Sonntag, 17. April 2011

Georgien, die halbierte Moderne und die Geisteswissenschaften

Eine geschichts- und kultursoziologische Perspektive

von Dr. Frank Tremmel, Hamburg

„Die Werte, die den Fortbestand der Menschheit garantieren, sind nicht die gleichen wie die, die den Fortschritt der Menschheit bewirken.“
Jean Fourastié


In den letzten Jahren wurden in Georgien vereinzelt Stimmen laut, die eine grundsätzliche Kritik an der Annahme übten, dass die georgische Identität vor allem über die Lage an der Kreuzung unterschiedlicher Kulturen zu definieren wäre. Ohne an dieser Stelle der weitverzweigten und differenzierten Diskussion über den Charakter der zwischen Ost und West ihren Weg suchenden georgischen Kultur im Einzelnen nachgehen zu können, soll hier lediglich eine kritische Bemerkung aufgegriffen werden, die einige grundsätzliche Fragen zur Bestimmung moderner Kultur in den Geisteswissenschaften aufwerfen. So hat der Philosoph und Soziologe Gigi Tevsadze in einem Vortrag am Harriman Institute an der Columbia University in New York 2009 die provozierende, aber immerhin bedenkenswerte These aufgestellt, wonach die Vorstellung von einer Kreuzung der Kulturen Georgien vor allem als einen Ort identifiziert, an dem teure westliche Technologien und billige östliche Ressourcen (menschliche sowie natürliche) aufeinandertreffen - eine Annahme, die für die politischen und ökonomischen Entwicklungsplanungen des Landes bis heute bestimmend sei. Sie führe dazu, dass das wirtschaftliche Wachstum weiterhin in erster Linie durch Privatisierungen und Liberalisierungen zustande komme und keine wissenschafts- und technologiebasierte, d.h. keine sich selbst tragende Entwicklung in Gang gesetzt würde. Tatsächlich bleibt das grundsätzliche Verständnis von moderner Kultur unter den Bedingungen der Globalisierung in Georgien, aber nicht nur dort, oftmals diffus und unbestimmt. Der Verkürzung von Kultur auf Tradition bzw. auf Religion stehen mindestens so einseitige Vorstellungen gegenüber, die Kultur auf aktuelle gesellschaftliche Mechanismen reduzieren. Es ist in diesem Zusammenhang bedauerlich, dass die kognitiven Ressourcen, die im Bereich der georgischen Geisteswissenschaften für die Erarbeitung einer modernen Kulturkonzeption durchaus bereitstehen, bislang kaum genutzt werden. Als Rektor der Staatlichen Ilia Tschawtschawadse Universität unterstehen Professor Tevzadze nicht nur das dort bereits angesiedelte Institut für die Genealogie der Moderne, sondern in Zukunft auch das Zereteli Institut für Philosophie und das Uznadze Instituts für Psychologie. Er trägt in dieser Funktion die Verantwortung für die Pflege und Weiterentwicklung des kulturphilosophischen Erbes bzw. des Repertoires an kultur- und persönlichkeitspsychologischen Forschungsinstrumenten , das so bedeutende Forscher wie Nikoloz Tschawtschawadse, Tamas Buatschidse, Surab Kakabadse, Otar Djioev, Angia Botschorischwili, Dimitri Uznadze, Schota Nadiraschwili, Guram Ramischwili u.a. hinterlassen haben. Die internationale Forschung hat allen Grund, die weitere organisatorische und inhaltliche Entwicklung der georgischen Kulturwissenschaft und ihren Beitrag zu einer modernen Kulturpolitik mit großer Aufmerksamkeit zu beobachten.

Die erwähnten Forschungen schöpfen ganz wesentlich aus deutschen Quellen. Neben der neukantianischen Kulturphilosophie handelt es sich dabei vor allem um die Philosophische Anthropologie und die an Wilhelm Dilthey und den Historismus anknüpfende Tradition der Geistesgeschichte. Die georgischen Geisteswissenschaftler haben auf dieser Basis in den 1960er Jahren in Auseinandersetzung mit dem Historischen Materialismus eine anthropologische Geistlehre (Noologie) begründet, die dem europäischen Humanismus im exsowjetischen Raum Asyl bot. Sie schufen eine „Philosophie des Schöpferischen“ (Michael Landmann), eine „Philosophie des lebendigen Geistes“ (Fritz-Joachim von Rintelen), deren kulturanthropologische Quintessenz bis heute nicht überholt ist. Im Zentrum ihrer Bemühungen standen der Mensch und die Historizität seiner Sinn- und Wertbestrebungen. So gelang es ihnen, einen neuen historischen Realismus zu entfalten, der den originär-geistigen Bereich mit seiner symbolisch-kulturellen Prägekraft im Zusammenwirken mit der wissenschaftlich-technischen Zivilisationsentwicklung so darstellt, wie es sich in den konkreten historischen und regionalen Sozialkörpern manifestiert. Es war vor allem der Soziologe Eduard Kodua, der die Ergebnisse dieser kulturanthropologischen und geschichtsphilosophischen Forschungen in den Bereich der Soziologie übertrug und dort fruchtbar machte. Insgesamt wurden so Grundlagen einer axiologisch akzentuierten Kultur- und Geschichtssoziologie gelegt, die den Gegensatz von philosophischer Kulturanthropologie und Soziologie, bzw. von allgemein-theoretischer und speziell-empirischer Soziologie zu überwinden vermag. Insofern haben die georgischen Geisteswissenschaftler in gewisser Weise das Erbe der deutschen Kultur- und Geschichtssoziologie Heidelberger (Alfred Weber, Karl Mannheim) und Leipziger (Hans Freyer, Ernst Manheim) Provenienz in den 1960 und 70er Jahren, als es in Deutschland in Vergessenheit zu geraten drohte, eigenständig fortentwickelt. Konfrontiert mit dem radikalen Naturalismus und Strukturdeterminismus der sowjetischen Sozialontologie konnten sie zugleich Einseitigkeiten des deutschen Historismus überwinden, ohne dessen Entdeckung der schöpferischen Historizität, der hermeneutisch zu erschließenden Sinndimension und des kulturellen Pluralismus preiszugeben. Das Verhältnis von Kultur, Person, Struktur und Geschichte, das in den „unbewältigten Sozialwissenschaften“ (Friedrich H. Tenbruck) der Bundesrepublik Deutschland zusehends ins Ungleichgewicht geriet, wurde in Georgien weit ausgewogener behandelt. So standen beispielsweise nicht die abstrakte Gesellschaft, sondern die Persönlichkeit und die von ihr geschaffenen sinnhaften Mikrowelten im Mittelpunkt der Forschungen Eduard Koduas.

