Sonntag, 1. Mai 2011

Globalgeschichte, georgische Renaissance und Humanismus

Plädoyer für ein interzivilisatorisches Propädeutikum

von Dr. Frank Tremmel


„Der globalgeschichtliche Ansatz ermöglicht eine Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass die Menschheit nicht nur Europa umfasst und dass sie in Zivilisationen unterteilt ist.“

„Die durch externe inter-kulturelle Befruchtungen ausgelöste Durchsetzung der Mensch-zentrierten Weltsicht der Renaissance in den Realitäten Europas bedeutete als ein Humanismus eine Befreiung von den Weltbildern des Mittelalters. Die Entwicklung zur kulturellen Moderne fand über die Renaissance statt.“

„Auf der Basis eines am Primat der Vernunft orientierten Humanismus können interkulturelle und interzivilisatorische Brücken geschlagen werden. Dadurch wird der klassische Humanismus relevant für unsere Zeit des Zivilisationskonflikts.“

Bassam Tibi


Seit meiner Teilnahme am 2. Internationalen Symposium der georgischen Kultur “The Caucasus – Georgia on the Crossroads” 2009 in Florenz, diesem für die westeuropäische Renaissance so bedeutsamen Ort, einer der Geburtsstätten des Humanismus, hat mich die Frage beschäftigt, wie die interzivilisatorische Dimension der georgischen Kultur im Rahmen der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung angemessen dargestellt werden kann. Bereits in Vorbereitung meines damaligen Vortrags über das georgische Menschenbild zwischen „Ursprungsbild und Schöpferakt“, der von den Forschungen des deutsch-jüdischen Philosophen Michael Landmann inspiriert wurde, beschäftigten mich drei eng miteinander verbundene Problemkomplexe:

1. Das Problem der georgischen Renaissance

2. Die Frage nach der Forschungslogik einer interzivilisatorischen Globalgeschichte

3. Das Problem des modernen Humanismus

Die folgenden Ausführungen zu diesen Fragen widme ich zwei Menschen: Zum einen Frau Professor Maka Dvalishwili, der Präsidentin des Georgischen Kunst- und Kulturzentrums in Tbilissi, ohne die das erwähnte Symposion nicht zustande gekommen wäre und die als Person, unabhängig von jeder wissenschaftlichen Methode, alle Voraussetzungen des interzivilisatorischen Dialogs in sich vereint, und zum anderen dem Begründer der historisch-sozialwissenschaftlichen Islamologie in Deutschland, Professor Bassam Tibi, einem „deutschen Gelehrten ohne Misere“ (Ernst Bloch), dessen Herkunft aus einer adligen Damaszener Familie ihn dazu prädestiniert, interzivilisatorische Erfahrungen auf den Begriff zu bringen. In der Auseinandersetzung mit seinem Forschungsansatz konnte ich bestehende eigene Unklarheiten ausräumen und meinen Standpunkt deutlicher herausarbeiten. Es liegt in der Natur der Sache, dass ich dabei teilweise andere Akzente setze und auch abweichende Ansichten vertrete.

Bassam Tibi gehört zu den wenigen deutschen Sozialwissenschaftlern europäischen Formats und zu den ebenfalls nicht sehr zahlreichen moslemischen Intellektuellen, für die säkularer Humanismus und tiefe Religiosität keinen Widerspruch darstellen. Seine Herkunft aus Syrien, einem Land, das in der Vergangenheit für die christliche Kultur der Georgier eine so große Rolle spielte, seine geistige Prägung durch die „Kritische Theorie der Frankfurter Schule“ (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Jürgen Habermas) und die deutsche Tradition der Geschichts- und Kultursoziologie (Norbert Elias), zusammen mit seinen Erfahrungen als akademischer Lehrer in den USA (Harvard, Yale, Cornell), in Asien und in Afrika (Singapur, Jakarta, Khartoum, Jaoundé) , ließen ihn zu einem globalgeschichtlichen Forschungsansatz gelangen, der die Bedeutung der georgischen Renaissance für den aktuellen interzivilisatorischen Dialog verstehbar werden lässt. Im Mittelpunkt steht dabei ein durchaus gegenwartsbezogenes Erkenntnisinteresse, dass die Revitalisierung des Humanismus zum Ziel hat. Entgegen postmodernen und poststrukturalistischen Verdikten wird Bassam Tibi nicht müde, den säkularen Humanismus als Quelle der kulturellen Moderne und einer „internationalen Moralität“ (Tibi 2000, 234) zu verteidigen. Er betonte immer wieder dessen unersetzbare Brückenfunktion im Dialog der Weltreligionen, der Kulturen und Zivilisationen. Auf dem Marburger Kongress des deutschen Altphilologenverbandes formulierte er zu Beginn des neuen Jahrhunderts sein Credo folgendermaßen:

