Samstag, 9. April 2011

Saba und der georgische Kosmos

Sasa Piralischwili


Vorwort

Es ist leicht, in der Vergangenheit uns selbst zu begegnen und zu entdecken, dass das heutige Relief unserer Seele irgendwann in ein anderes Gewand und in das Arsenal anderer Zeichen gehüllt war. Sabas Welt ist vor allem dadurch interessant, weil in ihren Konturen die Präfigurationen unseres heutigen Daseins ersichtlich sind. Darin können wir uns selbst erkennen und unwillkürlich schießt uns durch den Kopf: „Ich habe dich wiedererkannt.“ Die Vergangenheit ist doch mit sonderbaren Fäden an die Gegenwart gebunden. Wir können sie nicht einfach zurücklassen und woanders platzieren – dort, wo es uns nicht mehr gibt. Sie versucht, sich im Körper der Gegenwart immer wieder zu beleben und immer wieder schelmisch dorthin zurückzukehren, wo wir sind. Deswegen geraten wir manchmal in ein Relief unseres Daseins, das wir gleichsam längst hinter uns gelassen haben und mit dem uns nichts mehr verbindet. Durch irgendeine uns unbekannte Gesetzmäßigkeit kommen Daseinsformen zum Vorschein, die – falls sie uns berühren – auf einen Blick nur als ein Überbleibsel und nichts Anderes angesehen werden. Für die Generation, die Ende der 1980er und Anfang der 1990er in Georgien gelebt hat, dürfte die Epoche von Saba nicht schwer vorzustellen sein. Man denke nur an die Vorherrschaft der paranoiden Willkür und der Banditenmoral, an die Teilnahme der hochgestellen Politiker am „Gefangenenverkauf“ in den 90er Jahren, an die Erosion des staatsbürgerlichen Bewusstseins und an den verhängnisvollen Mangel von dem, was Aristoteles als Phronesis – d.h. der praktischen Weisheit – bezeichnet hat, mithilfe derer die Gesellschaft die radikalen Stimmungen überwindet und die Willkür der einzelnen Individuen bekämpft. Zum Schluss denke man an die ewige Suche nach einem Schutzherrn und Wundertäter im In- und Ausland. So wird wohl nicht schwer verstehbar sein, was ich meine.


Rückwärtsgewandte politische Parolen, mit denen man uns zur Rückkehr in die Vergangenheit aufrief, waren nicht nur sinnlos; sie stellten vielmehr den Ausdruck unseres Schicksals dar. Egal, ob wir es wollten oder nicht – das Schicksal ließ uns durch die Labyrinthe der Vergangenheit wandern und das Panorama noch einmal besichtigen, welches wir Ende 18. Jhs. nur chronologisch hinter uns gebracht hatten, bis uns klar geworden war, dass wir – um rein physisch zu überleben – wenigstens eine bestimmte Zeit lang aus der Geschichte herausfallen mussten, weil die Umstände uns mit Untergang drohten.
Dadurch wird die Vergangenheitsidee quasi verdoppelt: Auf der einen Seite stellt sie das dar, was wir schon hinter uns gebracht haben – ein Rest und eine Art Überbleibsel, der sich wieder zu beleben sucht, aber auf der anderen Seite ist sie das, was in uns als Uranfang angelegt worden ist, was wir immer noch nicht zum Ausdruck bringen können und was uns heute noch bewegt. Die Vergangenheit ist sowohl das erste als auch das zweite. Entscheidend ist dabei wahrscheinlich, welche von beiden wir über den Raum unserer Seele herrschen lassen: Die Vergangenheit als das in uns ursprünglich eingelebte Licht und die großen Präzedenzen ihres Aufleuchtens (das Leben von Saba war doch eine dieser großen Präzedenzen), oder die Vergangenheit, welche nichts Anderes ist als ein hinterlassener Rest auf dem Wege zum Licht, ein Sekundärprodukt. Sofern wir dabei das Erste meinen, können wir sagen, dass die Bewegung zur Zukunft im Grunde genommen (Martin Heidegger zufolge) im Wesentlichen eine Bewegung zur Vergangenheit ist. Die zweite Vergangenheit hingegen ist die Vergangenheit, die uns – im Gegensatz zur ersten – mit Mumifizierung droht, die durch unsere unvernünftigen Anstrengungen und von unerbittlichen Dämonen der Geschichte gewoben wurde – eine Sackgasse des von Gott geschenkten Lichtes, also – eine boshafte Falle, die in unserem konkreten Fall mit drei negativen Metaphern unserer georgischen Geistigkeit – Luarsab, Kwarkware, Kwatschi – und ihrem ewigen Führer, deren pseudoepischem Klon-, Zweit- oder Drittprodukt - Josef Stalin - beschrieben werden kann. (Gemeint ist dabei nicht Stalin als ein realer politischer Akteur, sondern ein ikonisches Bildnis, das durch die kollektive gesellschaftliche Bauchrednerei geschaffen worden ist.) Deswegen ist das Durchdenken der Vergangenheit wertvoll. Sie (die Vergangenheit) darf nicht zum Gegenstand der nur falschen national-mystischen und national-utopistischen Romane oder Theorien gemacht werden. Die moralische und intellektuelle Krise, die in Georgien nach dem 15. Jh. herrschte, bedarf eines erneuten Erlebens und Durchdenkens und nicht einer Mythologisierung der idealistischen Chronisten.