Die georgischen Philosophen und Geisteswissenschaftler haben, ähnlich wie ihre tschechischen Kollegen vor und während des „Prager Frühlings“, die Herausforderung des wissenschaftlich-technischen Zeitalters angenommen und versucht, dass Feld moderner menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten unter den Beschränkungen des sowjetischen Sozialprotektorats zu arrondieren. Sie haben auf die Lage zwischen Ost und West durchaus nicht mit einem unfruchtbaren Synkretismus geantwortet, sondern diese Zwischenstellung zum Anlass genommen, über den damals vorherrschenden Weltbürgerkrieg der großen Sozialreligionen hinauszudenken. So konnte Otar Djioev die einsinnige Logik des Geschichtsprozesses, wie sie im Historischen Materialismus vorherrschte, aufbrechen und eine dialogische Sichtweise auf die Geschichte der Zivilisationen etablieren. Die Kritik am materialistischen Strukturdeterminismus und die Wiederentdeckung der kulturellen Sinndimension spielten dabei eine wesentliche Rolle. Hier lassen sich Parallelen zur Kritik an der im Westen vorherrschenden Modernisierungstheorie aufweisen, die lange Jahre einem nicht weniger monologischen Evolutionismus unterlag. Es war vor allem der 2010 verstorbene israelische Sozialwissenschaftler Shmuel N. Eisenstadt, der den Strukturfunktionalismus Talcott Parsons weiterentwickelte und so die multiplen Modernen im Zeitalter der Globalisierung ins Blickfeld rückte. Unter dem Einfluss seiner Lehrer, Martin Buber und Edward Shils, erarbeitete er eine wesentlich differenziertere Sicht auf den Zusammenhang von Kreativität und Tradition. Im letzten Drittel seines Forscherlebens näherte er sich zunehmend der geschichts- und kultursoziologischen Perspektive Alfred Webers an, dem Parsons noch das Heimatrecht in der Soziologie verweigern wollte. Die Berücksichtigung eines eigenständigen und geschichtsmächtigen geistigen Bereichs, der nicht mehr nur als Überbauphänomen bzw. als funktionale Strukturkomponente wahrgenommen wurde, führte zur Pluralisierung der Entwicklungsperspektiven der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Insbesondere die Georgier wurden zu Schöpfern einer tatsächlich globalen Sichtweise, die aus der Tatsache, dass Gott seine Schöpfung auf einer Kugel ausgesetzt hat, geschichts- und kultursoziologische Konsequenzen zogen. Wer seinen Geometrieunterricht erinnert, weiß, dass die Oberfläche einer Kugel bekanntlich die Menge aller Punkte ist, deren Abstand zum Kugelmittelpunkt einen festen Wert aufweist – und das können wahrlich viele sein. Diese vielen Punkte, die Vielfalt der Weltmittelpunkte, bilden in einer globalen Epoche mit ihrer rasanten Beschleunigung kaum noch stetige Orientierung. Trotzdem haben die oben genannten georgischen Geisteswissenschaftler daraus keine relativistischen Schlussfolgerungen gezogen. Sie unterlagen damit in ihrer Mehrheit nicht den Verführungen, denen ihre deutschen Kollegen in den 1930er und 40er Jahren zum Opfer fielen, indem sie Pluralismus mit Relativismus verwechselten und den Eigenwert der Kulturen nicht mehr auf die universelle Humanität bezogen. So besteht das Vermächtnis, dass Nikoloz Tschawtschawadse, der ehemalige Direktor des Zereteli Instituts für Philosophie, hinterlassen hat, in einem Forschungsprogramm, dass dem Aufbau dialogischer Beziehungen zwischen den nationalen Kulturen als zentraler Menschheitsaufgabe dienen sollte. Guram Tevzadze, der Vater des jetzigen Rektors der Ilia Tschawtschawadse Universität und ebenfalls einer der bedeutenden georgischen Philosophen der älteren Generation, erhofft sich vor allem aus der Synthese hegelianischen und sokratischen Denkens eine philosophische Perspektive, die Weltanschauungsanalyse und Ergebnisse der modernen Experimentalwissenschaften zusammenführt.

Für die Geschichts- und Kultursoziologie bedeutet dies, dass die moderne Globalgeschichte unter zwei Gesichtpunkten analysiert werden muss:

1. Perspektiven lokaler Sinn- und Wertwelten, d.h. der Kulturen, die im Prozess der zivilisatorischen Synchronisation auf Authentizität und Bewahrung ihrer vitalen Tiefendimension beharren.

2. Perspektiven universeller Ansprüche der Menschheit, die sich in der Kontinuität des logischen Universums, im Kosmos unserer technischen Mittel und in den universellen Menschenrechten manifestieren.

Kulturelle Entelechie und zivilisatorische Entwicklung sind keine Alternativen, wie es uns ein unseliger Krieg der Ideen aus der Zeit des Übergangs zum 20. Jahrhundert nahelegen wollte, „ sondern sich ergänzende komplementäre Daseinsbereiche und Strata der Menschheitsentwicklung“ (Nicolaus Sombart). Die Aufgabe der Geschichts- und Kultursoziologie besteht darin, ihr Verhältnis im Verlauf der modernen Globalgeschichte zu klären. Bereits Max Webers Typologie der Herrschaftsformen enthält den Hinweis, dass weder die traditionale noch die rational-legalistische Variante ein revolutionäres, d.h. auf außeralltägliche Kreativität abzielendes Potential beinhaltet, die charismatische Herrschaftsform andererseits nur schwer auf Dauer gestellt werden kann und nur in Verbindung mit den beiden erstgenannten Typen Institutionalisierungsprozesse einleitet. Tatsächlich sind Tradition und Rationalität, über die herrschaftssoziologischen Gesichtspunkte hinaus, nicht lediglich Stufen oder Kettenglieder in einer evolutionären Sequenz, sondern über das Charisma verknüpfte anthropologische Strukturdimensionen der Kultur. Ohne Charisma bzw. Enthusiasmus, d.h. ohne Inspiration und Intuition, gäbe es keine schöpferischen Akte, die sich als Ritus, Sitte oder Rechtsform habitualisieren könnten. Auch und gerade die stärker intellektualisierten oder rationalisierten Kulturen, in denen die Ökonomie sich aus den sakralen Einbettungen emanzipierte und sich mit der Wissenschaft verband, sind vor das Problem gestellt, Enthusiasmus und rationale Arbeit in einer neuen Synthese zu verbinden, die am Ende einer Rehabilitierung der Tradition gleichkommen könnte. Der französische Ökonom Jean Fourastié wies darauf hin, dass „das das Wort Arbeit erst vor einigen hundert Jahren entstanden ist“, wohingegen „das Wort Enthusiasmus […] so alt wie die Menschheit“ sei. Dem mystischen Charakter des Enthusiasmus, der „die ganze Persönlichkeit erfasst“ steht die analytische Beschaffenheit der Arbeit gegenüber, die „nur auf Grund der Unterscheidung zwischen der wirtschaftlichen und den übrigen Aktivitäten“ zustande kommt. Diese historisch-epochale Differenzierung manifestiert sich auch in der räumlich-geographischen Dimension.

Für die ost-westlichen Zivilisationskonflikte, wie überhaupt für das Verhältnis der westlichen Welt zu den lange Zeit an die Peripherie gedrängten Völkern und Kulturen, gilt was Fourastié über die europäischen Klassenkonflikte in den beiden zurückliegenden Jahrhunderten schrieb: „Ich glaube, dass die Konflikte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem radikalen Unverständnis bestimmt worden sind zwischen den führenden Klassen, die sich eine wissenschaftliche Mentalität angeeignet hatten, und den Arbeiterklassen, die ihre eigene magische Mentalität bewahrt haben, obwohl sie den Glauben an eine Religion verloren haben, oder gerade aus eben diesem Grund, und die an einer synthetischen und phantastischen Mentalität festhalten.“ Die synthetische und intuitive Mentalität einerseits und die analytische Denkart andererseits, der Gegensatz von Leben und Arbeit, von Gefühl und Begriff, wurden im Rahmen der polarisierenden Globalgeschichte zu sozialräumlich ausdifferenzierten „historischen Ideen“ (Erich Rothacker), die sich heute weltpolitisch im Zivilisationskonflikt gegenüberstehen. Die Dialektik von Charisma und Rationalisierung begründet jenseits dieser Polarisierung einen offenen Prozess, der sich in einer Vielfalt kultureller Formen vollzieht. Der universelle Zivilisationsprozess wurde immer wieder im Prisma der Lokalkulturen gebrochen und differenzierte sich bislang in Gestalt eines Spektrums regionaler Geschichtskörper (Zivilisationen), denen spezifische Traditionen entsprechen. So hat auch der Zusammenbruch der Sowjetunion einen Doppelprozess freigesetzt, dessen Komponenten der US-amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington in verdinglichender Weise zu beschreiben, aber nicht als dynamischen Zusammenhang zu denken vermochte und insofern zu eine verfehlten Theorie der Globalgeschichte gelangte. Noch 1991 hatte Huntington in „The Third Wave“ eine globale Welle der Demokratisierung prognostiziert, die sich vor allem ökonomischem Wachstum und damit verbundener Modernisierung verdanken sollte. Nur zwei Jahre später antizipierte er dagegen in seinem berühmten Artikel in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ den „Clash of Civilizations“, der von nun an dem liberalen posthistoire sekundierte. Die zeitlich lineare Logik einer sukzessiven Demokratisierung konkurriert seither mit einer sakralen Verräumlichung, der methodologisch scheinbar am ehesten eine Art geopolitische Theologie zu entsprechen scheint. Die Beziehungen zwischen Religion und Zivilisationsprozess werden auf der Basis einer sehr spezifischen historischen Konstellation, die sich vermutlich als Durchgangsstadium erweisen wird, festgeschrieben. So wird die Formierung regionaler Zivilisationen ausschließlich aus der Sicht der hegemonialen Mächte als geopolitischer Kampf um Einflusszonen betrachtet. Kultur ist in dieser Sichtweise nicht die zentrale Sphäre der lebendigen Erfahrung, die ein genuines Potential der menschlichen Vertiefung und Befreiung beinhaltet, sondern lediglich Sprache der politischen Religion, die dem Zivilisationsprozess gewaltsam ihren Stil aufzuprägen versucht.