„Wie ich Humanismus verstehe, ist die wichtigste Leistung des Humanismus die Veränderung des Weltbildes. Im christlichen Mittelalter war die Welt gottesgesteuert. Offenbarung war die Quelle der Deutung der Geschichte. Ich glaube an Offenbarung, aber sie kann mir die Geschichte nicht erklären. Das habe ich auch bei Ibn Sina, bei Ibn Ruschd, bei Ibn Khaldun gelesen; und sie haben es vor mir bei Aristoteles gelesen: Der Mensch steht im Zentrum der Welt. Der Mensch ist verantwortlich für die Steuerung der Welt und das eigene Schicksal.“ (Ebd., 235)

Humanismus, das ist bei Tibi vor allem Hominismus und poietisches Bewusstsein. Insofern entspricht sein Humanismus dem Zivilisationsprozess, der sich aus den lokalkulturellen Einbettungen der theozentrischen Weltbilder emanzipiert. Dieser Prozess ist selbst bereits ein hochgradig interkultureller Vorgang, d.h. er verdankt sich weltgeschichtlichen Kommunikationsprozessen, die gemeinhin als Renaissance bezeichnet werden. Bassam Tibi hat in verschiedenen Werken den interzivilisatorischen Charakter des Renaissancedenkens hervorgehoben. Er folgt in dieser Hinsicht einer Perspektive, die der belgische Sozialhistoriker Henri Pirenne (1862-1935) in einem posthum veröffentlichten Werk „Mahomet et Charlemagne“ (1937) eröffnete. Darin hatte Pirenne „die Geburt des Abendlandes“ aus der Begegnung Europas mit der islamischen Zivilisation erklärt. Die These von Pirenne findet, worauf auch Tibi hinweist, weitestgehende Bestätigung durch die 1983 vorgelegte Studie „Mohammed, Charlemagne & The Origins of Europe“ der US-amerikanischen Archäologen Richard Hodges und David Whitehouse. Den „geo-historischen Rahmen der euro-islamischen Beziehungen“ (Tibi 1999, 23) stellt der Mittelmeerraum dar. Fernand Braudel (1902-1985), der große französischen Historiker aus der zweiten Generation der Annales-Schule, hatte in seinem epochalen Geschichtswerk „La Méditerranée“ (1949) die Geographie und die Geschichte des Mittelmeers im Spannungsfeld interzivilisatorischer Interaktionen miteinander verknüpft. In diesem Chronotopos standen „drei große Zivilisationen im Wettbewerb und Austausch miteinander: die lateinische, die islamische und die klassisch-griechische.“ (ebd., 25f.) Im Ausgang von dieser Konstellation unterscheidet Tibi seit dem 7. Jahrhundert zwei christliche (West- und Ostrom) und eine sunnitisch-islamische Zivilisation mit den zwischen ihnen bestehenden Interaktionsformen, die zwischen Bedrohung und gegenseitiger Befruchtung oszillierten. Neben den expansionistischen Varianten des „Djihad“ und des „Kreuzzugs“, die für die Ausbildung eines regionalen, die lokalen Kulturen übergreifenden Zivilisationsbewusstseins zweifellos von entscheidender Bedeutung waren, verweist Bassam Tibi vor allem auf die ebenfalls vorhandene Tendenz des gegenseitig befruchtenden Kulturaustauschs. So sehr beispielsweise der abassidisch-karolingische Zivilisationskontakt auch noch in machtpolitische Kontexte integriert war, so sehr deutete sich in den Beziehungen zwischen den Reichen Karls des Großen und Harun al-Raschids doch bereits eine gewisse Trennung von säkularer und sakraler Kultur an, die mit einer Hinwendung zum antiken Geisteserbe und starken humanistischen Motivationen in der klassisch-literarischen Bildung verbunden war. Die „karolingische Renaissance“ im 8. und 9. Jh. ist nicht nur für die Entstehung eines europäischen Bewusstseins von Bedeutung, sie ist der Auftakt zu einer Reihe von Proto- oder Vorrenaissancen, aus denen dann die Renaissance des 13. Jahrhunderts vor allem in Italien hervorging. Dieser Prozess einer Revitalisierung antiker humanistischer Traditionen ist ein hochgradig dialogischer Vorgang, der über die Ausbildung distinkter zivilisatorischer Identitäten, wie sie Bassam Tibi im Anschluss an Pirenne in seiner großartigen Globalgeschichte der islamisch-christlichen Zivilisationsbeziehungen (ebd., 86ff.) beschrieben hat, hinausgeht. Tibi bezeichnet die Renaissance selbst als ein „signifikantes Intervall“ (ebd., 168), das nach der Verbindung von Christentum und europäischem zivilisatorischen Bewusstsein eine neue Epoche der europäischen Geschichte einleitete. In dieser Phase löst sich das philosophische Denken von der christlichen Religion und schafft die Voraussetzungen eines säkularen Humanismus, der aus dem christlichen Abendland den modernen Westen hervorgehen ließ. Dieses inter-zivilisatorische Erbe gilt es gerade nach dem Ende der Ära der europäischen Expansion zu pflegen und weiterzuentwickeln.

