Freitag, 12. August 2011

Sozialdemokraten, schaut auf dieses Land!


Gedanken anlässlich eines Kommentars von Günter Verheugen


von Dr. Frank Tremmel




In Paraphrase auf den legendären Höhepunkt von Ernst Reuters Rede am 9. September 1948, in der er – während der Blockade Westberlins – die Westallierten in bewegenden Worten beschwor, die Stadt nicht preiszugeben, hat Günter Verheugen (SPD) uns Europäer in einem Gastkommentar für „Welt Online“ (12.08.2011) ermahnt, Georgien nicht einer kurzsichtigen „Realpolitik“ zu opfern. Damit kehrt Verheugen zu einer guten Tradition sozialdemokratischer Europapolitik zurück, die sich nicht vom geopolitischen Halbwissen Helmut Schmidts leiten lässt, der in einem Interview mit dem Journalisten Giovanni di Lorenzo “ ("Zeit-Magazin" 41/2008, S. 54) Georgien 2008 kurzerhand zu einem „Teil Asiens“ erklärte und so dem russischen Einflussbereich zusprach. Der Altkanzler, der gerne mangelnde historische Kenntnisse der jüngeren Generation beklagt, wäre gut beraten gewesen, einmal einen Blick in die Annalen seiner eigenen Partei zu werfen. Dort hätte er in den Beschlüssen des Görlitzer Parteitags der SPD 1921 die allerschärfste Verurteilung des kurz zuvor stattgefundenen brutalen Überfalls Sowjetrusslands auf die Demokratische Republik Georgien finden können. Auch die Lektüre der letzten beiden Kapitel von Karl Kautskys „Georgien. Eine sozialdemokratische Bauernrepublik“ (1921) hätte einen Einblick in bestimmte Grundlinien russischer Politik liefern können. Sozialdemokraten und ihren Gegnern, denen der Unterrschied zwischen imperialem Staatsdespotismus und Demokratischem Sozialismus nicht mehr recht geläufig ist, seien neben Kautskys Eindrücken und Beobachtungen zudem die Berichte Niko Imnaischwilis in den Sozialistischen Monatsheften aus den Jahren 1929 und 1931 empfohlen (s.u.). Ein dadurch eventuell ausgelöstes Déjà-vu haben Helmut Schmidt, Gerhard Schröder (der in dieser Hinsicht eine noch unrühmlichere Rolle spielte) und andere Sozialdemokraten sich geflissentlich erspart. Selbst Gesine Schwan, die ich aufgrund ihres couragierten Engagements für Bürgerrechte in Osteuropa und unserer gemeinsamen Wertschätzung der Freiheitsphilosophie Leszek Kolakowskis 2008 um eine Stellungnahme zu den damaligen Ereignissen bat, konnte sich zu keiner Urteilsbildung durchringen. Sie begründete damals ihre Zurückhaltung mit Zeitmangel und einer gewissen Skepsis gegenüber der moralischen Integrität des georgischen Präsidenten. Nun hatte ich Frau Schwan nicht aufgefordert, Michail Saakaschwili einen politischen Blankoscheck auszustellen, sondern sich angesichts der russischen Militärintervention für die nationale Integrität Georgiens einzusetzen. Es entbehrt nicht einer gewissen Paradoxie, dass sich Sozialdemokraten bis heute mit berechtigter Kritik an der neoliberalen Wirtschafts- , Sozial- und Bildungspolitik der georgischen Regierung zurückhalten, stattdessen aber ihr Hauptaugenmerk auf die Gefahren eines vermeintlichen georgischen Nationalismus legen. Der Zusammenhang von nationaler Unabhängigkeit, liberalen Freiheitsrechten und sozialer Frage wurde von Sozialdemokraten schon gehaltvoller reflektiert als in unseren Tagen. Auch in praktisch-politischer Hinsicht wäre ein Blick in die Geschichte hilfreich gewesen. Die Restitution des georgischen Nationalstaates war bereits in der Zeit der Demokratischen Republik Georgien (1918-1921), des weltweit ersten von Sozialdemokraten regierten Staates, ein mehr als schwieriges Unterfangen. Es gibt für die deutsche Sozialdemokratie gute Gründe, die Erfahrungen dieser Zeit sorgfältig zu beherzigen, sowohl was den Umgang mit dem russischen Imperialismus und Despotismus anbelangt als auch in Fragen der Solidarität mit den osteuropäischen Nationen und deren jungen Demokratien. In einem Artikel aus dem Jahre 1920 bezeichnete Kautsky Georgien immerhin sogar als ein Modell für „ganz Osteuropa und den Orient“. Gerade die Erfahrungen der damaligen georgischen Sozialdemokratie könnten wesentlich zu einer Überwindung unserer Westeuropazentrierung beitragen, ohne den okzidentalen Humanismus preiszugeben.


George Kennans Diktum aus späteren Zeiten, wonach Russland an seinen Grenzen nur Feinde oder Vasallen, aber keine Freunde besitzt, war für die Sozialdemokraten der 1920er Jahre eine schmerzhafte Erfahrung, die auch ihr Verhältnis zum Sowjetkommunismus bestimmte. Es handelt sich dabei also nicht um eine Lehre aus der Zeit des Kalten Krieges, sondern um ältere historische Einsichten in den Charakter des russischen Despotismus und Imperialismus, die heute gerne einer vergangenen Epoche der Geschichte zugeordnet werden. Nicht allein die russische Kaukasuspolitik und die andauernde Unterstützung Russlands für das Regime der Baath Partei in Syrien, das gegenwärtig tausende von Menschen niedermetzeln lässt, stellen jedoch die Aktualität dieser Beurteilung unter Beweis. Es bedarf keines Rückgriffs auf den Marquis de Custine, ein Blick in den von David B. Rjasanov bearbeiteten und in der MEW Ausgabe lange Zeit unterschlagene Marxtext „Die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts“ zeigt, das sich auch in der westeuropäischen Arbeiterbewegung sehr früh ein klares Verständnis des asiatischen Despotismus ausgebildet hat. In dieser Hinsicht steht die Sozialdemokratie in der Tradition der 1848er Revolution. Es gibt keinen Grund, diese Einsichten einer romantischen Russophilie zu opfern, die zudem mit Schuldgefühlen spielt, zu denen weder die deutsche noch die internationale Sozialdemokratie Anlass hat. Der Sozialdemokratie, zumal der georgischen, kann wahrhaftig nicht vorgeworfen werden, dass sie sich aus nationalistischen Motiven an den Bemühungen um eine Demokratisierung des Russischen Imperiums nicht beteiligt hätte. Erst spät entschloss sie sich überhaupt, ein nationales Projekt zu unterstützen. Das Scheitern dieses Projektes hat seine Ursachen, neben dieser Unentschlossenheit, u.a. auch in der mangelnden Unterstützung Georgiens durch die europäischen Mächte, die nach der Niederlage Deutschlands 1918 ihr Hauptaugenmerk auf eine Neuverteilung ihrer Einflusssphären richteten. Eine gemeinsame europäische Politik lag in weiter Ferne. Der Kampf der georgischen Regierung um eine Konsolidierung der territorialen Integrität war übrigens bereits damals von ähnlich „wohlmeinenden“ Ratschlägen und Ermahnungen begleitet wie heute. Sogenannte Minderheitenkonflikte, die von der russischen Politik seit jeher für ihre Ziele in der Kaukasusregion geschürt werden, und direkte Militärinterventionen durch die sowjetischen Streitkräfte (1920) begleiteten die kurze Existenz der Demokratischen Republik Georgien. Die Niederschlagung dieser irredentistischen Bestrebungen durch die georgische Regierung erregte ebenso wie heute mehr kritische Aufmerksamkeit als die enormen sozial- und kulturpolitischen Fortschritte, die in dieser kurzen Zeit trotz aller Herausforderungen realisiert wurden.


Ähnlich gebrochen ist auch unser gegenwärtiges Verhältnis zum georgischen Projekt eines europäisch orientierten Nationalstaates. Angesichts der historischen Erfahrungen kann insbesondere die Haltung der deutschen Sozialdemokratie in dieser Frage mehr als zögerlich genannt werden. Die zweifellos notwendige Kritik an der georgischen Politik darf nicht dazu führen, dass wir die von Günter Verheugen beschriebene Gefahr für Georgien ignorieren, die in erster Linie daraus entsteht, dass Russland die territoriale Integrität Georgiens nicht anerkennt und die von dem französischen Präsidenten im Namen der EU ausgehandelten Bedingungen des Waffenstillstandes nicht einhält. Verheugen benennt sehr deutlich die Kontinuität der russischen Kaukasuspolitik, aber zurecht auch die anhaltende europäische Konzeptionslosigkeit und den mangelnden politischen Handlungswillen:


„Das Interesse Russlands ist eindeutig: Moskau will die volle Kontrolle über die Kaukasusregion, und darum soll die Integration Georgiens in die atlantischen und europäischen Strukturen, also Nato und EU, gebremst werden. Mit dieser Politik ist Moskau bislang erfolgreich - weil wir wegschauen. Das ist ein klassisches Lehrstück in (falsch verstandener) Realpolitik. Offenbar geht es um eine Güterabwägung zwischen unseren Beziehungen zum großen Russland und jenen zum kleinen Georgien. Georgien aber ist keine abhängige Variable des jeweiligen Standes der Beziehungen zu Russland. Deshalb muss die Engstirnigkeit dieser Güterabwägung dringend überwunden werden. Es zahlt sich auf Dauer niemals aus, sich mit Machtverhältnissen zu arrangieren, die auf Unrecht gegründet sind - siehe das Debakel der westlichen Politik im nördlichen Afrika.“


Die von Verheugen – neben der Anerkennung der territorialen Integrität – eingeklagte „europäische Perspektive“ für Georgien verweist auf das Problem, dass wir das europäische Projekt immer noch einseitig aus der Sicht der westeuropäischen Nationalstaaten betrachten. Die Perspektive der westlichen Arbeiterbewegung war die des klassischen Nationalstaats auf dem Wege zum demokratischen Wohlfahrtsstaat. Obzwar bereits das Scheitern der internationalistischen Friedensbemühungen angesichts des 1. Weltkrieges, die russische Revolution von 1917, der Ost-West-Konflikt und die Entkolonialisierung nach 1945 ein Umdenken dringend werden ließen, war der im Enstehen begriffene existentielle globale Erfahrungsraum noch kein Gegenstand grundsätzlicher Reflexionen. Diesbezüglich sind die deutschen Verhältnisse übrigens bis heute unglaublich provinziell und selbstbezogen geblieben. Die Umbrüche seit 1989 und der aktuelle Aufbruch im Vorderen Orient berühren die Befindlichkeit des deutschen Michels nur insoweit wie sie ein Ende der Gemütlichkeit versprechen. Allein die unsägliche Diskussion über das „alte“ und das „neue Europa“ und die gebannte Fokussierung auf die befürchteten Flüchtlingsströme aus Nordafrika machen deutlich, dass hierzulande auch in sozialdemokratischen Kreisen wohl eher liebgewonnene Gewohnheiten und Besitzstände bewahrt als internationale Solidarität erneuert werden sollen. Eine sozialdemokratische Europapolitik muss Europa als Region im Sinne des berühmten Artikels 52 der Charta der Vereinten Nationen verstehen, d.h. als globalgeschichtlichen Raum, der eine Weltkulturpolitik der friedlichen Koexistenz mit anderen Räumen erforderlich macht. Auch diesbezüglich findet Verheugen die angemessenen Worte:


„Und natürlich gehört Georgien auf die Agenda des Dialogs zwischen der EU und Russland - als Ausdruck des Engagements der EU für die Stabilität der Kaukasusregion. Der Kaukasus braucht keine externen Schutzmächte, sondern die Befriedung seiner Völker. Sonst werden sich die Wunden nicht schließen. Wenn die EU ihrem Anspruch, ein ernst zu nehmender Akteur und Stabilitätsgarant zu sein, gerecht werden will, dann eröffnet sich für sie im Fall Georgiens ein wichtiges Betätigungsfeld.“


Allein nur die von Verheugen geforderte Erhöhung der politischen und wirtschaftlichen Präsenz der EU in Georgien und die Unterstützung der georgischen Reformanstrengungen reichen dafür allerdings nicht aus. Ein Europa, das sich primär ökonomisch definiert, fällt angesichts der aktuellen Herausforderungen ins 19. Jahrhundert zurück. Die deutliche Selbstbehauptung gegenüber Russland muss von der Einsicht begleitet werden, dass die von Europa ausgehende Weltindustriezivilisation globale Problemlagen erzeugt hat, auf die wir nun kulturpolitische Antworten geben müssen. Kulturpolitik meint im Sinne Waldemar von Knoeringens eine umfassende Gesellschaftspolitik, die auf Humanisierung abzielt. Darin läge auch eine Chance, das Erbe der Sozialdemokratie zu erneuern.




Günter Verheugen (SPD) war von 1999-2004 EU-Kommissar für Erweiterung, bis 2009 Kommissar für Unternehmen und Industrie. Seit 2010 ist er Honorarprofessor für „Europäisches Regieren” an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).


Siehe auch:


Die georgische Frage / Niko Imnaischwili. - [Electronic ed.].
In: Sozialistische Monatshefte. - 35(1929), H. 7, Ausg. vom 15.07. 1929, S. 592 - 601.
http://library.fes.de/cgi-bin/somo_mktiff.pl?year=1929&pdfs=1929_0592x1929_0593x1929_0594x1929_0595x1929_0596x1929_0597x1929_0598x1929_0599x1929_0600x1929_0601&verz=1929/1929-07-15


In und um Georgien / Niko Imnaischwili. - [Electronic ed.].
In: Sozialistische Monatshefte. - 37(1931), H. 2, Ausg. vom 16.02. 1931, S. 133 – 138.
http://library.fes.de/cgi-bin/somo_mktiff.pl?year=1931&pdfs=1931_0133x1931_0134x1931_0135x1931_0136x1931_0137x1931_0138&verz=1931/1931-02-16




Sehr empfehlenswert als Übersichtsdarstellung:


Jones, Stephen F.: Socialism in Georgian Colors. The European Road to Social Democracy 1883-1917, Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts/London, England 2005.




Foto: Karl Kautsky (1854-1938), Quelle, ID ggbain.30969 in der Abteilung für Drucke und Fotografien, George Grantham Bain Collection der US-amerikanischen Library of Congress, PD-US.


Scan des Buchtitels von Karl Kautsky "Georgien. Eine sozialdemokratische Bauernrepublik", Quelle: http://www.zintzen.org/wp-content/uploads/2008/08/karl-kautsky-georgien-1921.jpg

1 Kommentar:

  1. Vielen Dank für diesen analytischen Artikel aus sozialdemoktatischer Perspektive! Und, wie aktuell, da im Wesentlichen auf die Situation in der Ukraine im Jahr 2014 übertragbar!

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