Diese diskursiv verstärkten Grenzziehungen zwischen Ost und West können nur durch eine „Umformung der allgemeinen Erkenntniskultur“ (Max Scheler) überwunden werden. Die moderne Metamorphose des Denkens zeichnet sich dadurch aus, dass sich in ihrem Verlauf die Fähigkeit, „verschiedene Ideen `gleichzeitig´ zu begreifen, zu verfolgen und wahrzunehmen“ (Fourastié 165f.), herausbildet. Es gehört zu den wenig verstandenen Paradoxien in der Geschichte des Denkens, dass es zunächst der religiösen, prälogischen Ritualisierung bedurfte, um den logischen Kausalismus der Wissenschaften hervorzubringen. Beide Denkweisen tragen der Unfähigkeit unseres Geistes, die ganze Realität erfassen zu können, Rechnung. Sie isolieren einen einzigen Gedanken, bringen ihn in eine lineare Ordnung und vernachlässigen die Komplexität der Phänomene. Dennoch ist es zunächst der so zustande kommende rationale Determinismus, der die Voraussetzungen schafft, um den Gegensatz von Erfahrung und Gedanken aufzuheben. Er bringt mit der experimentellen Methode das Mittel hervor, das eine weltgeschichtliche Metamorphose des Denkens bewirkt. Experimentelle Wissenschaft und Geschichte verbinden sich in ihrem Verlauf, um „die tiefreichenden Verknüpfungen der Elemente aufzuzeigen“, die ansonsten durch den monologischen Determinismus separiert werden. Diese neue Erkenntniskultur entspricht insofern der in Georgien so traditionsreichen polyphonen Musik, die „auf einer Ebene mehrere Gedanken“ auslöst, „so dass der erste Gedanke seine Präponderanz verliert und dann zwei, drei … Gedankenströme auf derselben Ebene fließen“ (ebd., 181). Die überlieferten Formen der Religion und die deterministische Wissenschaft des singulären Gedankens können im besten Fall als Propädeutiken einer solchen Metamorphose des Denkens begriffen werden. Damit sich der Schmetterling der Erkenntnis aus seiner Larve befreien kann bedarf es allerdings einer Willensanstrengung, die nicht gleichsam naturwüchsig dem alltäglichen Denken entspringt. "Dies Werden der Wissenschaft überhaupt, oder des Wissens“ , dessen Darstellung Hegel als Aufgabe einer „Phänomenologie des Geistes“ betrachtete, kann nur in einer philosophisch-anthropologisch fundierten Kultur- und Geschichtssoziologie angemessen dargestellt werden. In Georgien könnten, im kritisch-produktiven Anschluss an die Forschungen Konstantin Megrelidzes, der neben Wladimir. I. Wernadskij und Robert K. Merton zur den bedeutendsten Wissenschaftsforschern seiner Zeit gehörte, und in Fortsetzung der Fragestellung Dimitri Uznadzes, der neben Jean Piaget und Lew S. Wygotskij zu den Begründern der modernen Psychologie zählt, wichtige Beiträge zu einer polylogen Theorie der Globalgeschichte geleistet werden. Megrelidzes „Soziale Phänomenologie der Gedanken“, die später dann unter dem Titel „Grundprobleme der Soziologie des Denkens“ erschien, enthält in Verbindung mit Uznadzes „Einstellungskonzept“ ein enormes Potential für eine zeitgenössische Geschichts- und Kultursoziologie.

Angesichts der Volksaufstände im Maghreb und in Ägypten, der Massenproteste in vielen Teilen des Vorderen Orients wären vielleicht gerade die georgischen Geisteswissenschaften dazu prädisponiert, sich der Frage zuzuwenden, wie die halbierte Moderne überwunden werden kann, welche Möglichkeiten der produktiven Integration es gibt. Unabhängig vom Ausgang der Ereignisse, d.h. von der Frage, in welche konkreten sozialen und politischen Formen diese Bewegungen münden werden, stellen sie doch an sich schon eine wichtige Zäsur in der Globalgeschichte des Bewusstseins dar. Davon wird zweifellos auch das Schicksal Transkaukasiens nicht unberührt bleiben. Es gab bislang nicht viele globalgeschichtliche Konstellationen von Kultur und Zivilisation, die dem menschlichen Dasein sowohl Weitläufigkeit als auch symbolische Tiefe zu geben vermochten. Zudem wurden selbst die achsenzeitlichen Durchbrüche zur „immanenten Transzendenz“ vom Schatten der Gewalt, dem Zwillingsbruder der enthusiastischen und empathischen Gefühle, begleitet. Im Unterschied zur Vergangenheit finden die produktiven Neukonstellationen der Humanität heute unter den Bedingungen einer globalen Noosphäre statt, die eine bislang nicht gekannte Synchronizität der Ereignisse generiert . Der Zivilisationsprozess schafft eine neue „Gesamtlebensaggregierung“ tellurischen Ausmaßes, die neue Formen der „seelischen Produktivität“ provoziert. Anstatt lediglich westeuropäische Wissenschaftsentwicklungen nachzuvollziehen, was zweifellos ebenfalls notwendig ist, wären die georgischen Geisteswissenschaftler aufgerufen, ihre Ressourcen zu bündeln und sich dieser Frage der kulturellen Produktivität zuzuwenden. Nur so wäre auch ein Verständnis moderner Kultur zu erarbeiten, dass die von Gigi Tevzadze beschriebene unproduktive Konstellation von Kultur und Technologie zu überwinden hilft. Der 2008 verstorbene deutsche Kultursoziologe Nicolaus Sombart, Sohn des bekannten Wirtschaftshistorikers Werner Sombart und Schwiegersohn des Menschewisten Michael Khundadze , Schüler Alfred Webers und lange Jahre Leiter der Kulturabteilung des Europarats, hat zu Beginn des Millenniums die Aufgaben einer modernen Weltkulturpolitik und einer die Kulturen umgreifenden Ethik noch einmal als Frage formuliert, die auf georgische Antworten wartet:

„Wie soll man die Heimat, also das, was in der lebendigen Tradition einer Gemeinschaft wurzelt, in Übereinstimmung bringen mit universalen Ansprüchen, die Bestandteil jeder demokratischen Gesellschaft sind; wie kann man eine Kultursphäre schaffen, die authentisch in den Ursprüngen und universell im Verständnis ist?“

Literatur:

Buber, Martin: On Intersubjectivity and Cultural Creativity, University of Chicago Press, Chicago 1992.
Eisenstadt, Shmuel N.: Tradition, Wandel und Modernität, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979.
Ders.: Die großen Revolutionen und die Kulturen der Moderne, VS Verlag, Wiesbaden 2006.
Fourastié, Jean: Die große Metamorphose des 20. Jahrhunderts, Econ, Düsseldorf/Wien 1964.
Friedrich, Janette: Der Gehalt der Sprachform. Paradigmen von Bachtin bis Vygotskij, Akademie Verlag, Berlin 1993.
Huntington, Samuel P.: The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, University of Oklahoma Press, Oklahoma 1991.
Landmann, Michael: Ursprungsbild und Schöpfertat. Zum platonisch-biblischen Gespräch, Nymphenburger Verlagsbuchhandlung, München 1966.
Sombart, Nicolaus: Rendezvous mit dem Weltgeist. Heidelberger Reminiszenzen 1945-1951, S. Fischer, Frankfurt am Main 2000.
Tenbruck, Friedrich H.: Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Styria, Graz/Wien/Köln 1984.
von Rintelen, Fritz-Joachim: Contemporary German Philosophy and its Background, Bouvier, Bonn 1973.
Ders.: Philosophie des lebendigen Geistes in der Krise der Gegenwart, Musterschmidt, Zürich/Frankfurt am Main 1977.
Weber, Alfred (Hrsg.): Einführung in die Soziologie, Piper, München 1955.

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