In einem globalgeschichtlichen Kontext kommt, auch wenn Tibi darauf nicht verweist, dem georgischen Renaissancedenken besondere Bedeutung zu. Neben der Orientierung an der griechischen Kultur und bestimmten ökonomischen, sozialstrukturellen und politischen Ähnlichkeiten der georgischen Feudalgesellschaft mit der Westeuropas war, bei allem Bestreben um Eigenständigkeit, war der seit Mitte des 7. Jh. bestehende Kontakt zur arabisch-islamischen Welt für die Entstehung des georgischen Humanismus ausschlaggebend. Der georgische Philosoph Schalwa Nuzubidse hatte bereits 1947 in seinem Werk „Rustaweli und die Östliche Renaissance“ die Auffassung vertreten, dass das georgische philosophische Denken und die georgische Literatur im 12. Jahrhundert Teil einer sehr umfassenden „orientalischen Renaissance“ gewesen sei. Er ging davon aus, dass eine Renaissance im modernen Sinn sich zunächst vor allem in den Gebieten des arabischen Kalifats, in Byzanz, in Georgien und in Armenien entwickelte und erst von dort in den Westen gelangte. Auch wenn diese These in ihrer Zuspitzung so nicht zu halten ist, so spricht doch andererseits nichts dagegen, die Renaissance als ein interzivilisatorisches Phänomen zu betrachten. So hat der georgische Philosophiehistoriker Schalwa Chidascheli zu Recht darauf hingewiesen, dass die Anerkennung der Renaissance in Georgien keineswegs mit der Behauptung gleichzusetzen wäre, dass die westliche Renaissance ihren Anfang in Georgien genommen hätte. „Zwischen diese beiden Thesen gibt es weder einen logischen noch einen historischen Zusammenhang.“ (Chidascheli 1989, 100). Chidascheli widerspricht zugleich der Auffassung seines Dresdner Kollegen Siegfried Wollgast, der im Anschluss an den Leipziger Germanisten Walter Dietze (Wollgast 1989, 94) die Renaissance sehr kategorisch als singuläres Phänomen Westeuropas bestimmt hatte. Wollgast, dessen Leistungen bei der Wiederentdeckung bislang wenig beachteter oder verkannter Personen und Tendenzen der Philosophiegeschichte hier nicht geschmälert werden soll, schließt sich damit einer eurozentrischen Sichtweise an, die den Blick auf die gobalgeschichtlichen Entstehungsgründe des säkularen Humanismus verstellt. Es ist in diesem Zusammenhang übrigens bezeichnend, dass der von Bassam Tibi für die westdeutsche Geschichtswissenschaft konstatierte Provinzialismus (Tibi 1995, 77) offenbar eine Konstante deutschen Geschichtsdenkens ist, die sich auch in der DDR bemerkbar machte. Dass es auch Ausnahmen gab, belegt das Werk Gotthard Strohmaiers, des großen ostdeutschen Forschers auf dem Gebiet der Graeco-Arabica. Einem breiteren Publikum wurde er durch seine Monografie über Avicenna (Strohmaier 1999)bekannt. Ein 1996 im Olms Verlag erschienener Band mit 58 bislang schwer zugänglichen Aufsätzen, Miszellen und Rezensionen (Strohmaier 1996) gibt einen Überblick über die Lebensleistung eines Gelehrten, der sich bei Beibehaltung höchster Professionalitätsstandards nicht an fakultative und nationale Grenzziehungen hielt. In diesem Zusammenhang darf auch Heinz Fähnrich, der Doyen der neueren deutschen Kaukasiologie, der an der Friedrich Schiller Universität Jena in der Nachfolge von Gertrud Pätsch das Fachgebiet Kaukasiologie etablierte, nicht vergessen werden. Es ist allerdings auch bezeichnend, dass Fähnrich bis 1986 auf eine außerordentliche Professur warten musste und die Kaukasiologie erst 1990 offizielles Studienfach wurde. In gewisser Weise war der Ost-West-Gegensatz der großen „Sozialreligionen“ (Alfred Weber) für die Perpetuierung der angesprochenen Beschränktheit des Geschichtsbildes sogar förderlich. Er diente vor allem der Universalisierung von Partikularismen. Ähnlich wie in der angelsächsischen Geschichtsschreibung, beispielsweise bei Arnold Toynbee und William McNeill (McNeill 1989; Ders. 1963/1991), wurde in der sowjetischen Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung bei Nikolai I. Konrad, Wiktor M. Schirmunski (Chintibidse 1990/91, 64f.) u.a. mit der „Renaissancetheorie der Weltkulturen“ zwar eine weltgeschichtliche Perspektive auf den Humanismus erarbeitet, aber der eurozentrische Evolutionismus und Strukturdeterminismus wurde in beiden Fällen nicht überwunden. Bassam Tibi hat dieses Problem für die westliche Historiographie folgendermaßen beschrieben:

„Der Unterschied zwischen den selbstzentrierten deutschen und den anscheinend weltoffenen angelsächsischen Historikern liegt allein darin, wie sie den Bereich der Geschichte definieren. Die Normen die ihren Haltungen zugrundeliegen, unterscheiden sich jedoch nicht. Beide historische Schulen unterstellen die Totalität der vom Westen aus definierten Menschheit und folgern daraus die Totalität der Geschichte.“ (Tibi 1995, 77)

Dass im Einflussbereich des sogenannten Historischen Materialismus die Geschichte konzeptionell kaum anders betrachtet wurde, hat Tibi vor allem in seinen Auseinandersetzungen mit der sowjetmarxistischen Entwicklungstheorie (Tibi 1975, 64-86) und einem vulgärmaterialistischen Ideologiebegriff (Tibi 1991, 50ff.) verdeutlicht. Der komplexe Charakter gerade des Renaissancedenkens kann im Rahmen der materialistischen Überbau-Konzeption nicht angemessen dargestellt werden. Auch in der anti-marxistischen Wissenssoziologie, die in der Zurückführung der Denkformen auf soziale Seinsformen sogar noch radikaler verfährt und einen totalen Ideologiebegriff entwickelt, wird der universelle humanistische Gehalt dieser Denkbewegung nicht sichtbar. Wollgasts und Dietzes Diktum von der Singularität der Renaissance folgt aus ihrem historisch-materialistischen Geschichtsverständnis, wonach die Renaissance mit ihren nationalen Unterschieden in letzter Instanz in den Produktionsverhältnissen wurzelt. In diesem Interpretationsrahmen ist sie ein kulturelles Phänomen im Übergang vom niedergehenden Spätfeudalismus zur frühbürgerlichen Revolution. Auch wenn beide Autoren den „multinationalen Charakter“ und den „polyzentrischen Entwicklungsweg“ der Renaissance hervorheben, bestreiten sie doch die von einigen sowjetischen Autoren vertretene These von der Existenz einer Art „Weltrenaissance“ als einer allgemeinen Evolutionsstufe. „Wir kämen damit zu einem Begriff der Renaissance, der vom 8. bis zum 19. Jh. (Karl der Große und Puschkin als Beispiel) Gültigkeit hätte.“ (Wollgast 1989, 95). Damit wäre die Renaissance kein Überbauphänomen im Übergang der Gesellschaftsformationen mehr, sonder eine eigenständige und universale Geschichtsstufe, deren Inhalt aber im Rahmen des Historischen Materialismus nicht bestimmt werden kann. Humanismus als gemeinsamer Inhalt unterschiedlicher Renaissancen, d.h. „das Ausgehen von der Einheit von Renaissance und Humanismus“ (ebd.), wie bei Chidascheli und Konrad, scheint Wollgast nicht plausibel. Auch wenn ihm durchaus zuzugeben ist, dass es kaum möglich und wünschenswert sei, „die Überwindung europazentristischer Positionen in der Renaissanceforschung einfach durch eine `eurasische´ Erweiterung des Untersuchungsobjektes zu bewerkstelligen“, da diese am Ende „doch die europäische Renaissance als Ausgangspunkt der Überlegungen“ (ebd.) zugrunde legt, so zeigen sich in diesen Beurteilungen doch die Grenzen seines Geschichtsverständnisses. Schon für die Genese des Kapitalismus sind, wie die Untersuchungen Immanuel Wallersteins u.a. gezeigt haben, in weit höherem Maße globale Voraussetzungen mit zu berücksichtigen als dies in Wollgasts Fixierung auf die westeuropäische Gesellschaftsgeschichte geschieht. Wenn wir zudem Andre Gunder Frank folgen, dann ist das Weltsystem schon weit älter als die europäische Expansion (Frank/Gills 1993/1996). Die Austauschbeziehungen zwischen China, Indien und der arabischen Welt, die Handel, Kultur und Wissenschaft umfassten, schufen schon lange zuvor weltweite Zivilisationskontakte. Das kapitalistische Weltsystem entstand nicht zuerst in Europa, sondern in Asien (Frank 1989). Auch wenn die Argumente Franks nicht in allen Punkten überzeugen, so steht doch außer Zweifel, dass sich aus der Perspektive der Globalgeschichte auch unsere Sicht auf deren Vorgeschichte ändern muss. Es wird immer deutlicher, dass historische Phänomene wie Antike, Mittelalter und auch Renaissance global kontextualisiert werden müssen, damit wir ihren tatsächlichen universellen und/oder partikularen Gehalt erfassen können. Anregungen dazu finden sich bereits bei den Vertretern der deutschen Geschichts- und Kulturanthropologie bzw. -soziologie, d.h. bei Erich Rothacker, Helmuth Plessner, Michael Landmann, Max und Alfred Weber, aber auch bei georgischen Denkern wie Otar Djioev, Tamas Buatschidze, Surab Kakabadse und Nikoloz Tschawtschawadse. Gerade die georgischen Philosophen haben gewisse relativistische Tendenzen der deutschen kulturanthropologischen Forschung, die auch Bassam Tibi im Anschluss an die Frankfurter Schule kritisiert hat, nicht nachvollzogen. In der Auseinandersetzung mit dem monistischen Strukturdeterminismus der Sowjetideologie (Fetscher 1959; Buchholz 1978, 186ff.)) haben sie zu einer Zeit, in der in Deutschland der Gegensatz von sozialstrukturellen und anthropologisch-normativen Ansätzen (Tibi 1985, 63ff.) eine extreme Zuspitzung erfuhr, philosophischen Grundlagen für eine integrale Kulturwissenschaft geschaffen, die das Erbe des georgischen Renaissancehumanismus in die Gegenwart zu retten vermag. Dabei ging es nicht um eine ungebrochene Fortsetzung der traditionellen Geistesgeschichte (Wilhelm Dilthey), sondern um eine Hermeneutik bzw. Dialogik der Zivilisationen, die gleichsam die Weite einer kommunikationstheoretischen Ethik (Jürgen Habermas) mit der Tiefe der geschichts- und kulturanthropologischen Sichtweise (Erich Rothacker, Michael Landmann) verbindet. Eine solche „Menschheitswissenschaft“ (Michael Landmann) wäre das notwendige Organon, um das Erbe des Renaissancedenkens für die Gegenwart aufzuschließen.

