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Gedanken anlässlich eines Kommentars von Günter Verheugen
von Dr. Frank Tremmel
In Paraphrase auf den legendären Höhepunkt von Ernst Reuters Rede am 9. September 1948, in der er – während der Blockade Westberlins – die Westallierten in bewegenden Worten beschwor, die Stadt nicht preiszugeben, hat Günter Verheugen (SPD) uns Europäer in einem Gastkommentar für „Welt Online“ (12.08.2011) ermahnt, Georgien nicht einer kurzsichtigen „Realpolitik“ zu opfern. Damit kehrt Verheugen zu einer guten Tradition sozialdemokratischer Europapolitik zurück, die sich nicht vom geopolitischen Halbwissen Helmut Schmidts leiten lässt, der in einem Interview mit dem Journalisten Giovanni di Lorenzo “ ("Zeit-Magazin" 41/2008, S. 54) Georgien 2008 kurzerhand zu einem „Teil Asiens“ erklärte und so dem russischen Einflussbereich zusprach. Der Altkanzler, der gerne mangelnde historische Kenntnisse der jüngeren Generation beklagt, wäre gut beraten gewesen, einmal einen Blick in die Annalen seiner eigenen Partei zu werfen. Dort hätte er in den Beschlüssen des Görlitzer Parteitags der SPD 1921 die allerschärfste Verurteilung des kurz zuvor stattgefundenen brutalen Überfalls Sowjetrusslands auf die Demokratische Republik Georgien finden können.
George Kennans Diktum aus späteren Zeiten, wonach Russland an seinen Grenzen nur Feinde oder Vasallen, aber keine Freunde besitzt, war für die Sozialdemokraten der 1920er Jahre eine schmerzhafte Erfahrung, die auch ihr Verhältnis zum Sowjetkommunismus bestimmte. Es handelt sich dabei also nicht um eine Lehre aus der Zeit des Kalten Krieges, sondern um ältere historische Einsichten in den Charakter des russischen Despotismus und Imperialismus, die heute gerne einer vergangenen Epoche der Geschichte zugeordnet werden. Nicht allein die russische Kaukasuspolitik und die andauernde Unterstützung Russlands für das Regime der Baath Partei in Syrien, das gegenwärtig tausende von Menschen niedermetzeln lässt, stellen jedoch die Aktualität dieser Beurteilung unter Beweis. Es bedarf keines Rückgriffs auf den Marquis de Custine, ein Blick in den von David B. Rjasanov bearbeiteten und in der MEW Ausgabe lange Zeit unterschlagene Marxtext „Die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts“ zeigt, das sich auch in der westeuropäischen Arbeiterbewegung sehr früh ein klares Verständnis des asiatischen Despotismus ausgebildet hat. In dieser Hinsicht steht die Sozialdemokratie in der Tradition der 1848er Revolution. Es gibt keinen Grund, diese Einsichten einer romantischen Russophilie zu opfern, die zudem mit Schuldgefühlen spielt, zu denen weder die deutsche noch die internationale Sozialdemokratie Anlass hat. Der Sozialdemokratie, zumal der georgischen, kann wahrhaftig nicht vorgeworfen werden, dass sie sich aus nationalistischen Motiven an den Bemühungen um eine Demokratisierung des Russischen Imperiums nicht beteiligt hätte. Erst spät entschloss sie sich überhaupt, ein nationales Projekt zu unterstützen. Das Scheitern dieses Projektes hat seine Ursachen, neben dieser Unentschlossenheit, u.a. auch in der mangelnden Unterstützung Georgiens durch die europäischen Mächte, die nach der Niederlage Deutschlands 1918 ihr Hauptaugenmerk auf eine Neuverteilung ihrer Einflusssphären richteten. Eine gemeinsame europäische Politik lag in weiter Ferne. Der Kampf der georgischen Regierung um eine Konsolidierung der territorialen Integrität war übrigens bereits damals von ähnlich „wohlmeinenden“ Ratschlägen und Ermahnungen begleitet wie heute. Sogenannte Minderheitenkonflikte, die von der russischen Politik seit jeher für ihre Ziele in der Kaukasusregion geschürt werden, und direkte Militärinterventionen durch die sowjetischen Streitkräfte (1920) begleiteten die kurze Existenz der Demokratischen Republik Georgien. Die Niederschlagung dieser irredentistischen Bestrebungen durch die georgische Regierung erregte ebenso wie heute mehr kritische Aufmerksamkeit als die enormen sozial- und kulturpolitischen Fortschritte, die in dieser kurzen Zeit trotz aller Herausforderungen realisiert wurden.