Die Welt von Saba

In den vergangenen Jahrhunderten vor Sabas Epoche können mehrere historische Ereignisse genannt werden, die das Schicksal des Landes bestimmten und sich für den georgischen Staat als folgenschwer erwiesen: Die Invasion der Mongolen, der Andrang der türkischen Stämme aus dem Westen und schließlich der Untergang von Konstantinopel 1453, welcher die Zerstörung der christlichen geistlichen Welt im Osten bedeutete und natürlich auch auf Georgien seinen Einfluss ausübte. Bekanntlich war die Geopolitik ein untrennbarer Bestandteil der byzantinischen Religiosität und ihre Grundidee bestand im Zusammenschluss der ganzen christlichen Welt zu einer einheitlichen religiös-politischen Ganzheit. Das begründete die misstrauische Haltung der byzantinischen Politik nicht nur zum Christentum im Westen, sondern auch zu den orthodoxen Ländern, die die byzantinische politische Vorrangigkeit nicht anerkennen wollten. Trotz dieser Widersprüche stellte diese Welt jedoch eine geistige Ganzheit dar, welcher der komplizierte Charakter der politischen Beziehungen nicht schaden konnte. Der Untergang von Konstantinopel war ein Zeichen der Niederlage der christlichen Welt im Osten. Die Folge dieser Niederlage war zwar nicht die endgültige Zerstörung ihrer überlebenden Fragmente, aber mit Sicherheit deren Hinausgeschleudertwerden an die Peripherie der historischen Ereignisse. Der Untergang von Konstantinopel bedeutete die Zerstreuung der im luftleeren Raum hängen gebliebenen Teile der östlichen christlichen Welt in der moslemischen Welt Die Menschheitsgeschichte kennt sehr viele Fälle, in denen die kollektive Untergangserwartung ihre bösen Früchte in Gestalt des sittlichen und religiösen Relativismus schuf. Bedauerlicherweise hat Georgien einige Jahrhunderte lang gerade in einer solchen Lage existieren müssen.

Im Zeitraum ab 1490, nach dem endgültigen Zerfall des Landes, bis 1801, dem Moment der historischen Kapitulation, als das Russisches Reich den östlichen Teil des Landes annektierte, ähnelte die Lage in Georgien immer mehr der durch die Weltuntergangserwartung ausgelösten Willkür. Der Zerfall des östlichen christlichen Kosmos rechtfertigte auf eine merkwürdige Weise die Lebensart nach der Doppelmoral. Diese Moral schuf ihrerseits den Handel mit Gefangenen – ein schreckliches sittliches Phänomen für jegliche Nation, egal ob christlich oder nichtchristlich, - und nicht zuletzt auch die Fähigkeit, diese Moral durch eine national-fetischistische Rhetorik zu tarnen. Hier ist nicht die Rede vom „einfachen“ Sklavenhandel“ – diesem Übel mussten alle Nationen mehr oder weniger ihren Tribut zollen –, die Rede ist davon, dass man sich selbst in eine Brutstelle gut verwendbarer Sklaven verwandeln ließ, die Rede ist von jenem bösartigen Elan, wodurch die georgische Aristokratie und die höhere Geistlichkeit dieses Phänomen zu einem lukrativen Geschäft gemacht haben. Die georgische Geistigkeit war schwer krank. Aus den Erinnerungen des Makar von Antiochien :