Die Weltsystemansätze von Wallerstein und Frank unterliegen noch zu sehr einem ökonomischen Reduktionismus, der die gleichzeitig zur Globalisierung der Ökonomie und der Institutionen stattfindende Universalisierung des Wissens vernachlässigt. Die europäische Expansion wird begleitet durch „Prozesse der Universalisierung von kulturellen Normen“, in denen auch der Konflikt „zwischen struktureller Globalisierung und kultureller, aus dem Beharren auf Authentizität resultierender Fragmentierung“ (Tibi 1992, 29) wurzelt. Das uns heute noch Berührende und zugleich auch in der Geschichte des Denkens Paradigmatische an der Renaissance besteht gerade in der produktiven Verbindung von globalen Zivilisationsprozessen und kulturellen Revitalisierungen, wie sie sich im Humanismus manifestieren. Bassam Tibi fokussiert in diesem Zusammenhang sehr stark auf die Entwicklung der modernen Subjektivität und der Wissenschaft, d.h. auf den Prozess des „okzidentalen Rationalismus“ (Max Weber), der in der Renaissance seinen Anfang nahm. Sein Hauptaugenmerk gilt in diesem Zusammenhang dem Averroismus, der mit seiner Lehre der doppelten Wahrheit mit der islamischen Fiqh- Orthodoxie brach, in der allein der Koran als Quelle allen Wissens betrachtet wird. Das Denken des in Cordoba geborenen Philosophen Averroes oder Ibn Ruschds (1126-1198) gehört neben dem Werk des aus Buchara stammenden Avicenna oder Ibn Sina (980-1037) zweifellos zu den stärksten geistigen Impulsen, die aus der islamischen Welt in den Westen gelangten. Dass der islamische Rationalismus bzw. die über ihn vermittelte Kenntnis der Aristotelischen Philosophie des Wissens für die westeuropäische Renaissance erhebliche Bedeutung hatte, kann nicht bestritten werden. Bassam Tibi favorisiert diese Tendenz innerhalb des Renaissancedenkens. Aus der durchaus verständlichen Sorge vor einer obskuren Symbiose von prä- und postmoderner Rationalitätskritik, die sich nicht nur im islamischen Fundamentalismus abzeichnet, betrachtet er vor allem die Trennung von Glauben und Vernunft als zentrales Movens der Renaissance. Tibis durchaus nicht unberechtigte Befürchtung, dass die im islamischen Fundamentalismus zum Ausdruck kommende Abkehr von bestimmten Rationalitätsstandards dazu führt, dass die vorindustrielle Kultur des Islam in der wissenschaftlich technischen Weltzivilisation ein Ghetto (Tibi 1991, 11ff.; Ders.: 1985, 233ff.) bleiben wird, veranlasst ihn, vor allem die von Averroes zum modernen Cartesianismus führenden Elemente des Renaissancedenkens hervorzuheben. Das ist durchaus legitim, führt aber zu einer einseitigen Sicht auf den Humanismus. So vernachlässigt Tibi die mystischen, die naturphilosophischen, die pantheistischen, die skeptischen und vor allem auch die rhetorischen Strömungen in der Renaissance vollständig, wenngleich diese selbst für die Entstehung der Naturwissenschaften (Heidelberger/Thiessen 1981) und für die Entstehung der modernen Epistemologie keineswegs unbedeutend waren. Darüber hinaus sind diese Tendenzen in ihrer ganzen Bandbreite für eine unverkürzte Fortsetzung des „Projekts der kulturellen Moderne“, einschließlich der heute weltweit notwendig gewordenen „Modernisierung der Industriefolgengesellschaft“ (Krüger, 203ff.), unverzichtbar. Es gehört zu Bassam Tibis Verdiensten, den Zusammenhang von interkultureller Kommunikation und Ideologien im Rahmen der durch den Zivilisationsprozess sich herausbildenden Weltgesellschaft sowohl theoretisch konzeptionalisiert als auch empirisch umfassend untersucht zu haben. Seine Konzentration auf die Gefahr des islamischen Fundamentalismus und seine nur allzu berechtigte Forderung nach einer „Desakralisierung der islamischen Kultur“ (Tibi 1985, 245) haben ihn allerdings in den letzten Jahren die Frage nach den Grenzen und Einseitigkeiten instrumenteller Rationalität vernachlässigen lassen. Gerade wenn wir dem Nihilismus eines totalen Modernismus entgehen wollen, müssen wir uns der auch von Tibi in der Vergangenheit hervorgehobenen Aufgabe der Kultur und insbesondere der Religion, „auf die Grundfragen menschlicher, sprich gesamtmenschlicher Existenz Antworten zu vermitteln“ (ebd.), zuwenden. Es ist nicht auszuschließen, dass davon sogar das weitere Schicksal der Vernunft und der Wissenschaft abhängt.