Ähnlich gebrochen ist auch unser gegenwärtiges Verhältnis zum georgischen Projekt eines europäisch orientierten Nationalstaates. Angesichts der historischen Erfahrungen kann insbesondere die Haltung der deutschen Sozialdemokratie in dieser Frage mehr als zögerlich genannt werden. Die zweifellos notwendige Kritik an der georgischen Politik darf nicht dazu führen, dass wir die von Günter Verheugen beschriebene Gefahr für Georgien ignorieren, die in erster Linie daraus entsteht, dass Russland die territoriale Integrität Georgiens nicht anerkennt und die von dem französischen Präsidenten im Namen der EU ausgehandelten Bedingungen des Waffenstillstandes nicht einhält. Verheugen benennt sehr deutlich die Kontinuität der russischen Kaukasuspolitik, aber zurecht auch die anhaltende europäische Konzeptionslosigkeit und den mangelnden politischen Handlungswillen:
„Das Interesse Russlands ist eindeutig: Moskau will die volle Kontrolle über die Kaukasusregion, und darum soll die Integration Georgiens in die atlantischen und europäischen Strukturen, also Nato und EU, gebremst werden. Mit dieser Politik ist Moskau bislang erfolgreich - weil wir wegschauen. Das ist ein klassisches Lehrstück in (falsch verstandener) Realpolitik. Offenbar geht es um eine Güterabwägung zwischen unseren Beziehungen zum großen Russland und jenen zum kleinen Georgien. Georgien aber ist keine abhängige Variable des jeweiligen Standes der Beziehungen zu Russland. Deshalb muss die Engstirnigkeit dieser Güterabwägung dringend überwunden werden. Es zahlt sich auf Dauer niemals aus, sich mit Machtverhältnissen zu arrangieren, die auf Unrecht gegründet sind - siehe das Debakel der westlichen Politik im nördlichen Afrika.“
Die von Verheugen – neben der Anerkennung der territorialen Integrität – eingeklagte „europäische Perspektive“ für Georgien verweist auf das Problem, dass wir das europäische Projekt immer noch einseitig aus der Sicht der westeuropäischen Nationalstaaten betrachten. Die Perspektive der westlichen Arbeiterbewegung war die des klassischen Nationalstaats auf dem Wege zum demokratischen Wohlfahrtsstaat. Obzwar bereits das Scheitern der internationalistischen Friedensbemühungen angesichts des 1. Weltkrieges, die russische Revolution von 1917, der Ost-West-Konflikt und die Entkolonialisierung nach 1945 ein Umdenken dringend werden ließen, war der im Enstehen begriffene existentielle globale Erfahrungsraum noch kein Gegenstand grundsätzlicher Reflexionen. Diesbezüglich sind die deutschen Verhältnisse übrigens bis heute unglaublich provinziell und selbstbezogen geblieben. Die Umbrüche seit 1989 und der aktuelle Aufbruch im Vorderen Orient berühren die Befindlichkeit des deutschen Michels nur insoweit wie sie ein Ende der Gemütlichkeit versprechen. Allein die unsägliche Diskussion über das „alte“ und das „neue Europa“ und die gebannte Fokussierung auf die befürchteten Flüchtlingsströme aus Nordafrika machen deutlich, dass hierzulande auch in sozialdemokratischen Kreisen wohl eher liebgewonnene Gewohnheiten und Besitzstände bewahrt als internationale Solidarität erneuert werden sollen. Eine sozialdemokratische Europapolitik muss Europa als Region im Sinne des berühmten Artikels 52 der Charta der Vereinten Nationen verstehen, d.h. als globalgeschichtlichen Raum, der eine Weltkulturpolitik der friedlichen Koexistenz mit anderen Räumen erforderlich macht. Auch diesbezüglich findet Verheugen die angemessenen Worte:
„Und natürlich gehört Georgien auf die Agenda des Dialogs zwischen der EU und Russland - als Ausdruck des Engagements der EU für die Stabilität der Kaukasusregion. Der Kaukasus braucht keine externen Schutzmächte, sondern die Befriedung seiner Völker. Sonst werden sich die Wunden nicht schließen. Wenn die EU ihrem Anspruch, ein ernst zu nehmender Akteur und Stabilitätsgarant zu sein, gerecht werden will, dann eröffnet sich für sie im Fall Georgiens ein wichtiges Betätigungsfeld.“
Allein nur die von Verheugen geforderte Erhöhung der politischen und wirtschaftlichen Präsenz der EU in Georgien und die Unterstützung der georgischen Reformanstrengungen reichen dafür allerdings nicht aus. Ein Europa, das sich primär ökonomisch definiert, fällt angesichts der aktuellen Herausforderungen ins 19. Jahrhundert zurück. Die deutliche Selbstbehauptung gegenüber Russland muss von der Einsicht begleitet werden, dass die von Europa ausgehende Weltindustriezivilisation globale Problemlagen erzeugt hat, auf die wir nun kulturpolitische Antworten geben müssen. Kulturpolitik meint im Sinne Waldemar von Knoeringens eine umfassende Gesellschaftspolitik, die auf Humanisierung abzielt. Darin läge auch eine Chance, das Erbe der Sozialdemokratie zu erneuern.
Günter Verheugen (SPD) war von 1999-2004 EU-Kommissar für Erweiterung, bis 2009 Kommissar für Unternehmen und Industrie. Seit 2010 ist er Honorarprofessor für „Europäisches Regieren” an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).
Siehe auch:
Die georgische Frage / Niko Imnaischwili. - [Electronic ed.].
In: Sozialistische Monatshefte. - 35(1929), H. 7, Ausg. vom 15.07. 1929, S. 592 - 601.
http://library.fes.de/cgi-bin/somo_mktiff.pl?year=1929&pdfs=1929_0592x1929_0593x1929_0594x1929_0595x1929_0596x1929_0597x1929_0598x1929_0599x1929_0600x1929_0601&verz=1929/1929-07-15
In und um Georgien / Niko Imnaischwili. - [Electronic ed.].
In: Sozialistische Monatshefte. - 37(1931), H. 2, Ausg. vom 16.02. 1931, S. 133 – 138.
http://library.fes.de/cgi-bin/somo_mktiff.pl?year=1931&pdfs=1931_0133x1931_0134x1931_0135x1931_0136x1931_0137x1931_0138&verz=1931/1931-02-16
Sehr empfehlenswert als Übersichtsdarstellung:
Jones, Stephen F.: Socialism in Georgian Colors. The European Road to Social Democracy 1883-1917, Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts/London, England 2005.
Foto: Karl Kautsky (1854-1938), Quelle, ID ggbain.30969 in der Abteilung für Drucke und Fotografien, George Grantham Bain Collection der US-amerikanischen Library of Congress, PD-US.
Scan des Buchtitels von Karl Kautsky "Georgien. Eine sozialdemokratische Bauernrepublik", Quelle: http://www.zintzen.org/wp-content/uploads/2008/08/karl-kautsky-georgien-1921.jpg
Vielen Dank für diesen analytischen Artikel aus sozialdemoktatischer Perspektive! Und, wie aktuell, da im Wesentlichen auf die Situation in der Ukraine im Jahr 2014 übertragbar!
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