die phänomenologischen Arbeiten Maurice
Merleau-Pontys (1908-1961) wären zur Erläuterung hinzuzuziehen.
Eingestelltsein als In-nuce-Sein künftiger Aktivitäten (Matthäus
a.a.O., 544), als ein „implizites Wissen“ (Polanyi 1966/1985)
bzw. Intuition ist zweifellos ein wichtiges Forschungsfeld, zu dem
Uznadze einen fruchtbaren und originären Zugang geschaffen hat. So
wird das Unbewusste in nichtpsychoanalytischen Versionen
konzeptionalisiert, die auch gegenwärtig, beispielsweise im Rahmen
der Embodied Cognitive Science, wieder hochaktuell sind. Immerhin
gelang es den Georgiern bereits 1979, in Tbilissi einen Kongress zu
diesem Thema zu organisieren, an dem zahlreiche international
bekannte Philosophen und Wissenschaftler teilnahmen. Der
Gesamtzusammenhang von implizitem und explizitem Wissen, von
Unbewusstem und Bewusstem bleibt ein Desiderat einer noch zu
elaborierenden kognitiven Ökologie oder Ausdrucksanthropologie, die
allerdings jeglichen naturalistischen Reduktionismus hinter sich zu
lassen hätte.
Die
Frage der Bewusstheit, die mit der Entstehung des anthropologischen
Raums des Wissens zunehmend virulent wird, bedarf zu ihrer
Beantwortung nicht nur einer Theorie der Retention, sondern
mindestens so sehr einer Konzeptionalisierung der Protention, für
die Hans Blumenberg (1920-1996) im Anschluss an Arnold Gehlen die
Formel angibt: „Wir leben vom Alltag in die Zukunft. Es gibt kein
reflexionsloses Dasein, sondern nur ein reflexionslos gewordenes ...“
(Blumenberg 2002, 149). Hier wäre die Konzeption Uznadzes mit
Konstantin Megrelidzes Theorie des „ideatorischen
Bewusstseinsinhalts“ (Friedrich 1993, 69ff.) in Bezug zu setzen.
Die seit neunzig Jahren betriebenen Forschungen des Uznadze Instituts
in Tbilissi könnten zusammen mit den weiterführenden Einsichten,
die am Zereteli Institut für Philosophie unter ihrem Direktor
Nikoloz Tschawtschawadse (1923-1997) gewonnen wurden, zur Grundlage
einer erneuerten Bewusstseinsforschung werden, die auch die Irrtümer
der Computerkognitivisten hinter sich ließe und insofern auch
konstruktiv über die Kritiken von Hubert L. Dreyfus (Dreyfus
1972/1985) u.a. (Terry A. Winograd & Fernando Flores 1986)
hinausgehen würde. In vielen Bereichen bestätigt die aktuelle
Kognitionsforschung (Alva Noë, Kevin O’Regan, George Lakoff,
Humberto Maturana, Francisco J. Varela, Merlin Donald, u.a.) die
Fruchtbarkeit von Uznadzes Grundkonzeption. Sie dokumentiert vor
allem, dass eine „Differenzierung der verschiedenen
Bewusstseinsweisen“ (Thomae 1980,443), wie sie der deutsche
Psychologe Hans Thomae (1915-2001) gefordert hat, unbedingt ein
Desiderat der Forschung ist. Es bedürfte einer interdispziplinären
Forschung, um die vielfältigen erlebnishaften und
kulturhistorischen Dimensionen des „embodied mind“ bzw. der
„situated cognition“ angemessen Rechnung zu tragen. Der Fokus
auf die Polymodalität des Bewusstseins, die Mannigfaltigkeit und
Komplementarität der Funktions- und Erlebnisstile kann auch zu einem
besseren Verständnis der Humanontogenese beitragen. Es wäre gerade
in der gegenwärtigen Krise des Uznadze Instituts von entscheidender
Bedeutung, die anthropologischen Grundlagen, auf denen sich die
Genese subjektiver Lebensräume und Semantiken vollzieht, genauer
herauszuarbeiten. Dabei sollte der Zusammenhang zwischen den
affektiv-existentiellen und den kulturhistorischen Aspekten der
„Sinnsysteme“ deutlich werden, die auch der späte Leontjew in
den Mittelpunkt seiner Untersuchungen rückte und die auch in Lurijas
Rehabilitation der Narration in seiner „romantischen Wissenschaft“
(Lurija 1982/1993) eine Rolle spielten. Auch der Vergleich mit
Wassili
W.
Nalimows Arbeiten zur „Spontaneität des Bewusstseins“ (Nalimov
2009) liegt nahe.
Eine phänomenologische Topographie der Sinnsphäre müsste die
biographische Genese aus „konkreten Lagen“ oder „Situationen“
erfassen, um der Subjektivität sowohl existentielle als auch
historische Tiefe zu geben. Von der gemeinsamen deutsch-georgischen
Arbeit an einer philosophisch-anthropologischen Theorie des
qualitativen Bewusstseins können wir uns die Erarbeitung eines
Rahmenkonzeptes versprechen, dass zum besseren Verständnis
menschlicher Subjektivität beiträgt und den Geistes- und
Humanwissenschaften als Basis für weitere Forschungen dienen kann.
Die von Pierre Lévy geforderte methodologische und politische
Koordination der verschiedenen anthropologischen Räume (Erde,
Territorium, Waren, Wissen) braucht eine Epistemologie, die
„tiefenökologische“ (Arne Næss),
reflexionslogische,
informationstheoretische und philosophisch-anthropologische
Vorgehensweisen aufeinander bezieht, um die „Poesie der Begriffe“
(Kodua 1988, 78) , die „Kosmopädie“ im Sinne Lévys, die Uznadze
bei Solowjow fand, zu erneuern. So wie sich Uznadze 1909 an der
Volksuniversität in Kutaisi beteiligte, so müssen heute neue Formen
einer „kollektiven Intelligenz“ ausprobiert werden, die nicht auf
einer „simplen Rückkehr zur Erde“ (Lévy 1997, 212) basiert,
sondern eine neue demokratische Enzyklopädie darstellt, die der
Ausbildung der „Noospäre“ innerhalb der „Biospäre“
entspricht, wie sie der geniale russische Geochemiker Wladimir I.
Wernadski (1863-1945) im Austausch mit dem französischen
Bergsonschüler Éduard Le Roy und dem Paläontologen und
Jesuitenpater Pierre Teilhard de Chardin beschrieb. Dimitri Uznadze
erforschte wichtige Aspekte ihrer Genese und trug wesentlich zu ihrer
Epistemologie bei. Wir sind aufgefordert, sein Werk fortzusetzen.
Bibliographie:
Monographien
und Sammelwerke:
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VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1974.
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