Das Projekt der kulturellen Moderne hat mehr als eine Quelle im Renaissancedenken. Der dekontextualisierende Rationalismus der Averroisten korrespondierte nicht nur in der westeuropäischen Renaissance mit der topischen und rhetorischen Tradition. Der Renaissance kommt nicht nur Übergangscharakter zu, sonder das in ihr vereinte Ensemble unterschiedlicher Denk- und Wissensformen offenbart den mehrfachen Ursprung der Moderne. Poietische und poetisch-dialogische Denkmotive ergänzen sich. Die Vorherrschaft des Rationalismus entstand in Westeuropa im 17. Jahrhundert erst in Folge des Dreißigjährigen Krieges und der Konstitution der Nationalstaaten. Rationalismus, Mystik, Pantheismus und Dichtung haben insbesondere in der georgischen Renaissance einen Humanismus hervorgebracht, der die in Westeuropa aufkommenden Dichotomien vermied. In Georgien kommt dem Werk des Dichters Schota Rustaweli (ca. 1172-ca. 1216) gerade deshalb eine so große Bedeutung zu, weil sich in ihm eine „poetische Vernunft“ (Maria Zambrano) manifestiert, die zudem islamische und christliche Töne in einer einzigartigen Polyphonie vereinte. Trotz der existenzgefährdenden Erfahrungen, die die Georgier noch kurz zuvor unter den Seldschuken (zwischen 1110 und 1122) machen mussten, wurde unter Dawit IV. dem Erbauer (1073-1125), der die politischen Grundlagen für die georgische Renaissance schuf, religiöse Toleranz zur Staatspolitik.

