Samstag, 3. April 2010

Die Unvollendbarkeit der Weltgesellschaft

Betrachtungen zur Genealogie der Moderne im
Licht der deutschen Kulturanthropologie (1)

von Dr. Frank Tremmel



Ich liebe den, welcher die Zukünftigen rechtfertigt und die
Vergangenen erlöst.

Friedrich Nietzsche, Zarathustra-Vorreden



Modernität, kaum ein Begriff hat uns Menschen schon in der Vergangenheit so sehr verbunden und gleichzeitig auch so sehr getrennt. Modern sind gerade einmal die eben Jetzigen. Die anderen, die sich vielleicht nur kurz zuvor auf ihrem modernen Lebenshöhepunkt befanden, sind bereits alt. Zum Partei- und Streitwort werden die Modernen als Bezeichnung für die Nominalisten bereits Ende des 11. Jahrhunderts. Wer damals zu sehr mit Leib und Seele an den Begriffen hing war alt. Modern war der freiere, aber auch abstraktere Umgang mit den sprachlichen Organen des Denkens. In der Auseinandersetzung des Johannes von Salisbury, des Thomas von Aquin und anderer Aristoteliker mit den platonisch inspirierten Vertretern der Franziskanischen Theologie fand der Streit im 13. Jahrhundert eine erste Zuspitzung. Hier zeichnen sich bereits erste Argumentationsfiguren ab, die uns seither begleiten. Vor allem ontologischer Realitätssinn und projektiver sprachlicher Möglichkeitssinn stießen aneinander. Mit Vorbereitungen in der Renaissance steigerte sich an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert die Auseinandersetzung zur „Querelle des Anciens et des Modernes“ zu einer geistesgeschichtlichen Debatte, in der es vordergründig um die Bewertung der Antike ging, tatsächlich aber die modernetheoretischen Erwägungen unserer Zeit bereits ihre anthropologische Basis erhielten. Mimesis versus Imagination, Nachahmung versus Kreativität bezeichnen die polaren Sichtweisen der Boileaux-Despréauxs, Racines und La Fontaines einerseits und die der Perraults, Le Bovier de Fontenelles und Saint-Sorlins andererseits. Klassizismus und Avantgardismus, Tradition und Moderne haben im Anschluss nicht nur die philosophischen und literarischen, sondern vor allem die sozialen und politischen Debatten bestimmt. Die Moderne wurde zur globalen und permanenten Revolution, vor deren Richtstuhl nahezu alle stolzen lokalen Bräuche und Sitten zu defizitären Idiosynkrasien zusammenschrumpften. Der Rückständigkeit oder Überlieferung kann aber offenbar eine gewisse Attraktivität nicht abgesprochen werden. Kaum eine Revolution ohne Konterrevolution, kaum ein Fortschritt, der nicht die Sehnsucht nach der Vergangenheit heraufbeschwört. Selbst die Säkularisierung erweist sich vor dem offenbar nicht zu überwindenden Bedürfnis nach „religio“ (Rückbindung) als Aufbruch ohne Ziel. Offenbar hat jede Zeit ihre Moderne, der letzte Durchbruch zur kognitiv geleiteten Weltgesellschaft bleibt aus. Zwar kann kein Antoine Arnauld (2) die kombattanten Parteien der Modernisten und der Traditionalisten noch zur öffentlichen Versöhnung bewegen, aber ein endgültiger Sieg der einen oder anderen Richtung ist ebenfalls nicht in Sicht. So beschreibt der deutsche Sozialphilosoph Jürgen Habermas für unsere Epoche die Problematik einer „Weltgesellschaft, die von dem Bewußtsein begleitet ist, daß sie noch nicht fertig ist“ und die „nicht retrospektiv an überlieferten Werten, aber auch nicht ausschließlich prospektiv an Planungsaufgaben oder projektierten Lebensformen ausgerichtet sein kann“ (Habermas 1976, 118). Wer wollte bestreiten, dass diese Debatten auch die georgische Öffentlichkeit beherrschen. Verschärft durch die Lage zwischen Orient und Europa wird die Auseinandersetzung seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bis heute in Georgien mit unverminderter Schärfe geführt. Nun soll an dieser Stelle den ideenhistorischen Verzweigungen dieses Streits nicht nachgegangen werden. Bedeutsamer erscheint die kulturanthropologische Tiefendimension, die ihm zugrunde liegt.