„Wir sahen einen Bischof, der einem Mann dessen Frau und vier Kinder gewaltsam weggenommen hatte. Alle vier Kinder hatte er an die Türken verkauft und die Frau an einen anderen Mann verheiratet“ (Makar von Antiochien 1982:97)
…“ Manche hohe georgische Geistliche verkaufen aus ihrer Gemeinde hübsche Jungen und Mädchen, und auch alle, die von ihrem Zorn getroffen werden. Die Sklavenhändler muntern sie dazu auf. Es ist schon dazu gekommen, dass einem Mann seine Frau vor seinen Augen verkauft wird, oder einer Frau ihr Mann.“ (Makar von Antiochien, 1982: 97-98). „Wir sahen, wie der Bischof von Markwi, namens Andria, sechzig Menschen aus seiner Gemeinde verkaufte. Man erzählte uns: ein Verwandter eines Fürsten war vor vierzig Jahren verstorben. Dieser Fürst rief ungefähr fünfzig Pfarrer und Diakonen aus seiner Nachbarschaft zu sich. Diese Geistlichen hielten auf den Namen des Verstorbenen den Gottesdienst ab. Danach gab der Fürst ihnen reichlich zu Essen und zu Trinken, aber dann befahl er seinen Dienern, die Geistlichen zu fesseln, kahl zu scheren und zu verkaufen.“ (Makar von Antiochien, 1982:98).


Gefangenenhandel, in den Palästen herrschende Unzucht, das Anrecht auf die „Erste Nacht“ und wer weiß noch was – dies alles spielt sich vor unseren Augen als das Drama eines kränkelnden Körpers ab. Das ist eine Situation, in der Sittlichkeit, Vernunft oder der Glaube an die menschliche Würde zu Objekten des Hohns seitens der pragmatischen und „flinken Jungs“ geworden sind; gerade auf Kosten der menschlichen Würde der einzelnen Individuen machen sie ihre Geschäfte. Die Risse im Staatlichkeitsbewusstsein füllten sich sehr schnell mit grotesken Widerspiegelungen einer einheitlichen Staatlichkeit. Infolgedessen geriet die ganze georgische Wirklichkeit in die Lage der Staatlichkeitssimulierung, wo die neu gebildeten Zwergkönigsreiche und Zwergfürstentümer eine armselige Imitation des staatlichen Lebens darstellten. Der Feind von außen unterstützte solche Zwergkönige und Zwergfürsten. Für ihre Gehorsamkeit durften sie in einer armseligen Vorstellung der Staatlichkeit spielen. Makar von Antiochien:

„Wenn ein georgischer König in den Krieg zieht, ziehen auch alle hohe Geistlichen und Pfarrer gemeinsam mit Mönchen, Nonnen und ihren Gemeinden mit. Sie kämpfen gegen ihre Brüder, sowie gegen Bischöfe, Pfarrer und Christen aus der Nachbarschaft… Die Sieger-Bischöfe und Pfarrer nehmen die Besiegten in Gefangenschaft und es ist ihnen völlig gleichgültig, wer die Gefangenen sind: ein Bischof, ein Pfarrer oder irgendjemand aus der Gemeinde. Sie behandeln die Gefangenen viel schlimmer als die Barbaren die Christen. Wenn sie wollen, verkaufen sie die Gefangenen an die Türken oder Perser.“ (Makar von Antiochien, 1982: 95-96)

Unter diesen Bedingungen war nur bei den „einfachen Menschen“ dank ihres unfehlbaren Staatlichkeitsinstinktes sowie bei den kleineren Gruppen der Eingeweihten, die immer noch versuchten, diesen im tobenden islamischen Meer herumdriftenden rissigen Körper mit einer einheitlichen Staatlichkeitsidee und einem Kommunikationsraum zusammen zu schließen, das Staatlichkeitsbewusstsein erhalten geblieben. Aber in dieser Etappe stand man einem ganz besonderen Feind gegenüber: Einer georgischen Mischung aus Großmäuligkeit und Eigensucht. Infolgedessen vermag unsere Gesellschaft bis heute nicht ihren nicht übermäßig großen Körper zu beherrschen.

Vom 12. – 17. Jh. trieben sich vagabundierende Gruppen in Europa (Spanien, Deutschland, Frankreich und England) herum, die man als Comprachicos oder Compra Pequenos bezeichnete. Sie entführten Kleinkinder, sperrten diese in Spezialtongefässe für längere Zeit ein, wodurch der Körper der Kinder entsetzlich deformiert wurde und verkauften diese Kinder an den Höfen der Aristokratie. Es gibt etwas Banales und bösartig Wiederholbares darin, wie die menschliche Schwäche das vom Gott geschenkte Licht in eine entstellte Gussform desselben Lichtes verwandelt. Luarsab, Kwarkware und Kwatschi sind Früchte einer kollektiven Gewalt sich selbst gegenüber – einer Gewalt, mit der man aus sich selbst sein eigenes Gefängnis formt. Und selbst wenn in diesen karikaturhaften Figuren amüsante Elemente immer noch reichlich vorhanden sind, tritt „der große Josef“ schon als ein urmonumentales Symbol der Rache an der Feindwelt auf. Die Karikatur lässt immer noch Raum zur Bewegung und zum Leben, aber die Monumentalität Stalins ist schon ein gefährliches Symptom dafür, dass die Karikatur als solche nicht mehr wahrgenommen werden kann. Sie ist nun zu einer historischen Hauptwaffe geworden.
Diese drei Metaphern bestimmten das Wesen der georgischen Wirklichkeit während des 19. und 20. Jh. in hohem Maße. In 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts, nach der Erlangung der Unabhängigkeit, waren gerade diese Gestalten, die sich uns als Krücken zur Hilfe anboten, die schelmischen Darsteller der wahren Strategie des Daseins in der Welt. Es ist ersichtlich, dass sich diese drei kollektiven Dämonen gerade in Sabas Epoche herauszubilden begannen und dank unserer Oberflächlichkeit unseren ganzen Kommunikationsraum durchsetzen sollten. Auch das Sterben hat sein Gesicht. In unserem Fall hat es eine sonderbare und böse Dreigesichtigkeit angenommen – die Dreigesichtigkeit jener drei Imitationen der Fortpflanzungsfähigkeit der Seele, die sich – um nicht leicht erkannt zu werden – absichtlich in ein exotisch-ethnographisches Gewand gehüllt haben. Der Feind der Menschheit tötet die Menschen und ihre Kultur nie in einer fremden Umgebung. Nein, gerade umgekehrt – wenn er sie tötet, dann ausgerechnet nur in der Umgebung, die ihnen wohl vertraut und nah ist. Deswegen ist eine solche Sterbensform unecht und stellt das gekünstelte Lokalethnographische dar. Die Menschen finden ihre Identität durch die sogenannte „wahre“ Kultur und den Glauben in der Ähnlichkeit mit ethnographischen Puppen. So setzen sich die „gehenden Verstorbenen“ durch den Körper unserer Kultur in die Bewegung – Luarsab, wie eine Verkörperung der gastronomischen Metaphysik; Kwarkware, wie eine feige und aggressive Ignoranz, ein Produkt der Epoche „des Gottestodes“, dem nichts mehr im Wege steht, um die volle metaphysische Kompetenz auf sich zu nehmen, sich als Demiurg vorzustellen und alle seine unvernünftigen, hässlichen Fantasien in reale Projekte umzusetzen; und zum Schluss, Kwatschi – eine der vollkommensten Verkörperungen des kompletten und allumfassenden sittlichen Relativismus.
Das, was in unserem nationalen Körper bis heute heimlich verharrt, beginnt die Durchsetzung des ganzen Kommunikationsraums der Kultur in der Epoche von Saba, in der Epoche der Finsternis der georgischen Geistigkeit. Denn genau damals war es für die Menschen zulässig und möglich geworden, ohne die Gesetze der Sittlichkeit und Vernunft zu leben.


So war es ihm vom Schicksal beschieden – Saba musste in einer Welt leben, in der nichts oder fast nichts passiert. Und in dem nichts passiert, sich die Bestätigung seines eigenen Lebenspotentials und seiner Würde nicht „hier“ und „heute“ vollzieht, bestätigt sich nur seine eigene Zerstörung und verwandelt alles, was es bisher dargestellt hat – die hinter sich gelassene Zeit, wo es durch das Erlebnis seiner Würde erfüllt war und glaubte, dass das Wort Gottes, der göttliche Logos, ausgerechnet durch seinen Körper gehen und sich auf dieser Welt verbreiten sollte – in Sekundärprodukte. Nichts passiert oder es kann nichts passieren in einer solchen Welt, die sich nur mit der Vernutzung ihrer eigenen Vergangenheit beschäftigt und der Welt nur alte und zu abgewetzten Masken gewordene Fragmente bietet. Ein solches Subjekt der Geschichte macht in seinem Körper der Unsittlichkeit und Unvernunft den Raum frei. Die Zerstörung verwüstet den ganzen Kommunikationsraum und die ganze einheitliche Linguistik der Kultur, die irgendwann ihre Ganzheit und ihr Lebenspotential schuf. Unter solchen Bedingung kann natürlich nichts passieren und passiert auch nichts, bis auf das Erinnern an einige Fragmente, die eher an den Schein der erloschenen Sterne gemahnen als an die Frucht der permanenten historischen Kulturproduktion. Eine solche Welt hat nicht mehr jene axialen Ideen und die Fähigkeit, wie dies irgendwann der Fall war, als sie sich am Rand der christlichen Welt als Teil des einheitlichen christlichen Kosmos und als dessen Vorposten gefühlt hatte. Die Unvernunft und der sittliche Relativismus zerstören methodisch und konsequent jenes christliche und ritterliche Aristokratische, das in ihr irgendwann existierte. Es ist offensichtlich, dass diese Welt nur durch nichtkontextuelle Mühen gerettet werden konnte und deswegen erscheinen Saba und Wakhtang VI. derart nichtkontextuell und fehl am Platze in dieser Umgebung. Die Mühen der Heiligen und Helden sind ja immer fehl am Platze. Sie rufen zur Existenz dann auf, wenn die Existenz selbst absurd ist. Sie kämpfen dann, wenn nicht nur der Kampf sinnlos ist, sondern nicht einmal ersichtlich ist, wofür man kämpfen sollte. Diese sind die ewigen Jungmänner, die kindisch fest glauben, dass das Böse unbedingt unterliegen muss und dass man zu diesem Zweck – wie es in einem gallische Sprichwort heißt – nicht zu einem Teil der Agoniekonvulsionen eines sterbenden Körpers werden darf, solange man noch am Leben ist.

Ein großer Einsatz – Versuch zur Wiederherstellung der geistigen Konstitution der Nation

Es ist unmöglich, die Maßstäbe von Sabas Bemühungen um die Schaffung der festen Punkte und Konfigurationen im verfallenden geistigen Leben als übertrieben einzuschätzen. Sein Elan war tatsächlich erstaunlich. Es ist ja ein wahres Heldentum, in einem Körper positiv zu wirken, der – von einer seltsamen Selbsttötungsbegierde besessen – jedem Heilungsversuch gegenüber krankhaften Widerstand leistet. In dieser von der bösartigen Selbstvernichtungsfreude gepackten Umgebung waren Saba und seine Gesinnungsgenossen eher Verschwörer als Staatsmänner oder schöpferische Persönlichkeit. Das war eher ein Exorzismus – die Austreibung der zerstörenden Kommunikationsdämonen und nicht nur ein literarischer Beitrag oder eine diplomatische Selbstopferung. Es war eher eine Beschwörung eines Besessenen, als eine Erziehung der Gesellschaft zwecks ihrer fortschrittlichen Entwicklung.

Der letzte Punkt oder die Krönung dieser Mühen ist „Der Wörterbund“, durch den das in der Finsternis versunkenene „Haus des Seins“ – die Sprache als Erscheinen des Gotteswortes – wiederhergestellt werden soll, damit im georgischen Kosmos wieder Klarheit herrscht. Gerade Saba (aber natürlich nicht nur er) war zur Person geworden, die durch einen titanischen Kraftaufwand zum Ausdruck brachte, dass hier noch etwas geschehen könnte und dass diese Welt mithilfe des sich offenbarenden Gotteswortes immer noch vereint werden könnte. Heute wäre es schwer einzuschätzen, was für einen Einfluss die katholischen Missionare nach dem Untergang von Byzanz auf die georgische Geistigkeit ausgeübt haben, aber man kann mit Sicherheit sagen, dass gerade durch sie das georgische Denken die Reste des Glaubens an die Ganzheit und Mächtigkeit des christlichen Kosmos bewahren konnte. Wahrscheinlich haben gerade sie die entscheidende Rolle dabei gespielt, dass die georgische Geistigkeit nicht in der Üppigkeit des orientalischen Denkens verloren ging.


Das Leben von Saba verdeutlicht, dass die georgische Geistigkeit - trotz der Finsternis, in die sie geraten war - in ihren tief verborgenen Schichten auf der Suche nach einer neuen Identität war. Sein Leben ist vollends der Ausdruck dieser Suche. Infolgedessen, egal ob wir es wollen oder nicht, müssen wir uns an das Leben – voller Arbeit und Suchen, Verzweiflung und leerer Hoffnungen – gerade dieses Menschen wenden, um etwas von dieser Epoche in Erfahrung bringen zu können. Sein Leben war ein ungewöhnlicher Präzedenzfall, der klar macht, wie diese einsame Seele bestrebt war, in das vom Chaos umgebene und strukturmäßig amorphe georgische Leben sittliche und rationale Identität zu bringen, in die geistige Umgebung, die allmählich und unerbittlich von der Krankheit des Sich-Abfindens mit der unwürdigen Gegenwart und der Vertuschung dieser Resignation durch Mythologisierung befallen war.
Wie gesagt, das war ein framentiertes gesellschaftliches Dasein, das – wenn man von solchen Ausnahmenn wie Sulkhan-Saba absieht – sich eher als einen Rest der Geschichte betrachtete, als ein Subjekt, das sich an das wandte, was in den drauffolgenden Jahrhunderten zu einem universalen Kampfplatz, zur Flucht aus der Geschichte und Realität geworden war, und zwar, an den Tisch – als einen von Legenden und Illusionen lebenden Existenzraum und als ein Mittel zur leichten Handhabung einer Maske der Würde und Würdigkeit sogar zur schwersten Zeit des sittlichen Abfalls. Gerade in dieser Welt erscheint Saba und – wie sein Erbe Ilia – von seinem ganzen Wesen bestrebt, dort zu sein, wo er sich gerade befindet – im Gegensatz zu der Welt, die ihn umgibt. Diese Welt war überfüllt von Menschen, die nicht dort waren, wo sie sich tatsächlich befanden. Zusammen mit der georgischen fatalistischen Willkür war allem Anschein nach eine zweite gesellschaftliche Krankheit int voller Deutlichkeit zum Vorschein gekommen – die Unfähigkeit „hier und heute zu sein“ – die das Land und die Gesellschaft bis heute noch gefesselt hält.

Wenn man „Der Wörterbund“ und „Die Weisheit des Lügens“ mit einem solchen Blick ansieht, wird klar, welch eine immense Last dieser Mensch auf sich genommen hat. Natürlich ist die Rede von einer erfolgreichen Lastübernahme nicht leicht, aber er hat gemeinsam mit ein paar Menschen einen Präzedenzfall dafür geschaffen, dass es hier, in unserem historischen Raum, in diesem georgischen Königreich der stummen Schatten, möglich war, etwas Bedeutendes geschehen zu lassen und dass das georgisches Leben nicht nur ein Konglomerat der historischen Reste darstellte. Gerade deswegen hat er seine Mühen auf die Wiederherstellung der sprachlichen und sittlichen Klarheit gerichtet.
Infolgedessen kann die Epoche von Saba als die Zeit von zwei gegensätzlichen Vektoren betrachtet werden: Die Bestrebungen des bösartigen Schaffens der Sackgasse der eigener Geistigkeit und die Anstrengungen zur Flucht aus dieser Sackgasse. Anders kann Saba auch nicht verstanden werden und unsere Mühen können ansonsten eher einem narzisstischen Dekorbau ähnlich werden, wovon unsere Historiographie überfüllt ist. Eine falsch verstandene Geschichte, falsch durchdachte Vergangenheit – wenn das Ziel dieses Durchdenkens nur die „ästhetische Chirurgie“ (Jean Baudrillard),, seines eigenen Wesens ist – bedeutet doch ein Gefängnis, welches viele Chimären oder falsche Zielstrebigkeit zur Welt bringt.

Ein großer Einsatz: Europa
Die Kontaktaufnahme Sabas mit der katholischen Kirche war außer den religiösen Faktoren auch durch andere Gründe bedingt. Die Niederlage der byzantinischen christlichen Welt war für Saba schon eine klare Tatsache. Für ihn bedeutete die Anerkennung der Priorität des Throns des römischen Bischofs die Rückkehr der georgischen christlichen Welt in den allgemeinen christlichen Kontext. aber dieser Schritt von Saba war zum Scheitern verdammt. Auf der einen Seite stieß er auf den Widerstand seitens der Geistlichen, die den von Byzanz geerbten Hass und das Misstrauen gegen den römischen Bischof mit sich lebendig herumtrugen, auf der anderen Seite hatte Europa weniger gemein mit der christlichen Welt, an die in Georgien die Erinnerung dank den Kreuzzügen immer noch lebte. Deswegen erwies sich Saba, wie es bei Oskar Spengler heißt, „ein Nachzügler des Mittelalters“ in der neuen europäischen Realität.

Für Saba waren die Metamorphosen, die in seiner Epoche in Europa verliefen, selbstverständlich fremd und unbekannt. Dieser sozial- kulturelle Körper befand sich im mühsamen Prozess der Selbstbefreiung von seiner eigenen Vergangenheit. Die Enttäuschung Sabas ist nicht schwer vorzustellen, nachdem er entdeckt hatte, dass der von den Missionaren beschriebene Westen keine Ähnlichkeit mehr mit der Welt hatte, durch die er reisen musste. Der Ritter war nun von einem Lebewesen verdrängt, für das der gottessuchende Gedanke durch die galanten Figuren des leeren Geschwätzes ersetzt worden war. Zu Sabas Zeit rechtfertigte die auf der Gottessuche ermüdete Aristokratie den auf ihren Höfen herrschenden Hedonismus mit zunehmender Lust und unverhüllt. Den Gottesnamen verwendete sie eher als eine Art intellektuelles Dekor. Der König Louis selbst – „die Sonne“ – war ein Großmeister der galanten Rederei und Schöpfer dieser Welt zugleich.
Es war eine Epoche der galanten Abenteuer angebrochen. Nicht umsonst hat diese Epoche die mit oberflächlicher Bildung und „Galanterie“ gerüsteten Kompanien, die durch Europa genauso zogen, wie irgendwann die Ritter des Ordens „Grab des Erlösers“ oder des „Schwarzer Schwan.“ Und wenn diese von geistigen Errungenschaften der Vergangenheit oder Gegenwart auch Gebrauch machten, dann nur mit dem Ziel, sich bei den aristokratischen Kreisen anzubiedern und jene oberflächliche Metaphysik zu atmen, welcher weder der katholische theologische Gedanke noch der als lutherische Theologie anerkannte deutsche Idealismus etwas anzuhaben vermochten.
Nach der Einsicht von alledem war Saba über die diplomatische Hilfeleistungsabsage seitens Louis – durch die Befriedigung seiner Leidenschaften völlig vertrocknet und ausgehöhlt – natürlich nicht erstaunt. Dieser war doch ein Großmeister in der Redekunst, wobei sein Gesprächspartner in seinem „Ja“ das „Nein“ erkennen musste. Eine falsche Versprechung war für ihn nichts anderes als eine durch die Gesprächsführungskunst diktierte Pflichtfigur. Wer weiß, wie viele Versprechungen er jeden Tag machte und sollte jemand ihn an diese erinnern, dachte er eher daran, wie naiv sein Gesprächspartner gewesen war und verspürte dabei überhaupt keine Peinlichkeit.
Ein weiteres Treffen Sabas fand mit Papst Klement XI. statt. Dieser war aber nicht mehr einer von den Päpsten, die bereit waren, aus Sorge um das Schicksal der christlichen Völker, den Westen zum Kampf aufzurufen. Er war nur ein Mensch – gepeinigt durch den Protestantismus und atheistische Ideologien, durch die Moral der Pariser Salons und die Verbreitung des antiaristotelischen Denkens –, der keine Macht mehr darstellte, die historische Stürme auslösen konnte. Heute kann man über die Enttäuschung nur spekulieren, die Saba während seiner Europareise zuteil geworden war, über den arroganten Zynismus, mit dem man diesem immer noch hoffnungsvollen Sohn seines verzweifelten Volkes „bei günstiger Lage“ eine Hilfeleistung zusicherte oder ihn einfach loswurde. Sie hatten ja gar keine Vorstellung von den Maßstäben der Tragödie des georgischen Volkes und interessierten sich dafür auch nicht.

Russland – ein Verhängnis

Eine ähnliche Enttäuschung erwartete Saba auch im Norden, wohin er in 1724 im Auftrage von Wakhtang VI. gereist war. Dieses riesengroße, wankende Reich, das unter der wahnsinnigen Idee, ein drittes Rom zu sein, litt, konnte seinen eigenen Körper nur mühevoll tragen, war aber unersättlich gierig auf immer neue Territorien. Der russische Königshof war zu Sabas Zeiten mit den Fragmenten der byzantinischen Reichsmerkmale dekoriert und bot der Welt Moskau als das dritte Rom an. Diese Macht drang mit ihrem riesengroßen Körper nach allen Seiten und zerstörte auf seinem Wege alles: Völker, Kulturen, Religionen, Staaten oder unabhängige Fürstentümer und Gesellschaften – die in den grenzenlosen Wäldern und Steppen oder in den Schluchten Kaukasiens verloren waren und keine klar bestimmten Grenzen hatten, Völker, die nach der mongolischen Herrschaft als Reste auf diesen riesengroßen Territorien zerstreut waren, hunderte von Stämmen, die von der Staatlichkeit keine Vorstellung hatten, mittelasiatische Staaten mit tausendjähriger Geschichte. Es war eine Macht im Andrang, in der slawische, byzantinische, europäische und mongolische Anfänge gemeinsam mit anderen zahlreichen Anfängen vereint waren – vereint nur durch die unersättliche Expansionsleidenschaft. Gerade deswegen wurde ihre Existenz zu einem durch die Jahrhunderte lang gezogenem Requiem für das eroberte oder noch nicht eroberte Volk.
Deswegen ist es kein Wunder, dass sich Wakhtang VI. und Saba zuerst an die westliche christliche Welt und erst danach an Russland gewandt haben, erst nachdem sie im Westen die erhoffte Welt der Ritter nicht mehr angetroffen hatten. Es ist schwer vorzustellen, dass Saba nicht gewusst hätte, dass die Hilfe aus dem Norden seinem Volk im besten Fall nur das physische Überleben bringen würde. Aber sogar diese Hoffnung war nicht zu einem Edelstein geworden. Anscheinend war die Ausweglosigkeit der Bestandteil unseres damaligen historischen Schicksals. Bis zu Ende unserer Wanderung durch die Sackgasse unserer Seele war es immer noch sehr weit.

Nachwort

Saba hat sein Leben und Engagement zwei Zielen gewidmet: Dem Zusammenschluss der über den historische Raum zerstreuten Fragmente unserer Geistigkeit und der Idee der Rückkehr unserer Welt in den einheitlichen christlichen Kosmos. Selbst ein flüchtiger Blick auf seinen Lebensweg macht es möglich, einzusehen, wie es möglich war, dass die großen Zielsetzungen und die durch den unglaublichen Scharfsinn und die Hingabe durchdachten Projekte wegen der Unerbittlichkeit des historischen Schicksals zum Scheitern verurteilt waren. Das historische Fatum bezweckte aber dabei, etwas ganz Anderes zum Ausdruck zu bringen. Das Leben von Saba ist auch in dieser Hinsicht nicht kontextuell, aber umso heldenhafter und bedeutungsvoller, denn Persönlichkeiten dieser Art gewinnen gerade durch ihr Nichtkontextualsein ihre Würde und ihrenWert. Auch der Herr bringt durch solche Menschen seine für uns geheimnisvollen Gedanken zum Ausdruck.




Patriarch von Antiochien seit 1647 in Georgien. Lebte in den 60er Jahren des 17. Jh. für längere Zeit in Georgien

König von Kartli (Ostgeorgien), erzogen von Sulkhan-Saba, machte sehr viel für die intellektuelle Entwicklung des Landes
Quelle:
Makar von Antiochien – Auskünfte über Georgien
Tbilissi 1982

Aus dem georgieschen von Tengiz Khatschapuridze

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