„Dieser König war ein hochgebildeter Mensch. Er kannte das georgische geistliche Schrifttum und war in der antiken Literatur und in orientalischen Werken bewandert. Zudem besaß er Fremdsprachenkenntnisse in Arabisch und Persisch, wahrscheinlich auch Griechisch und Hebräisch. Besonderes Interesse zeigte er für die Astronomie, die Theologie und die Geschichtsschreibung. Die Bibel und den Koran kannte er gleichermaßen gut in allen Einzelheiten. Es ist bekannt, dass er die Werke islamischer Poeten schätzte.“ (Fähnrich 2010, 202)

Ähnlich wie das maurische Spanien (al-Andalus) im Südwesten war auch das christliche Georgien im Südosten Europas ein Ort, an dem das humanistische Denken als interzivilisatorischer Dialog gepflegt wurde. Mit Ibn Hazm al-Andalusi (994- 1064), Ibn Badjjah (1095- 1138), Abu Bakr Ibn Tufail (1110-1185), Ibn Rushd (1126-1198) und mit Ephrem Mzire (zweite Hälfte des 11. Jhs.), Ioane Petrizi (11. bis 12. Jh.)und Arsen Iqaltoeli (gest. ca. 1127) treten uns Denker entgegen, die umfassende philosophische und wissenschaftliche Kenntnisse mit tiefster Poesie und Religiosität zu verbinden wussten. Beiden Reichen wurde durch den Fanatismus der Kreuzzügler und Djihadisten unermessliches Leid zugefügt.

Wenn wir das gesamte Potential dieses Denkens für die gegenwärtige Epoche nutzbar machen wollen, müssen wir ein historisches und anthropologisches Denken entfalten, dass die säkulare Dimension des Zivilisationsprozesses, die sich vor allen Dingen in der instrumentellen Rationalität ausdrückt, und die expressiv-sinnhafte, d.h. die symbolische Seite der Kultur gleichermaßen berücksichtigt. Bassam Tibi erwähnt im Zusammenhang mit dem Renaissancedenken vor allem den US-amerikanischen Zivilisationsforscher Leslie Lipson (Lipson 1993), dessen zivilisatorischen Fortschrittsoptimismus er allerdings genauso wenig teilt wie den kulturmorphologischen Solipsismus seines 2008 verstorbenen Harvard-Kollegen Samuel P. Huntington. Wenn aber die wissenschaftlich-technische Weltzivilisation zwar ein objektives Wissen und eine globale Kommunikationsstruktur zur Verfügung stellt, andererseits aber die Tiefendimension der kulturellen Erfahrungen nicht berührt, bleibt die Frage, welche Möglichkeiten der Verständigung es gibt, die über einen rationalistischen Informationsaustausch im Sinne Leibnizens hinausgehen. Tibis Hoffnung auf einen globalen „Westfälischen Frieden“, auf die weltweite Durchsetzung des Toleranzgebots, ist nobel, aber ist sie weitreichend bzw. tiegreifend genug? Die rationalistische Reaktion auf den religiösen Weltbürgerkrieg entkommt nicht dem eurozentrischen Kontext. Der topische Humanismus und der metaphysische Rationalismus mit ihren Renaissancewurzeln sind „Zwillingsbahnen“ (Krüger 1993, 169ff.) der europäischen Geistesentwicklung, die sich heute im Gegensatz von Kontextualismus und Universalismus wiederfinden lassen. Tibi verweist gerade in Bezug auf die Brückenfunktion des Humanismus nicht nur auf die Renaissance, sondern auch auf den deutschen Idealismus und das Denken der Goethezeit (Tibi 2000, 232f.). Nun liegt im Anschluss an Kant aber nicht lediglich „eine vernünftige Kritik an dem sich von der menschlichen Erfahrung verselbständigenden Verstandesgebrauch“ (Krüger 1993, 183) vor, sondern es wurde auch Raum für eine Ausdrucksanthropologie (Herder) geschaffen, die dann im 20. Jahrhundert in die anthropologischen Forschungen Helmuth Plessners, Dimitri Uznadzes u.a. mündete. Auf dieser Basis kann eine humanistische Dialogik der Zivilisationen aufgebaut werden, die der gegenwärtigen Globalgeschichte entspricht und die den Gegensatz von Kontextualismus und Universalismus hinter sich lässt.Vermutlich werden es chinesische Denker und Forscher sein, die sich dieser Aufgabe annehmen. Unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Weltzivilisation müssen die „modalities of response“, die empfindungsfähige Menschen auf die Kernfragen der Existenz geben können (Bell 1991, 333), neu untersucht werden.