Durch die nicht ganz neue Verbindung mit der Globalisierung erhält das zeitliche Spannungsverhältnis gegenwärtig einen räumlichen Aspekt in tellurischer Größenordnung. Der „cultural lag“, so die von William Ogburn geprägte kultursoziologische Metapher für das Nachhinken im Modernisierungsprozess, wird zum Konflikt zwischen „Lokalkultur und Weltgesellschaft“ (3). Kein Zweifel, sowohl innerhalb Georgiens als auch in der Beurteilung des Landes im globalen Kontext tobt der Streit um diese raumzeitliche Verortung. Im eher feuilletonistischen Anschluss an Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Oswald Spengler sucht so mancher angesichts der kaukasischen Tragödie sein Glück in den Tiefen und Untiefen geschichtsphilosophischer Spekulationen. Schnell wird die vulgäre Empirie zum plakativen Beleg für die eigene Lieblingstheorie. Einige halten es mit Francis Fukuyama und sehen in der andauernden Kaukasuskrise nur Scharmützel auf dem Weg zur liberalen Weltgesellschaft, partikulare Übergangsprobleme bei der Etablierung einer universalen Moderne. Andere betrachten mit Samuel P. Huntington den Kaukasus als Friktionslinie in den tektonischen Verschiebungen der planetaren Kulturformationen. Die akademischen Kulturwissenschaften wiederum gefallen sich in postmoderner Lust an der Dekonstruktion scheinbar kompakter traditioneller Identitäten und verstärken so das Lager der nominalistischen Aufklärung. Clifford Geertz, der 2006 verstorbene US-amerikanische Kulturanthropologe hatte den Gegenstand der Ethnographie immerhin noch als „eine geschichtete Hierarchie bedeutungsvoller Strukturen“ (Geertz 1983, 12) beschrieben und als „lokales Wissen“ (Geertz 1993) näher identifiziert. Geertz spricht in diesem Zusammenhang von „Anschauungen“, welche die „lokal versinnbildlichte Wenn-dann-Seinsstruktur“ und die „lokal wahrnehmbare Wie-deshalb-Erfahrungsweise“ (ebd., 175, Übersetzung d. Verf.) umgreifen. Auch er ging allerdings bereits davon aus, dass das Begreifen des „Allgemeinen“ und die Entdeckung neuer „Einheiten“ nur „über den Umweg von Beispielen, Unterschieden, Variationen und Besonderheiten“ möglich sei. „Die Splitter sind es, an die wir uns in einer zersplitterten Welt halten müssen“ (Geertz 2007, 17). Auf die „Verwandlung der Welt in jenes allgegenwärtige Flickwerk“, wie es uns nach dem Fall der Berliner Mauer hinterlassen wurde, reagierten die Kulturwissenschaften zunächst mit empiristischer Bescheidenheit. Die „Zerschmetterung größerer Zusammenhänge“ (ebd.) schien auch theoretisch ihre Spuren zu hinterlassen. Aber auch dieser spröde angelsächsische Fallibilismus blieb nur ein Etappenziel. Eine Reihe von Geertzschülern ging mittlerweile zur postmodernen Kritik am Erfahrungsbegriff schlechthin über. Geertz bestand immerhin noch auf der formalen Vergleichbarkeit kultureller Ausdrucksformen. Seine Schüler, Vincent Crapanzano und Paul Rabinow, problematisieren dagegen bereits die noch vorausgesetzte Repräsentationsfähigkeit dieser Formen. Insofern wurde im Zuge poststrukturalistischer und postmoderner Bestrebungen der hermeneutische Ansatz von Geertz radikalisiert und letztlich verabschiedet. Es wird zunehmend bezweifelt, dass Sprache eine fremde Kultur überhaupt repräsentieren könne. Das Verhältnis von Fiktion,Rhetorik und Realität, das in den Literaturwissenschaften schon seit längerem eine große Rolle spielte, tritt zunehmend in den Vordergrund. In der poststrukturalistischen Anthropologie werden durch diese Annäherung an die dekonstruktivistische Kritik Begriffe wie Essenz, Identität, Realität und Geschichte zunehmend fragwürdig. Der Erfahrungsbegriff spielt nur noch ex negativo eine Rolle. Der Unübersichtlichkeit auf dem „Berg der Sprachen“, wie schon im 10. Jahrhundert der arabische Geograph Al-Mas'udi den Kaukasus nannte, entspricht offenbar die Dekomposition einer auf Allgemeinheit hin angelegten Erkenntnistheorie in den Köpfen westlicher Intellektueller. Insofern befinden wir uns auch kulturwissenschaftlich heute in der Lage der Römer, von denen bereits Plinius berichtete, dass sie in Dioskurias (heute Sochumi) 130 Dolmetscher benötigten, um sich zurechtzufinden. So wird der Kaukasus im allgemeinen und Georgien im besonderen zum paradigmatischen Beispiel für die Krise des Erfahrungsbegriffes in den Geisteswissenschaften schlechthin. Der „Menschheitswissenschaft“ (Landmann 1982, 39, 156) ist offenbar ihr Gegenstand abhanden gekommen und Georgien wird dabei gleichsam zur Probe aufs Exempel. Es scheint so, als ob erst durch ein Denken, das imstande ist, die Idee in der Wirklichkeit aufzusuchen, die Gestalt Georgiens überhaupt wieder sichtbar werden kann. Weder durch die allein empirisch verfahrenden Wissenschaften noch durch geschichtsphilosophische Selbstermächtigungsansprüche wird das Antlitz der kaukasischen Völker enthüllt. Wo finden wir dieses Denken, welches - diesseits von Konstruktivismus und Essentialismus, von Universalismus und Partikularismus - Antworten auf die brennenden Fragen sowohl der `alten´ als auch der `modernen´ Georgier zu geben vermag?

In den 1920er Jahren entstand in Deutschland eine Wissensform, deren Aufgabe auf eine Formel gebracht werden kann, die bereits der Renaissance-Denker Pierre Charron, ein Freund Montaignes, in Umlauf brachte und die dann, von Alexander Pope aufgegriffen, an Goethe, Novalis und die Historische Schule weitergereicht wurde: Dass der eigentliche Studiengegenstand der Menschheit der Mensch bleibe, weil er sich selbst das wunderbarste und größte Geheimnis sei. Es war insbesondere der Philosoph Max Scheler, der im Anschluss an Wilhelm Dilthey und Edmund Husserl Anstrengungen unternahm, um die Neubegründung dieser spezifisch mitteleuropäische Form einer `Menschheitswissenschaft´ voranzutreiben. In seiner Nachfolge bemühten sich insbesondere Erich Rothacker, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, Ernst Cassirer, Hans Freyer, Theodor Litt und Michael Landmann aufzuzeigen, wie menschliches Verhalten aufgrund seines Darstellungscharakters in Haltung übergeht, die damit eine individualisierende Funktion erfüllt. Verhaltensweisen kommt ihr Repräsentationscharakter nicht durch die ihnen ebenfalls eigene Selbsterhaltungsfunktion zu, sondern durch die Freisetzung von Subjektivität. Der Weg vom Bildentwurf, von der Anschauung zur Kultur gibt insbesondere Erich Rothackers Ansatz (Rothacker 1988, 1966) im Kontext der Philosophischen Anthropologie, wie sie sich im deutschen Sprachraum seit den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts entwickelt hatte, ihr spezifisches Gepräge. Seine `Menschheitswissenschaft´ wurzelt im anschaulichen Erleben, das sich von den imagomotorischen Fähigkeiten bis zu den anschaulichen Sprachleistungen aufstuft. Mit der Anschauung hatte Rothacker den Grundfaktor der Weltbildung und damit auch der Kultur herausgearbeitet. Durch diese auf Herder und Baumgarten zurückgehende Aufwertung der „Aisthesis“ (Adler 1990), vermag Rothackers Kulturanthropologie im Anschluss an das Anschauungsbedürfnis des Gemeinsinnes die Spezifik menschlicher Phänomene zu entschlüsseln. Rothackers Verknüpfung von Anschauung und situationsangemessener Handlung verweist auf die Komplexität menschlicher Lebenssituationen und damit auf die philosophische Frage nach dem Zusammenhang der Aspekte des menschlichen Lebens (Krüger 1999, 15ff.). Seine Anthropologie bewegt sich im Spannungsfeld von psychologisch-anthropologischer und kulturhistorischer Forschung, um den Ermöglichungsgrund für die geschichtliche Pluralität der Kulturen aufzudecken.

