Mittwoch, 21. August 2013

Dimitri Uznadze. Ökologie des Geistes und der Raum des Wissens

Präludien zu einer nichtklassischen Anthropologie

Dr. Frank Tremmel

Zuerst publiziert in: „Saqartvelos fsiqologiis macne. Journal of Georgian Psychology. Dimitri uznazis saxelobis fsiqologiis institutis 70 wlistavisadmi mizrunili saiubileo almanaxi. Saertasoriso gamocema. International Edition. Tbilisi 2013, S. 345-385.




Für einen evolutionistischen und einen intuitivistischen Standpunkt scheint es sehr wohl möglich zu sein, im Grade der Wirklichkeit ein eigenartiges Prinzip aufzunehmen, das den Begriff des dualen Wirkens in sich einschließt und dadurch allen am vulgären Dualismus oder Monismus haftenden Schwierigkeiten und Scheinproblemen den Boden zu entziehen.“

Die bisherige Philosophie ihrem abstrakten Charakter gemäß hat mit wenigen Ausnahmen [] von jeher diese zwei notwendigen Seiten des Lebens getrennt von einander betrachtet; sie zerstückelt die konkrete Wirklichkeit, wie es für das menschliche, zeitlich vor sich gehende Denken allein möglich ist, und hypostasiert die isolierten Seiten des Ganzen zum Ganzen selbst; das war die unerschöpfliche Quelle all der widerspruchsvollen Behauptungen, die der abstrakten Philosophie eigen zu sein scheinen.“


Sobald man sich auf den physiologischen Standpunkt stellt, ist man gezwungen, immer in den Grenzen des Lokalen, des Partiellen zu bleiben; physiologische Prozesse müssen irgendwo im Körper lokalisiert werden. Doch muss man annehmen, dass gewisse Teilprozesse, bestimmte lokale Änderungen, auf einer bestimmten Stufe ihrer quantitativen Entwicklung die Bedeutung eines Faktors gewinnen, der den Gesamtorganismus qualitativ mehr oder weniger verändert. Diese Modifizierung des Ganzen in seiner Betätigung nennen wir eben die Einstellung.“

Dimitri Uznadze



Summary

The present article describes the intellectual life of the Georgian psychologist and philosopher Dimitri Uznadze as a search for non-classical anthropology, as it corresponds to the new type of rationality, developing in the 20th century (Merab Mamardashvili). In contrast to the common interpretation of the „psychology of set“ as a search for stabilizing regulations of activity through fixation experiments the article focused on „set“ as an onto-anthropological modus of man-world-relation. Uznadzes approach is considered as an ecology of mind“ (Gregory Bateson) and is dicussed in the context of the human sciences of the early Soviet era. The article connected the efforts of Uznadze with contemporary cognitive sciences and considered his anthropology as compatible with the global era of „noosphere“ (Vladimir I. Vernadsky), the emerging „anthropological space of knowledge“ (Pierre Lévy).