Literatur:

Begiaschwili, Artschil: Schalwa Nuzubidse, GEORGICA, 13/14, Jahrgang 1990/91, Konstanz 1991, S. 140-145.
Bell, Daniel: The Winding Passage. Sociological Essays and Journeys [1980], Transaction Publishers, New Brunswick (U.S.A.) and London (U.K.) 1991.
Braudel, Fernand: La Méditerranée et le monde méditeranéen à l’epoque de Philippe II. Paris 1949 (Habilitationsschrift 1947). Dt.: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990 (3 Bände).
Buchholz, Arnold: Am Ende der Neuzeit. Der technische Schub, der Kampf der Systeme und der Ausbau des Menschen, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1978.
Chidascheli, Schalwa: Einige Erläuterungen zu den Bemerkungen über mein Buch „Fragmente der georgischen Renaissance“, GEORGICA, 12, Jahrgang 1989, Jena/Tbilissi, S. 97-100.
Chintibidse, Elgudsha: Die Stellung Rustawelis im Prozess des mittelalterlichen Denkens und die moderne Literaturwissenschaft, GEORGICA, 13/14, Jahrgang 1990/91, Konstanz, S. 62-71.
Fähnrich, Heinz: Geschichte Georgiens, Brill, Leiden/Boston 2010.
Fetscher, Iring: Von Marx zur Sowjetideologie, Diesterweg , Frankfurt am Main 1957.
Frank, Andre Gunder: ReORIENT. Global Economy in the Asian Age, University of California Press, Berkeley/Los Angeles/London 1998.
Frank, Andre Gunder/Gills Barry K. (Ed.): The World System. Five hundred years or five thousand?, Routledge, London/New York 1993.
Heidelberg, Michael/Thiessen, Sigrun: Natur und Erfahrung. Von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Naturwissenschaft, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1981.
Hodges, Richard/ Whitehouse, David: Mohammed, Charlemagne & The Origins of Europe, Cornell University Press, New York 1983.
Krüger, Hans-Peter: Perspektivenwechsel. Autopoiese, Moderne und Postmoderne im kommunikationsorientierten Vergleich, Akademie Verlag, Berlin 1993.
Lipson, Leslie: The Ethical Crises of Civilization. Moral Meltdown or Advance, Sage Publications Newbury/London 1993
McNeill, William: The Rise of the West. A History of the Human Community, The University of Chicago Press, Chicago 1963.
McNeill, William: Arnold J. Toynbee: A Life, Oxford University Press, New York/oxford 1989.
Nuzubidse, Ketevan: Schalwa Nuzubidse und die deutsche Kultur, GEORGICA, 20, Jahrgang 1997, Konstanz 1997, S. 5-9.
Pirenne, Henri: Mahomet und Karl der Große, Fischer Bücherei, Frankfurt am Main 1963.
Strohmaier, Gotthard: Von Demokrit bis Dante, Olms, Hildesheim/Zürich/New York 1996.
Strohmaier, Gotthard: Avicenna, C.H. Beck, München 1999.
Tibi, Bassam: Zur Kritik der sowjetmarxistischen Entwicklungstheorie, in: Tibi, Bassam / Brandes, Volkhard (Hrsg.): Handbuch 2 . Unterentwicklung, Europäische Verlagsanstalt. Frankfurt am Main/Köln 1975, S. 64-86.
Tibi, Bassam: Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985.
Tibi, Bassam: Die Krise des modernen Islam. Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-technischen Zeitalter, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991.
Tibi, Bassam: Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus, Hoffmann und Campe, Hamburg 1995.
Tibi, Bassam: Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, C. Bertelsmann, München 1999.
Tibi, Bassam: Die Bildung der europäischen Werte und der Dialog der Kulturen, Marburger Kongress des deutschen Altphilologenverbandes, Auditorium Maximum 29.04.2000, in: Forum Classicum. Zeitschrift für die Fächer Latein und Griechisch an Schulen und Universitäten, 43. Jahrgang, 4/2000, S. 219-237.
Wallerstein, Immanuel: The Modern World-System, Bd. I: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, Academic Press, New York/London 1974.
Wollgast, Siegfried: Gibt es eine georgische Renaissance?, GEORGICA, 12. Jahrgang 1989, Jena/Tbilissi, S. 92-96.
Zambrano, Maria: Philosophie und Dichtung und andere Schriften, Turia + Kant, Wien 2006.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen