von Frank
Am Donnerstag, den 17. November Anno Domini 2011 kam in der St. Trinitatis Kirche in Hamburg Altona eine kleine Gruppe von Menschen zusammen, um mit einer Frau ihren fünfzigsten Geburtstag zu begehen, die ihr Schicksal Ende der 1980er Jahre aus den sonnigen Gefilden des Kaukasus in die Kühle der norddeutschen Tiefebene verschlug. In einem klaren und weiten Kirchenraum, der im letzen Weltkrieg seine barocke Pracht einbüßte, empfing Marika Lapauri-Burk die Menschen, die wichtige Abschnitte ihres Lebens in Deutschland begleitet haben. Als Dank und gleichzeitig auch als Einstimmung in einen neuen Lebensabschnitt spielte die Musikerin für ihre Gäste eine Reihe von Orgelstücken. Am Abend dieses Tages, an dem in der Orthodoxie u.a. der einhundertfünfzig Philosophen, die von Katharina von Alexandria bekehrt wurden und 350 n.Chr. ihr Martyrium erlitten, und an dem in der Evangelischen Kirche des Mystikers Jakob Böhme gedacht wird, entstand so eine Atmosphäre der Besinnung, in der jeder Anwesende seine ganz persönlichen Erinnerungen an das Geburtstagskind noch einmal Revue passieren lassen konnte. Pastor Michael Fridetzky ließ sich inspirieren und sang im Anschluss an das Orgelkonzert eine Reihe jüdischer Lieder, die dem Schmerz und der tiefen Sehnsucht der Kinder Israels Ausdruck verliehen. Sein Gesang entsprach intuitiv dem Verlangen nach der wahren Heimat, die das Leben der Jubilarin in so hohem Maße bestimmte. Der „georgische Traum“, von dem in den letzten Wochen so viel die Rede ist, erfüllte für einen Augenblick nicht nur Marikas Leben, sondern auch den Raum einer protestantischen Kirche, die - neben Altkatholiken und chinesischen Christen - an diesem Abend auch uns und unseren Gedanken Obdach gewährte.
Es war die Ferne der Diaspora, die Marika lehrte, das Georgien jenseits seiner empirischen Misere zu erkennen, ohne jemals die konkrete Anteilnahme am leidvollen Schicksal ihrer Landsleute aufzugeben. Sie wurde als Migrantin, wie der jüdisch-tschechisch-brasilianische Philosoph Vilém Flusser es einmal formulierte, zu einem der „Fenster, durch die die Einheimischen die Welt sehen können“. So vermochte sie vielen, Georgien als Raum der Möglichkeiten und nicht als dubiose Zwischenzone des Weltgeschehens zu vermitteln. Sie selbst hat die 1990er Jahre, die Zeit nach ihrer Übersiedlung nach Deutschland, oftmals als die verlorene Zeit ihrer Generation beschrieben. Über die schmerzhaften Erfahrungen dieser Jahre, in der Marika wie viele Georgier in Deutschland den selbstbezogenen Gorbi- und Wiedervereinigungstaumel der Deutschen erlebte, während ihrer Heimat, in der 1989 die ersten entscheidenden Schritte zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums getan wurden, erneut der Anschluss an die moderne Zivilisationsentwicklung verweigert wurde, möchte ich an dieser Stelle nicht viele Worte verlieren. Wir haben darüber häufig gesprochen und in einer Danksagung soll der Geehrten kein weiterer Schmerz zugefügt werden. Das alles gehört wohl in das große, immer noch nicht aufgeblätterte Kapitel über die Unfähigkeit zur gemeinsamen Trauer, das unser Buch über die Suche nach Europa enthält.
Trotz der vielen verpassten Möglichkeiten, die diese Zeit bereit hielt, hat Marika sich nie entmutigen lassen und so entfaltete sie kurz vor der Jahrhundertwende noch einmal eine enorme kulturelle Aktivität, getrieben von dem Wunsch, ein Georgien jenseits der üblichen folkloristischen Klischees zu präsentieren. Die Arbeit des von ihr gegründeten Vereins „Lile“ dürfte europaweit in ihrer Vielfalt, Innovationsfreudigkeit und Qualität einzigartig sein. Abgeschlossene und in Angriff genommene Projekte zum georgischen Kino, zur Polyphonie und zum Denkmalschutz liegen in einer Fülle vor, die mich, der ich Marika in diese Zeit noch nicht kannte, im Nachhinein immer wieder verblüffen. Trotz gesundheitlicher Einschränkungen und nicht immer leichter Lebensumstände hat sie in den Jahren bis 2007/8 etwas versucht, was die Geschichte Georgien bislang verweigerte: Sie hat aus eigner Initiative und durch die Kraft zur Freundschaft ihre Heimat als Stimme in der polyphonen „Culture Universelle“ (Léopold S. Senghor) hörbar werden lassen. Wenn einmal eine Geschichte der georgischen auswärtigen Kulturpolitik geschrieben wird, dann wird ihr darin ein nicht unerheblich langes Kapitel zustehen. Es wird ein Buch sein, in dem der offiziellen georgischen Politik bedauerlicherweise nicht viel mehr als Fußnoten zukommen.
Was habe ich, der ich sie erst 2007 kennenlernte, in der Kirche an diesem Novemberabend gedacht? Ist Marika für mich auch ein Fenster zur Welt? Nein! Auf unsere Freundschaft trifft vermutlich eher eine andere Charakterisierung Flussers zu: „Ein tieferes Geheimnis als dasjenige der geographischen Heimat ist das der Suche nach dem anderen. Die Heimat des Heimatlosen ist der andere.“ Diese Heimatlosigkeit, die ein Signum unserer Epoche ist, betrifft uns beide bis heute gleichermaßen und hat uns zueinander geführt, genauer gesagt, der gemeinsame Wunsch, uns eine größere, umfassende Heimat zu bauen, in der wir als Individuen und als Angehörige zweier verschiedener Völker unsere Wohnungen beziehen können. In der Suche nach Heimat, nicht mehr als Besitz, sondern als Auftrag, darin haben wir uns gefunden. Seiher setzen wir unsere Phantasie und Einbildungskraft dafür ein, uns und anderen eine Arche zu bauen, die uns allen ein mehr als nur physisches Überleben ermöglichen soll. Wir haben beide durchaus starke familiäre und heimatliche Bindungen und gehören im landläufigen Sinne wohl nicht zu den klassischen Kosmopoliten. Marikas Wurzeln in Kissiskhevi, dem Dorf ihres Vaters, werden ihr immer Halt geben. Aber was uns antreibt ist die gemeinsame Erfahrung unserer Generation: Wir wurden Zeugen des „Auftauchens der Menschheit“ (Edgar Morin), dieses vielgestaltigen und hochkomplexen Organismus, von dessen Fortexistenz von nun an unser aller physisches sowie geistiges Leben abhängt. Es ist dieses planetare Bewusstsein, mit seinen empirisch konstatierbaren Anfängen unter der atomaren Bedrohung, in der ökologischen Krise und mit dem Auftreten der dritten Welt, das uns, scheinbar unabhängig voneinander, prägte und den Grundstein unserer Freundschaft legte. Menschheit in der Begegnung der Andersheit blieb unser Thema bis heute. So betreiben wir unsere Freundschaft gleichsam als experimentum crucis der Globalisierung.
Der konkrete Anlass zu unserem Freundschaftsbund war – Paradoxie der Weltgeschichte – der unselige Krieg von 2008, der uns veranlasste, die Zeitschrift „einBlick Georgien“ ins Leben zu rufen, weil uns beiden die westliche, insbesondere die deutsche Berichterstattung unglaublich provinziell und borniert vorkam. Im Verlauf unserer Zusammenarbeit stellten wir fest, dass sich Menschen in Deutschland und Georgien überhaupt nicht mehr vorstellen können, dass es ideologisch unabhängige geistige Bestrebungen geben kann. Waren wir georgische Nationalisten, weil wir den russischen Imperialismus verurteilten und uns weigerten, einer georgischen Hauptverantwortung für die Auseinandersetzung das Wort zu reden? Waren wir unzuverlässige Kandidaten, weil wir Stimmen zu Wort kommen ließen, die die georgische Regierung kritisch beurteilten? Waren wir nicht ausgewogen genug, wie vor allem die Deutschen meinten? Nie habe ich Marika in dieser Zeit fanatisch oder dialogfeindlich erlebt, nie habe ich von ihr – bei aller Enttäuschung und bei allem Willen zur Selbstbehauptung – antirussische Ressentiments zu hören bekommen. Wir waren uns einig, dass das Geschehen auch Ausdruck der westlichen Konzeptionslosigkeit gegenüber dem osteuropäischen Raum war und ist, ein schwerwiegender Fehler, der heute angesichts des „Arabischen Frühlings“ wiederholt wird und unter Umständen ähnlich fatale Folgen zeitigen wird. Wie häufig sprachen wir in Marikas Küche, in der so viele unserer Ideen geboren wurden, über das Fehlen einer europäischen Kulturpolitik, einer Alternative zum geopolitischen „Realismus“, der uns ins 19. Jahrhundert zurückwirft. Unser Küchentraum von einem Europa als einer kooperativen Region in einer globalen Welt, wie er auch von Edgar Morin u.a. geträumt wird, war auch in diesen Monaten des Krieges und der Sorge um die staatliche Fortexistenz Georgiens unser stärkster Impuls.