Unsere Epoche, die eine der vermutlich weitgehendsten Transformationen des anthropologischen Raumes seit der neolithischen und der industriell-kapitalistischen Revolution erlebt, ist immer noch auf der Suche nach ihrer Epistemologie. Der neu entstehende „Raum des Wissens“, der die Räume der „Erde“, des „Territoriums“ und der „Waren“ (Lévy 1994/1997, 137ff.) neu ordnet, ist nicht mehr im Rahmen des klassischen Rationalitätsideals (Mamardaschwili 1984) erfassbar. Diesem Ideal, das auf dem abstrakten Gegensatz von Freiheit und Determination, von Erfahrung und Theorie, von Intuition und Begriff, von transzendentalem Subjekt und Phänomen basiert und dessen Anfänge bereits in den ersten staatlich organisierten, räumlich distinkten, historischen Kulturen zu finden sind, liegt auch noch der modernen Technowissenschaft zugrunde. Allerdings beginnt sich dieser widersprüchliche Zusammenhang von Subjekt und Objekt, der unser Denken und Handeln spätestens seit Sokrates bestimmte, in den kybernetischen Logiken zunehmend aufzulösen. Die Informationstheorie, die der Warenzirkulation entspricht, bringt aber zunächst nur ein zerstückeltes Wissen hervor. „Eine neue Rationalität“ ist in der „Konstruktion eines schmalen Pfades zwischen blinden Gesetzen und willkürlichen Ereignissen“ (Prigogine/Stengers 2000, 251, 262) erst ansatzweise erkennbar. Das Werden der „kollektiven Intelligenz“ und die „Wiederaneignung der subjektiven Zeitlichkeiten“ (Lévy, 185), die mit dem Raum des Wissens verbunden sind, benötigt eine Epistemologie, die über die „sozialen Alchemien des 20. Jahrhunderts“ (Mamardaschwili ebd., 68f.) hinausgeht. An die Stelle eines homogenisierenden Bezugssystems, eines intersubjektiven Beobachtungsraums, in dem die epistemischen Subjekte austauschbar sind und in dem ein formalisiertes Wissen vermittelt wird, tritt dann ein kollektives Wissen der individuierten Erfahrungswelten. Die „Wechselseitigkeit von Identität und Wissen“ charakterisiert den „vierten anthropologischen Raum“ als „Raum des Wissens“ (Lévy, 213). Kognitionswissenschaft und Kognitionstechnik (Varela 1988/1990) konvergieren in Richtung auf eine „allgemeine menschliche Ökologie“ (Lévy ,227ff.), mit der die Beziehungen zwischen den verschiedenen anthropologischen Räumen harmonisch gestaltet werden können. Sie erweisen sich so als Aspekte einer „Kosmopädie“ (Lévy 212f.), einer neuen politischen Philosophie. Der russische Philosoph Ilia Kassavine spricht von der „Suche nach einer nichtklassischen Erkenntnistheorie“, die er vor allem als eine wesentliche Erweiterung des Gegenstandsfeldes epistemologischer Untersuchungen betrachtet , die aber auch in der „Analyse des ganzheitlichen Erkenntnisverhältnisses“ diese Ganzheit „als die innerlich differenzierte Mannigfaltigkeit des Wissens“ (Kassavine 2003, 19ff.) beschreibt. Seit den 1920er Jahren können wir in der Geschichte der Humanwissenschaften ansatzweise die Entstehung einer nichtklassischen Anthropologie beobachten, die sich mit der Entfaltung globaler Kommunikationsverhältnisse zunehmend als interkulturelle Episteme ausprägt. In den Werken des US-amerikanischen Philosophen und Sozialpsychologen George Herbert Mead, der deutschen Philosophischen Anthropologie und Wissenssoziologie, wie sie Max Scheler, Helmuth Plessner, Karl Mannheim und Alfred Schütz vertraten, in den Arbeiten der russischen Forscher Lew S. Wygotskij, Wladimir I. Wernadski, Michail Bachtin und Sergej L. Rubinsteins werden Grundzüge eines Wissens sichtbar, das der Kreativität, der Bedeutungsbildung und den Werten in der Ganzheit des Mensch-Welt-Verhältnisses Rechnung trägt. Insbesondere in den Forschungen der Georgier Konstantin Megrelidze und vor allem Dimitri Uznadzes zeichnen sich die Konturen einer „kognitiven Ökologie“ (Lévy 201), einer „neuen anthropologischen Kosmologie“ (Ders. 241) ab.


Die auf den Psychologen Dimitri Uznadze (1886-1950) zurückgehende georgische Schule der „Einstellungspsychologie“ nimmt in der Wissenschaftsgeschichte eine Sonderposition ein. Dieser Ansatz entstand bereits in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts im regen Austausch mit der deutschen und russischen Wissenschaftskultur. Viele Vertreter der geisteswissenschaftlichen Elite der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Demokratischen Republik Georgien (1918-1921) hatten in Deutschland studiert. Uznadze selbst hatte 1909 in Halle 1886-1950 bei dem bedeutenden Kant-Forscher Paul Menzer (1873-1960) über die Erkenntnistheorie des russischen Philosophen Wladimir Solowjow (1853-1900) promoviert, nachdem er, wie auch George Herbert Mead und viele andere, in Leipzig bei Wilhelm Wundt (1832-1920), einem der Begründer der modernen Experimentalpsychologie und bei Karl Lamprecht, dem bekannten Vertreter der modernen Kulturgeschichtsschreibung, und bei dem Philosophen Paul Ernst Emil Barth studiert hatte. Seine Arbeit über Solowjow kann, neben der 1905 ebenfalls in Halle publizierten Dissertation von Emilie Tumarkin, zu den Pionierleistungen der deutschsprachigen Solowjowrezeption gezählt werden. Uznadze gehörte 1918 zu den Mitbegründern der Staatlichen Universität Tbilissi, an der er den Fachbereich Psychologie etablierte, dem er bis 1950 vorstand. Er richtete dort auch das erste experimentalpsychologische Labor ein. 1943 wurde er Direktor des ersten unabhängigen Instituts für Psychologie in der ehemaligen UdSSR an der ebenfalls von ihm mitbegründeten Georgischen Akademie der Wissenschaften. Tbilissi war in den 1920er Jahre, wie auch Odessa, Witebsk und Vilnius, Leningrad (St. Petersburg), wo Sergej L. Rubinstein und Michail M. Bachtin zeitweilig lebten und arbeiteten, eines der multikulturellen Zentren Europas. Einflüsse der mittel- und westeuropäischen sowie der russischen Kultur wurden auf höchst eigenständige Weise verarbeitet und führten zu innovativen Leistungen auf den Gebieten der Humanwissenschaften und der Philosophie. Denker und Forscher wie Konstantin S. Bakradze (1898-1970), der ab 1922 eine Aspirantur bei Edmund Husserl in Freiburg absolvierte, und Konstantin Megrelidze (1900-1944), der 1924/25 ebenfalls bei Husserl Vorlesungen besuchte, brachten die neue phänomenologische Methode nach Georgien. Schalwa Nuzubidse (1888-1968), der sowohl in St. Petersburg als auch in Leipzig studiert und später auch gelehrt hatte und mit Uznadze u.a. die staatliche Universität Tbilissi begründete, waren die erkenntnistheoretischen Arbeiten von Hans Driesch, Nicolai Hartmann, Bernard Bolzano und Emil Lask bestens bekannt. Seine Arbeiten zur „Aletheiologie“ waren nicht nur höchst eigenständige philosophische Werke, sondern auch beeindruckende Synthesen der deutschen epistemologischen Forschung. Megrelidze war zwischen 1925 und 1927 durch den Besuch von Vorlesungen und Übungen bei Max Wertheim und Wolfgang Köhler an der Friedrich-Wilhelms-Universität auch mit den Forschungsergebnissen der Berliner Gestaltpsychologie in Berührung gekommen und verwandte diese Erkenntnisse in Georgien für seine kognitionswissenschaftlichen Arbeiten. Uznadze vermittelte der georgischen Wissenschaftskultur nicht nur Kenntnisse der fortgeschrittenen erfahrungswissenschaftlichen Experimentalpsychologie, er publizierte nach seiner Rückkehr aus Deutschland 1920 auch eine Arbeit über Leibniz' petite perceptions und eine Monographie über Henri Bergson. Das georgische Publikum war schon früh mit den Werken der Lebensphilosophie in Berührung gekommen. Durch diverse Zeitungsartikel und die sich anschließenden Diskussionen kannte die interessierte georgische Öffentlichkeit das Werk Friedrich Nietzsches bereits Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts (Iremadze 2006, 219f.). Durch die Übersetzungstätigkeit von Nikolaz Imnaischwili und Paolo Iaschwili, die zwischen 1919 und 1924 Ökonomie in Berlin studiert hatten, waren auch wichtige Werke von Marx und Engels in georgischer Sprache zugänglich. Die aktuellen Strömungen der Philosophie und der Sozialwissenschaften wurden rezipiert. Georgien wurde so zu einem der wichtigsten osteuropäischen Zentren der damaligen Kognitionsforschung und der Humanwissenschaften. Gefördert durch bzw. in unmittelbarer Nachbarschaft von Uznadze schuf nicht nur Konstantin Megrelidze seine einzigartige Soziologie des Denkens; Iwane Beritaschwili (1884-1974) entwickelte in Georgien seine Theorie der psychoneuronalen spontanen Aktivität und der bildgesteuerten Erinnerung, die Ergebnisse der Selbstorganisations- und der aktuellen Gedächtnisforschung (Eric Kandel, Patricia Goldman-Rakic, John M. O’Keefe) vorwegnahm. So wie Megrelidze die naturalistischen Genealogien des Bewusstseins in der frühen sowjetischen Sozialwissenschaften kritisisierte und eine neuartige praxeologische Bewusstseinstheorie vorschlug, so hat gleichsam analog auch Beritaschwili Alternativen zum neuromaterialistischen Reduktionismus der damaligen Reflexologie vorgelegt.

Die Wissenschaftskultur der frühen Sowjetunion, in der auch die georgischen Wissenschaftler nach 1921 ihren Platz suchten, war noch vergleichsweise offen. Sie zeichnete sich durch vielfältige Beziehungen zu ausländischen Wissenschaftsgemeinschaften und innovative, interdisziplinär angelegte Forschungsansätze aus. Vernetzungen aus vorrevolutionärer Zeit und auch neue Forschungskooperationen schufen eine fruchtbares Milieu für die Humanwissenschaften. Noch Anfang der 1930er Jahre konnte beispielsweise Alexander R. Lurija (1902-1977) seine Forschungsexpeditionen nach Zentralasien (Usbekistan und Kirgisien) als international angelegte Projekte durchführen. Im geistigen Austausch mit (Wolfgang Köhler, Kurt Lewin) und unter persönlicher Beteiligung von ausländischen Kollegen (Kurt Koffka) wurden die kulturhistorischen Veränderungen psychischer Prozesse untersucht. Auch innerhalb der Sowjetunion entstanden produktive Austauschbeziehungen. Im Kontext der neuen Disziplin der Wissenschaftsforschung, die vor allem von Nikolai I. Bucharin (1888-1938) gefördert wurde und auch in Westeuropa und den USA Beachtung fand, entstanden Forschungsprojekte, an denen auch georgische Forscher teilnahmen. Auch über das von dem Georgier Nikolaj J. Marr (1864-1934) gegründete „Institut für Sprache und Denken“ im damaligen Leningrad existierten wissenschaftliche kommunikative Zusammenhänge. Megrelidze korrespondierte mit Bucharin über seine Forschungsvorhaben, setzte sich sowohl mit der „funktionellen Semantik“ Marrs auseinander und diskutierte mit dem Wygotskijschüler Lurija über die Besonderheiten des menschlichen Bewusstseins. Offenbar bestanden zwischen den Forschungszusammenhängen um den Sprach- und Literaturwissenschaftler Michail M. Bachtin, um Lew S. Wygotskij (1896-1934), um Boris G. Ananjew (1907-1972), den Begründer einer interdisziplinären Humanontogenetik, der Uznadzeschule u.a. Beziehungen, die aufgrund der später einsetzenden administrativen Repressionen der 1930/40er Jahren lange Zeit unbekannt blieben. Auch wenn die Zusammenhänge nie ganz zerrissen und in den 1960/70er Jahren für die Renaissance der interdisziplinären Bewusstseinsforschung in der Sowjetunion erneut bedeutsam wurden, konnte doch an die ursprüngliche undogmatische Frische dieser Ansätze nie wieder ganz angeknüpft werden. Es war dieses produktive Ursprungsmilieu, in dem nahezu alle kognitionswissenschaftlichen Forschungen des 20. Jahrhunderts wurzelten. Auch die „kognitive Revolution“, die in den USA und Westeuropa das vorherrschende behavioristische Paradigma ablöste, blieben von diesen Ansätzen nicht unbeeinflusst. So fand durch den von Jean Piaget popularisierten „Uznadze-Effekt“ (Piaget/Lambercier 1944, 139-196), einem wahrnehmungspsychologischen Phänomen, ein zentraler Gedanke der „Einstellungspsychologie“ Eingang in die damalige Diskussion. Aus den Diskussionszusammenhängen am Department for Social Relations an der Harvard Universität ging in den 1960er Jahren das Center for Cognitive Studies hervor, an dem u.a. auch der russische Philologe, Linguist und Semiotiker Roman O. Jakobson (1896-1982) wirkte. Er brachte den Mitbegründer des Centers und Doyen der US-amerikanischen Kognitionswissenschaft Jerome S. Bruner in Kontakt mit den Forschungen und Vertretern der kulturhistorischen Schule um Wygotskij. Er bemühte sich auch darum, die Forschungen der Uznadzeschule über das Unbewusste in die moderne Linguistik einfließen zu lassen. Insgesamt können die Ansätze der 1920er Jahre als geniale Antizipationen einer neuen Bewusstseinsforschung betrachtete werden, die seit den 1960er Jahren und erneut in den 1990er Jahren in immer neuen Schüben die Ausbildung eines neuen anthropologischen Raums des Wissens begleitet. Zusammen mit der Kybernetik und Systemforschung, die in der Sowjetunion mit der „Tektologie“ Alexander A. Bogdanows (1873-1928) eigene Wurzeln hat, der Kommunikationswissenschaft und Semiotik, dem Aufkommen der „science of science“ und den Fortschritten der anthropologisch-psychologischen Forschung entstanden die Voraussetzungen einer „Ökologie des Geistes“ (Gregory Bateson), die das „Denken als planetare Erscheinung“, als „Kraft in der Biosphäre“ (Wladimir I. Wernadski) begreift.

So wie auch der aus Odessa stammende Psychologe Sergej L. Rubinstein, der vor dem 1. Weltkrieg in Freiburg, Marburg und Berlin bei Heinrich Rickert, Hermann Cohen und Ernst Cassirer studiert hatte und zeitlebens an einer umfassenden „Ontologie des menschlichen Daseins“ arbeitete, so schuf auch Dimitri Uznadze eine nichtklassische Anthropologie, in der die „Einstellung“, unter seine Schule später bekannt wurde, keineswegs in erster Linie einen „psychischen Stabilisationsfaktor“ bezeichnet, „der Verhaltensgleichförmigkeiten in rekurrenten Umständen erklärt und dessen Allgegenwart durch die zahlreichen Spielarten des Fixationsexperiments im Labor nachgewiesen wird“ (Matthäus 1988, 540). Diese Betrachtungsweise verbleibt in der Epistemologie des territorialen Raums (Lévy, a.a.O, 208ff.), in der die „Verdinglichung der psychischen Entitäten“, wie sie „mittels extrinsischer Bezugsgrößen“ und auf Kosten der intrinsischen evolutiven, kreativen und selbstbestimmten Dimensionen der Subjektivierungsprozesse“ (Guattari 1989/2012, 24) erfolgt, betrieben wird. Ähnlich wie Nikolaj N. Leontjew (1903-1979) in der „Tätigkeitstheorie“ gegenüber dem Ansatz seines Lehrers Wygotskij ein „Zusammendenken von Objekt- und Selbsterkenntnis“, d.h.die „inhärente Gegenständlichkeit des Denkens“ durch die „Annahme einer besonderen „Gegenständlichkeit“ (Friedrich 1991, 541ff.) ersetzt, so wurde in der Uznadzeschule in den 1940er Jahren , teils durch ihren Begründer selbst, teils durch seine Schüler, eine szientistische Substantialisierung der „Einstellung“ gegenüber ihrer nichtcartesianischen Bestimmung als Modus des In-der-Welt-Seins favorisiert. Die stalinistische Wissenschaftspolitik forderte ihren Tribut in Gestalt einer methodologischen Disziplinierung der Subjektivität. Die bergsonianische Anthropologie und Epistemologie, wie sie noch in Uznadzes Werk „Impersonalia (1923) zum Ausdruck kam, konnte nur noch untergründig weiterleben. So zeigt die von Eduard Kodua besorgte zweibändige Ausgabe der philosophischen Schriften ein komplexeres Bild als manche Kanonisierung. Uznadze, der noch in seiner Dissertation über Solowjow, wie Kodua schrieb, der Annahme Paul Valerys folgte, wonach „es tatsächlich keine Theorie [gibt], die nicht eine von einer Autobiographie sorgfältig präparierte Episode wäre“ (zitiert nach Kodua 1988, 78), konnte seine Ontologie und Anthropologie, die weit über eine szientistische Humanwissenschaft hinausging, in den späteren Jahren nicht mehr explizit entfalten. Die von seinem Ich nicht abzulösende Philosophie des Menschen, wie sie in Metaphysik und Poesie zum Ausdruck kommt und die Uznadze bereits in der Dissertation mit dem Begriff der Einstellung charakterisierte, wurde erst wieder in den 1960er Jahren von seinem Schüler Angia Botschorischwili (1902-1982) aufgegriffen, der am Zereteli Institut für Philosophie an der AdW Georgiens die erste und einzige Abteilung für „Philosophische Anthropologie“ in der ehemaligen Sowjetunion begründete. Ähnlich wie Sergej L. Rubinstein (1889-1960) in den 1920er Jahren in Odessa seine Theorie der „schöpferischen Selbstaktivität“ entwickelte und später seine philosophisch-anthropologischen Überlegungen im Rahmen der erfahrungswissenschaftlichen Psychologie fortsetzte, so hat auch Uznadze die Freisetzung dieses Potentials nicht mehr erlebt. Auch Rubinsteins Ausführungen zu einer Mensch-Welt-Philosophie konnten erst posthum ausschnittsweise publiziert werden (Rubinstein 1974, 271f.). Im Rahmen der psychologischen Uznadzeschule wird die „Einstellung“ als psychischer „Vorbereitungszustand, der konkreten Handlungen, Wahrnehmungen oder Bewusstseinsakten vorausgeht“ thematisiert. In Auseinandersetzung mit der Tätigkeitstheorie, wie sie vor allem von Leontjew vertrat, wurden Prioritätsfragen erörtert, die aber erfahrungswissenschaftlich nicht zu beantworten waren. Die Frage nach dem jeweiligen Vorrang von „Einstellung“ bzw. „Tätigkeit“ bekam im Rahmen einer szientistischen Auffassung der Humanwissenschaft triviale Züge. Wenn allerdings der ontologische Status der „Einstellung“ nicht auf das Psychische reduziert wird, sondern als Modus im Rahmen einer Anthropologie verstanden wird, der es um die Überwindung des cartesianischen Materie-Geist-Dualismus ging, dann bekommt die Frage nach der Priorität durchaus einen nachvollziehbaren Sinn. Verschiedene Uznadzeschüler wiesen in der jüngeren Vergangenheit zurecht darauf hin, dass Uznadze die psychophysische Ganzheit der Individuen in den Blick nehmen, d.h das Leben der Individuen begrifflich fassen wollte. Ähnlich wie bei der Neurologen Kurt Goldstein (1878-1965), der Mediziner Viktor von Weizsäcker (1886-1957) und der Psychologe Kurt Lewin (1890-1947) betrachtet Uznadze den Organismus in seiner umweltbezogenen Kinästhesie, die humanspezifisch als Situation aufgefasst wird. Vergleichbare Gedankengänge finden sich auch in der 2. Leipziger Schule der Gestaltpsychologie und bei dem deutschen Philosophen Erich Rothacker (1888-1965). Zweifellos muss an dieser Stelle auch der Umweltbegriff des baltischen Biologen Jakob J. von Uexküll (1864-1944) berücksichtigt werden, der in der Biosemiotik und Philosophischen Anthropologie fortwirkte. Die Situation bzw. das integrierte Eingestelltsein werden nach Uznadze in der „Biosphäre“ hervorgerufen. Die „Einstellung“ wird so zur existentiellen Basis alles Psychischen. Das „Unmittelbarkeitspostulat“ (Nikolaj N. Leontjew), d.h. die fälschliche Annahme einer unmittelbaren Abhängigkeit des Verhaltens der Individuen von ihren Umweltbedingungen, wird nicht durch ein psychologisches Ganzheitsprinzip und auch nicht durch eine „Widerspiegelung des Gegenstandes als bewusstgewordenes Ziel“ überwunden. Sie liegt sogar noch dem voraus, was Erich Rothacker die „primäre Vergegenständlichung unseres Wesens“ (Rothacker 1954, 22) nannte und die Arnold Gehlen (1904-1976), ein anderer Vertreter der deutschen Philosophischen Anthropologie, einmal folgendermaßen beschrieb: „Ein starkes und orientiertes Bedürfnis ist ganz eigentlich `innere Außenwelt´ - es war Novalis [...], der sagte, `dass es auch eine Außenwelt in uns gibt, die mit unserem Inneren in einer analogen Verbindung steht, wie die Außenwelt außer uns mit unserem Äußeren´. Ein gefühlsstarker, bildbesetzter Interessenkomplex hat erlebnismäßig eine anschauliche Eigenständigkeit, in der die Person sich selbst gegenständlich wird, obgleich nicht im Sinne der Selbstbeobachtung oder Selbstbesinnung“ (Gehlen 1956/2004, 85f.). Die Einstellung kann als nichtsprachlicher primärer Dialog des Individuums mit seiner Umwelt verstanden werden. Sie kann aus der Sicht des psychischen Erlebens allerdings nur unvollständig beschrieben werden. Das Psychische ist in diesem Sinne nur ein System von Organen des leibhaftigen Subjekts. Die in der Uznadzeschule perpetuierte Standardformulierung, die ihr Begründer allerdings nur informell benutzte, wonach die Einstellung aus der Begegnung einer Situation mit einem Bedürfnis hervorgeht, setzen bereits eine bild- oder zeichenhafte Repräsentation voraus. Der deutsche Kognitionspsychologie Wolfhart Matthäus referiert in diesem Zusammenhang D. Amiredžibi (Matthäus 1988, 542), der diese Auffassung ausdrücklich kritisierte, weil sie nicht die existentielle Basis berücksichtigt, sondern sich auf das Psychische stützt, das aus ihr hervorgeht. Dieses präreflexive Verstehen ähnelt dem Dasein im Sinne der Existenzialphänomenologen. Der Vergleich mit Martin Heideggers (1889-1976) Denken drängt sich hier förmlich auf, aber auch der implizite Wirklichkeitsbegriff Michael Polanyis (1891-1976) und die phänomenologischen Arbeiten Maurice Merleau-Pontys (1908-1961) wären zur Erläuterung hinzuzuziehen. Eingestelltsein als In-nuce-Sein künftiger Aktivitäten (Matthäus a.a.O., 544), als ein „implizites Wissen“ (Polanyi 1966/1985) bzw. Intuition ist zweifellos ein wichtiges Forschungsfeld, zu dem Uznadze einen fruchtbaren und originären Zugang geschaffen hat. So wird das Unbewusste in nichtpsychoanalytischen Versionen konzeptionalisiert, die auch gegenwärtig, beispielsweise im Rahmen der Embodied Cognitive Science, wieder hochaktuell sind. Immerhin gelang es den Georgiern bereits 1979, in Tbilissi einen Kongress zu diesem Thema zu organisieren, an dem zahlreiche international bekannte Philosophen und Wissenschaftler teilnahmen. Der Gesamtzusammenhang von implizitem und explizitem Wissen, von Unbewusstem und Bewusstem bleibt ein Desiderat einer noch zu elaborierenden kognitiven Ökologie oder Ausdrucksanthropologie, die allerdings jeglichen naturalistischen Reduktionismus hinter sich zu lassen hätte.

Die Frage der Bewusstheit, die mit der Entstehung des anthropologischen Raums des Wissens zunehmend virulent wird, bedarf zu ihrer Beantwortung nicht nur einer Theorie der Retention, sondern mindestens so sehr einer Konzeptionalisierung der Protention, für die Hans Blumenberg (1920-1996) im Anschluss an Arnold Gehlen die Formel angibt: „Wir leben vom Alltag in die Zukunft. Es gibt kein reflexionsloses Dasein, sondern nur ein reflexionslos gewordenes ...“ (Blumenberg 2002, 149). Hier wäre die Konzeption Uznadzes mit Konstantin Megrelidzes Theorie des „ideatorischen Bewusstseinsinhalts“ (Friedrich 1993, 69ff.) in Bezug zu setzen. Die seit neunzig Jahren betriebenen Forschungen des Uznadze Instituts in Tbilissi könnten zusammen mit den weiterführenden Einsichten, die am Zereteli Institut für Philosophie unter ihrem Direktor Nikoloz Tschawtschawadse (1923-1997) gewonnen wurden, zur Grundlage einer erneuerten Bewusstseinsforschung werden, die auch die Irrtümer der Computerkognitivisten hinter sich ließe und insofern auch konstruktiv über die Kritiken von Hubert L. Dreyfus (Dreyfus 1972/1985) u.a. (Terry A. Winograd & Fernando Flores 1986) hinausgehen würde. In vielen Bereichen bestätigt die aktuelle Kognitionsforschung (Alva Noë, Kevin O’Regan, George Lakoff, Humberto Maturana, Francisco J. Varela, Merlin Donald, u.a.) die Fruchtbarkeit von Uznadzes Grundkonzeption. Sie dokumentiert vor allem, dass eine „Differenzierung der verschiedenen Bewusstseinsweisen“ (Thomae 1980,443), wie sie der deutsche Psychologe Hans Thomae (1915-2001) gefordert hat, unbedingt ein Desiderat der Forschung ist. Es bedürfte einer interdispziplinären Forschung, um die vielfältigen erlebnishaften und kulturhistorischen Dimensionen des „embodied mind“ bzw. der „situated cognition“ angemessen Rechnung zu tragen. Der Fokus auf die Polymodalität des Bewusstseins, die Mannigfaltigkeit und Komplementarität der Funktions- und Erlebnisstile kann auch zu einem besseren Verständnis der Humanontogenese beitragen. Es wäre gerade in der gegenwärtigen Krise des Uznadze Instituts von entscheidender Bedeutung, die anthropologischen Grundlagen, auf denen sich die Genese subjektiver Lebensräume und Semantiken vollzieht, genauer herauszuarbeiten. Dabei sollte der Zusammenhang zwischen den affektiv-existentiellen und den kulturhistorischen Aspekten der „Sinnsysteme“ deutlich werden, die auch der späte Leontjew in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen rückte und die auch in Lurijas Rehabilitation der Narration in seiner „romantischen Wissenschaft“ (Lurija 1982/1993) eine Rolle spielten. Auch der Vergleich mit Wassili W. Nalimows Arbeiten zur „Spontaneität des Bewusstseins“ (Nalimov 2009) liegt nahe. Eine phänomenologische Topographie der Sinnsphäre müsste die biographische Genese aus „konkreten Lagen“ oder „Situationen“ erfassen, um der Subjektivität sowohl existentielle als auch historische Tiefe zu geben. Von der gemeinsamen deutsch-georgischen Arbeit an einer philosophisch-anthropologischen Theorie des qualitativen Bewusstseins können wir uns die Erarbeitung eines Rahmenkonzeptes versprechen, dass zum besseren Verständnis menschlicher Subjektivität beiträgt und den Geistes- und Humanwissenschaften als Basis für weitere Forschungen dienen kann. Die von Pierre Lévy geforderte methodologische und politische Koordination der verschiedenen anthropologischen Räume (Erde, Territorium, Waren, Wissen) braucht eine Epistemologie, die „tiefenökologische“ (Arne Næss), reflexionslogische, informationstheoretische und philosophisch-anthropologische Vorgehensweisen aufeinander bezieht, um die „Poesie der Begriffe“ (Kodua 1988, 78) , die „Kosmopädie“ im Sinne Lévys, die Uznadze bei Solowjow fand, zu erneuern. So wie sich Uznadze 1909 an der Volksuniversität in Kutaisi beteiligte, so müssen heute neue Formen einer „kollektiven Intelligenz“ ausprobiert werden, die nicht auf einer „simplen Rückkehr zur Erde“ (Lévy 1997, 212) basiert, sondern eine neue demokratische Enzyklopädie darstellt, die der Ausbildung der „Noospäre“ innerhalb der „Biospäre“ entspricht, wie sie der geniale russische Geochemiker Wladimir I. Wernadski (1863-1945) im Austausch mit dem französischen Bergsonschüler Éduard Le Roy und dem Paläontologen und Jesuitenpater Pierre Teilhard de Chardin beschrieb. Dimitri Uznadze erforschte wichtige Aspekte ihrer Genese und trug wesentlich zu ihrer Epistemologie bei. Wir sind aufgefordert, sein Werk fortzusetzen.



Bibliographie:

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