Rothacker hat mit seiner Kulturanthropologie letztlich einen Versuch vorgelegt, den Gesamtaufbau von Kulturen aus dem Ineinandergreifen von Sinnlichkeit und Sittlichkeit zu begreifen. Das vorantreibende Moment dieses Zusammenhangs ist die menschliche Phantasie, die in Verbindung mit dem ergologischen Handeln die ästhetische, d.h. die formierende Qualität kultureller Prozesse begründet. Es sind die normativen Lebensformen zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwischen Tradition und Utopie, die im Mittelpunkt der deutschen kulturanthropologischen Reflexion über soziale und politische Lebensformen stehen. Die „exzentrische Positionalität des Menschen“ (Helmuth Plessner) verdeutlicht das Soziomoralische als anthropologisches Grenzphänomen: Der Mensch ist topisches und utopisches Wesen zugleich. D.h., auch wenn wir die Primordialität des Lokalkulturellen als interpretatio mundi voraussetzen, hat die „artifizielle Gesellschaft“ (Popitz 1995) doch als Projekt, das zunächst aus kontingenten Möglichkeiten entstand, zunehmend den Status einer Wirklichkeit sui generis erlangt. Hierin offenbart sich eine gewisse anthropologische Grundtendenz, die in der Medialität des Menschen wurzelt. Der Mensch begegnet sich immer nur indirekt. Er ist auf Vermittlung hin angelegt. Es ist das Fremdwerden des Eigenen, die ständige Überschreitung der topischen Vertrautheit, d. h. unsere projektive Vernunft, die letztlich die Weltgesellschaft hervorbringt. Sie ist im Sinne des deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies gewollter, d.h. „kürwilliger“ (Tönnies 1991) Sozialzusammenhang. Am äußersten Ende des Fremdheitsspektrums, das wir durch unsere Projekte erzeugen, lauert allerdings die leere Abstraktion der Unendlichkeit. Insofern ist der Mensch immer auch auf die Rückbindung hin angelegt.

„Ein Weltall läßt sich nur glauben. Und solange er glaubt, geht der Mensch `immer nach Hause´. Nur für den Glauben gibt es die `gute´ kreishafte Unendlichkeit, die Rückkehr der Dinge aus ihrem absoluten Anderssein. Der Geist aber weist Mensch und Dinge von sich fort und über sich hinaus. Sein Zeichen ist die Gerade endloser Unendlichkeit. Sein Element ist die Zukunft. Er zerstört den Weltkreis und tut uns wie der Christus des Marcion die seelige Fremde auf.“ (Plessner 1981, 424f.)

Die lokale Kultur, das noch vertraute Bild, ist keine Regression, kein Überbleibsel, sondern „wesenswillig“ (Tönnies, ebd.) erzeugtes Kulturotop. Michael Landmann, der compilator mundi der deutschen philosophischen Kulturanthropologie, bediente sich zur Verdeutlichung der von Alfred Weber getroffenen kultursoziologischen Differenzbestimmung von Kultur und Zivilisation. Zivilisation wird „als dasjenige bestimmt, was allgemein einsichtig und was nützlich ist.“ Kultur dagegen bezeichnet den ausdrucksanthropologischen Komplex der Mythen und Symbole einer Menschengruppe. Weber hatte die Differenzierung vor allem unter dem Gesichtspunkt der Übertragbarkeit und raumzeitlichen Ablösbarkeit durchgeführt. „Zivilisation ist ablösbar und übertragbar“ (Landmann 1976, 202). Dagegen ist Kulturelles nicht in diesem Sinne transponierbar, „weil es intimer mit der einmaligen geschichtlichen Stelle, an der es wuchs, verflochten ist“ (ebd. 203). Diese Unterscheidung darf allerdings nicht reifiziert werden. „Wie die Unterscheidung der beiden Sphären begrifflich fragwürdig ist – auch das symbolische kann nützlich, auch das Nützliche Symbolträger sein –, so greifen sie auch real ineinander“ (ebd., 204). Im Rahmen einer `Typologie der kognitiven Kräfte´ bzw. der `Polaritätsgesetze´ kann es sich hier nur um die extremen Möglichkeiten eines Spektrums handeln. Aber im Gegensatz zu der Spenglerschen Prognose eines zwangsläufigen Einmündens jeder Kultur in die zivilisatorische Spätphase, die sich heute sozusagen für die ganze Menschheit als globale Realität erweist, ermöglicht Webers Differenzierung die Wahrnehmung von Spielräumen und Alternativen. Michael Landmann hat im Anschluss an diese Sichtweise darauf hin gewiesen, dass „auch archaische Motive Großes bewirken“ können. „Das Bestreben, sich sozial abzuheben und zu konsolidieren, beflügelt die Produktivität zu einer phantasievollen Formenfülle.“ Was vor dem Richtstuhl der universellen Vernunft partikulare Idiosynkrasie ist, „das ist andersherum besehen etwas eminent Positives, es sind die `Symbole´der Kultur." Mit der Etablierung der uniformen Weltgesellschaft bleibt das Symbole hervortreibende Motiv nicht unangefochten.

„Der ganze schöpferische Impuls geht jetzt nicht mehr auf das besondere, sich unterscheidende, sondern auf das, was von allen verstanden, bejaht und gelebt werden kann. Man bedarf anderer Denkmittel, Verhaltensweisen und Objektivationen als bisher. Damit eröffnet sich zwar eine neue Richtung und Dimension der Produktivität; dasjenige aber, was nur im engeren Kreis gedieh, muss sich, sobald die planetare Ebene erreicht ist, zurückbilden“ (ebd., 206).

Das Unendliche bricht in das Endliche, unsere Projekte treiben das Abenteuer Menschheit voran. Aber auch die topischen Gewächse der Lokalkultur hören nicht auf zu wuchern. Auf den verkalkten Korallenbänken, die der Zivilisationsprozess zurücklässt, siedeln sich neue Kulturkolonien an. Auch für Landmann schienen die „Aussichten für Mannigfaltigkeit“ (ebd.) nicht eben günstig zu stehen, aber neben der Möglichkeit zur Differenzierung im Binnenraum der Kulturen zog er auch in Betracht, dass, „wenn die Menschheit nicht zu früh in der einmal gefundenen Form erstarrt, die Vereinheitlichung der Welt nur eine Übergangsphase“ sein wird. Wenn wir das „Spengler-Toynbeesche Schema der Hochkulturen“ hinter uns lassen, dann könnte es denkbar sein, dass die überkontinentale Weltzivilisation nur der „Ausgangspunkt für eine neue Lebensstufe der Menschheit sein“ wird, „die sich dann wieder ebenso in Typen und Unterarten zerlegen würde, wie bisher die Hochkulturen es taten“ (ebd., 207).

Es geht nicht darum, Fukuyamas Apologetik des liberalen Endzustandes dieser Welt einfach durch Huntingtons Kulturkampszenario zu ersetzen. Die gegenwärtigen Kulturwissenschaften haben offenbar erhebliche Schwierigkeiten, das komplexe Verhältnis von Lokalkultur und universalem Zivilisationsprozess angemessen zu konzeptionalisieren und in seiner politischen Dimension zu erfassen. Selbst wenn wir beispielsweise der Annahme folgen, dass die Nation der Aufgabe, „der totalen Entortung eines in der Noosphäre sich entfaltenden raumlosen Universalismus“ Einhalt zu gebieten, nicht gewachsen ist und nicht mehr imstande ist, den „Zusammenhang von Ordnung und Ortung“ zu stiften, bleibt die Frage unbeantwortet, welche politische und organisatorische Einheit nicht nur den „Erfordernissen einer globalen Rationalität“ entspricht, sondern auch „ihre Wurzeln in die Tiefenschichten von Menschheit und Erde“ (Sombart 1965, 65) versenken kann. Diese Bewusstwerdung und Anerkennung eines qualitativen Moments bleibt unabweisbare Notwendigkeit, wenn sich in Georgien und der Kaukasusregion eine sowohl stabile als auch auf Entwicklung basierende Friedensordnung etablieren soll. Was hält nun die Pole in einer produktiven Spannung? Die Antwort mag eigentümlich ästhetizistisch klingen. Es ist die Phantasie! Sie ist „ganz eigentlich das elementare Sozialorgan“ (Gehlen 2004, 319). Die Einbildungskraft umgreift nach hinten das Gedächtnis und nach vorn den Entwurf. Tradition bzw. Gewohnheit und Kreativität sind zwei Seiten des selben Prozesses. Die kulturellen Traditionen bilden sich gleichsam im Rücken des vorwärts schreitenden Menschen. Es ist gerade die menschliche Subjektivität, welche die Pluralität der Kulturen begründet. Guram Ramischwili, der georgische Sprachanthropologe, hat in der Nachfolge Tamas Buatschidzes und Wilhelm von Humboldts aus den Subjektqualitäten, die den Menschen charakterisieren, die Pluralität der „Möglichkeiten, [...] seine schöpferischen Fähigkeiten voll zu entfalten“, abgeleitet. „Damit läßt sich die Verschiedenheit der Sprachen und der Kulturen überhaupt erklären“ Ramischwili, 1988/89, 198) Ramischwili, der den Menschen mit Ernst Cassirer als „animal symbolicum“ (4) bezeichnet, sieht vor allem in der Sprache den wesentlichen Faktor, der die „kulturelle Differenzierung der Menschheit“ (Ramischwili, ebd., 183) vorangetrieben hat. Er unterschied sehr deutlich die mit einer urbanistisch-industriellen Lebensweise verbundene Universalisierung der Intelligenz und der kommunikativen Funktionen von der Ausdrucksdimension der Sprache, die überhaupt erst Geschichte und Tradition begründet (ebd., 186ff.). Sie läßt sich nicht auf sinnlich-vitale oder utilitaristische Momente reduzieren. Die Kultur ist in gewisser Weise ein Ausdruck der Natur im Menschen. Sie ist das Medium, in dem Inneres seinen geistigen Ausdruck findet. Ramischwili schließt sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich der deutschen Unterscheidung von Kultur und Zivilisation an (ebd., 257) . Dabei handelt es sich keineswegs nur um eine deutsche Marotte. Selbst in Frankreich, dem Land, in dem Kultur mit „civilisation“ nahezu identisch gesetzt wurde, hat die Unterscheidung vor allem durch den Einfluss des Husserlschülers Gaston Berger Einzug gehalten. Diese Differenzierung ist zu einer der kategorialen Grundvoraussetzungen des Daseins- und Weltverständnisses in der globalen Ära geworden“ (Sombart, ebd., 98, Fßn. 19).

Alfred Webers Unterscheidungen, kulturanthropologisch begründet, liefern insofern auch ein anderes Bild der Moderne als es die Sozial- und Kulturwissenschaften gemeinhin entwerfen. Nahezu die meisten Sozialtheoretiker, von Auguste Comte bis Konstantin Megrelidze, Talcott Parsons, Jean Piaget und Norbert Elias, waren Zivilisationstheoretiker. Sie hoben den frei gestaltbaren, d.h. den bewussten Anteil der Sozialbildungen hervor. Selbst unsere heutigen Konstruktivisten und Dekonstruktivisten stehen, auch wenn ihnen die emanzipatorischen Ziele abhanden gekommen sind, in dieser poietischen Tradition. Der sozialhistorische Prozess wird in dieser Perspektive als Weg der „Bewusstseinsstufen und Denkergreifungen des Daseins“ (Weber 1955, 340) verstanden, der in seiner „allermodernsten [...], schlechthin so gut wie alle Teile der Menschheit umfassenden Bewusstseinsstufe, [...], eine vor allem aus der letzten kommunikativen verbindenden Stufe der Technik im Zusammenhang mit den unerhörten bewusstseinsaufhellenden Erfahrungen der Weltkriege hervorgegangenen, ganz universelle Menschheitsstufe“ (ebd., 341) darstellt. Wer wollte die fruchtbaren Impulse dieser Betrachtungsweise ernsthaft bestreiten. Hatte nicht auch Konstantin Megrelidze in seiner „Sozialen Phänomenologie der Gedanken“ dieses Forschungsprogramm entfaltet? 1936 formulierte er in einem Brief an Nikolai Bucharin dieses Anliegen folgendermaßen: „Das Grundthema aller meiner weiteren Arbeiten betrifft die Fragen der Geschichte des stadialen Denkens auf der Grundlage der Materialien der Sprache der Religion und der Materiellen Kultur“ (Friedrich 1993, 67). War mit der akribischen Erforschung des Bewusstseinsferments im Sozialprozess nicht auch bei Megrelidze die Hoffnung auf Planbarkeit und Beherrschung der georgischen Sozialbildungen verbunden gewesen? Von Condorcets „Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes“ bis Teilhard de Chardins großartigen Entwürfen zur Noogenese wird in dieser Art der „Menschenwissenschaft“ (Norbert Elias) der Zivilisationsprozess als emanzipatorischer Bewusstseinsprozess, als „Pfeil des Humanen“ (Portmann 1960) präsentiert. Im Sinne der deutschen Kulturanthropologie ist damit allerdings ein Verständnis des Sozialen im Allgemeinen und der Moderne im Besonderen nur zur Hälfte gewonnen. Was wäre der aufklärerische Universalismus ohne seine romantische Gegenbewegung, die das Primat der lokalen „Kulturbewegung“ entdeckte? Was wären Condorcet und Turgot ohne Herder und Ranke? Kultur als „seelisch-geistige Ausdrucksform in der Lebenssubstanz oder seelisch-geistige Haltung ihr gegenüber“ (Weber 1959, 287) beschreibt mindest so sehr eine legitime Perspektive wie die der Zivilisationstheoretiker. Moderne kann immer nur als jeweilige „Neukonstellation“ (ebd., 288) der beiden Prozesse in einem konkreten „Geschichtskörper“ (ebd., 287) beschrieben werden. Insofern erleben wir heute nicht die erste und wohl kaum die einzig universale Moderne. Bereits die gegenwärtig heranwachsende Generation mit ihrem lautstarken Anspruch auf einen spezifischen Lebensausdruck lässt uns gegenwärtig Moderne alt aussehen. Im Rahmen der Weltgesellschaft brechen an vielen Orten neue Artikulationen des Lokalkulturellen auf. Umso universalistischer sich unsere metropolitanen Eliten gebärden, desto mehr partikulare Fundamentalismen rufen sie auf den Plan. Moderne Individualisierung und Multioptionalität stärken – scheinbar paradox – die Macht der Herkunft. Die Moderne erweist sich im Rahmen der kulturanthropologischen Konstellationsanalyse als dauerhaft unvollendbares Projekt. Das enthebt uns nicht der Aufgabe, nach fruchtbareren Verbindungen von Lokalkultur und Weltgesellschaft zu suchen. Gedächtnis und Entwurf, Tradition und Projekt, Kultur und Zivilisation bleiben auch weiterhin aufeinander verwiesen. Wenn die Phantasie das eigentliche „Sozialorgan“ ist, dann setzt eine angemessene Theorie der Moderne eine Anthropologie der Phantasie voraus. Die menschliche Phantasie ist die anthropologische Ursache für die Unvollendbarkeit, d.h. den utopischen Charakter der Weltgesellschaft, aber auch für die dauerhafte Selbstüberschreitung unserer topischen Kulturbildungen. Liegt mit dieser kulturanthropologischen Sicht auf die Moderne nicht ein philosophisch-wissenschaftliches Projekt vor, wie es Wascha-Pschawela bereits moralisch-poetisch in „Kosmopolitismus und Patriotismus“ formuliert hatte?

„Patriotismus ist eher eine Sache des Gefühls als des Verstandes, aber die Vernunft ist immer sein Verehrer und Bewunderer gewesen. Kosmopolitismus ist nur eine Sache der Klugheit, der Menschenvernunft – er hat mit dem Menschenherzen nichts zu tun, er ist eine Hervorbringung, um das Unglück zu beseitigen, dass bis heute über der Erde schwebt.“

1. Diesem Artikel liegt ein Vortrag zugrunde, den der Autor am 15. März 2010 in der Ilia-Tschawtschawadse-Nationalbibliothek des Georgischen Parlaments gehalten hat.
2. Antoine Arnauld, der Philosoph, Linguist, Theologe, Logiker und Mathematiker, vermittelte zwischen Nicolas Boileaux-Despréaux und Charles Perrault, der durch sein Gedicht „Le siècle de Louis le Grand“ den Streit ausgelöst hatte. Arnauld gelang es, Perrault zu einem versöhnlichen Brief an seinen Widersacher zu bewegen, der dazu führte, dass die beiden mit einer öffentlichen Umarmung in der Académie française ihren Streit beendeten.
3. Diese griffige Formel verdankt der Autor dem Hamburger Soziologen und Tönniesforscher Prof. Alexander Deichsel.
4. So in Ernst Cassirers im US-amerikanischen Exil entstandener Synopse „Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der menschlichen Kultur“. Diese Monographie ist 1983 in einer von Lamara Ramischwili besorgten georgischen Übersetzung im Ganetleba Verlag in Tbilissi erschienen.

Literatur:
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