Wir sprachen über Wascha-Pschawela und Marika machte sich an eine erste deutsche Übersetzung seines Textes „Kosmopolitismus und Patriotismus“, wir fingen an, uns intensiver mit Giwi Margwelaschwilis Ontotextologie zu beschäftigen, trieben unser Projekt zur Verfilmung seines Theaterstücks „Zuschauerräume“ voran und führten ein Interview mit ihm. Wir kontextualisierten die deutschen und die georgischen Monothematizitäten. Wir beschäftigten uns mit dem georgischen Psychologen Dimitri Uznadze und stellten mit Bedauern fest, dass die georgische Kultur- und Wissenschaftspolitik sein Erbe nicht nur vernachlässigte, sondern regelrecht zerstörte. Ich erlebte, wie Marikas eh nicht große Hoffnungen auf die georgische Regierung ins Nichts zerrannen. Das sind schwere Momente in einer Freundschaft, in denen einem die Ehrlichkeit den Trost verbietet. Trotzdem habe ich von ihr nie illoyale Äußerungen gehört. Sie hat die neu erstandene georgische Republik immer als kontinuierlich weiter zu entwickelnde politische Lebensform betrachtet, eine Haltung, die ich hierzulande oftmals vermisse, wo Gleichgültigkeit und ideologische Gespreiztheit in nationalen Fragen sich immer wieder ablösen. Wir waren uns einig, dass wir die georgischen Belange weiterhin in einer Weise vertreten wollen, die kulturelle Authentizität und Globalität als komplementäre Strata und nicht als Gegensätze betrachtet. Marika beschäftigte sich zusehends mit der georgischen Moderne und übte im Zusammenhang mit dem Bau des Kutaissi State History Museum scharfe Kritik an der georgischen Raum- und Stadtplanung. Sie mahnte eine dringend fällige gesellschaftliche Diskussion über urbanistische Fragen an. Zwischendurch organisierte sie Konzerte, schrieb unzählige Beiträge für unseren seit 2009 betrieben Blog, für Foren etc. Wie sie bei all dem auch noch ihren musikpädagogischen Arbeitanforderungen mit so viel Ideenreichtum und Geduld gerecht wurde, vermag ich nicht zu beantworten. Wenn ich spät abends bei ihr anrief, übersetzte sie entweder technische Pläne für ein Denkmalschutzprojekt, schrieb mit einer Freundin einen Förderantrag für die Dorfentwicklung, bereitete sich auf ein Schülerkonzert vor oder stritt mit der provinziellen Ignoranz georgischer Möchtegernintellektueller.
Auch meine Kritik an den georgischen Verhältnissen wurde in dieser Zeit härter. Uns wurde deutlich, dass in Georgien eine gesichtslose Globalisierung, eine substanzlose Reflexmodernisierung betrieben wurde. Es ist offenkundig, dass der Globalisierung nicht nur in Georgien das Herz ausgerissen werden soll, dass die Liebe als ihre Triebkraft durch Motive ganz anderer, atavistischer Art ersetzt werden soll. Wir haben nie viele Worte um das christliche Motiv unserer Anstrengungen gemacht und ich will dies an dieser Stelle auch nicht ändern. Ob wir den Anforderungen unserer jeweiligen Konfessionen entsprechen, kann und will ich nicht beurteilen. Marika selbst hat am 17. November in ihrem letzten Orgelstück „What a Wonderful World“ (für Louis Armstrong von George David Weiss und Bob Thiele) ihr Credo so zum Ausdruck gebracht:
„I see trees of green, red roses too. I see them bloom for me and you, and I think to myself: What a wonderful world.”
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen