Samstag, 3. April 2010

Das erschöpfte Subjekt. Georgien und der lange „Abschied von der bisherigen Geschichte“

von Dr. phil. Frank Tremmel



April, 2010

Mitte März dieses Jahres erlebte Georgien zwei unterschiedliche Varianten eines Modells politischer Subjektivität, die das fragwürdige Erbe des 19. und 20. Jahrhunderts als mediale Inszenierungen aufleben ließen. In der Hauptnachrichtenzeit wurde der georgischen Bevölkerung im TV-Sender Imedi am Samstagabend das Ende ihrer Staatlichkeit, die Okkupation ihres Landes und der Tod ihres Präsidenten präsentiert. Der fiktionale Charakter des Geschehens war, offenbar intendiert, unzulänglich ausgewiesen worden. Die Folge war eine Massenpanik. Wenige Tage darauf erklärt Zaza Schatirischwili, einer der renommiertesten jüngeren georgischen Intellektuellen in einem Interview für Inter Press Service (IPS), nun in durchaus kritischer Absicht, ebenfalls das endgültige Ende Georgiens als politischem Subjekt. In seltsam einmütiger Anlehnung an die Theorie des Politischen bei Carl Schmitt sollten offenbar im ersten Fall die Subjektqualitäten der georgischen Nation durch eine Freund-Feind-Szenario im Ernstfall, dem Krieg, stimuliert werden, während im zweiten Fall dagegen nur noch larmoyant ein Leichnam obduziert wird, dem aber offenbar der Hirntod noch nicht bescheinigt werden kann. Im ersten Fall sollte in der verzweifelten Überspanntheit endgültiger Gewissheit eine Demarkationslinie zwischen den prorussischen von den westlichen Kräften deutlich werden; im zweiten Fall die Psychopathen des herrschenden Regimes inklusive der nicht weniger debilen Opposition von den Gesunden unterschieden werden. Die Nation konstituiert sich in jedem Fall über die Identifikation des Feindes. Die wohlig wärmende Gemeinschaft der rechtschaffenen Freunde, umgeben von morbiden Feinden, ist die Schwundstufe der geschichtsphilosophischen Selbstermächtigungsansprüche, wie sie das 18. und 19. Jahrhundert hervorbrachte. Die Nation als Subjekt legitimierte sich in diesen vergangenen heroischen Zeiten immerhin noch als Menschheitsrepräsentantin. Diesen Bezug auf die Erfordernisse der globalen Ära spart man sich mittlerweile. Das mäßigende, das domestizierende Moment in dieser Referenz ist dem Toben des Subjekts gegen seine Feinde abträglich. Selbst noch in der Kritik wird das Überspannte der gegenwärtigen Diskussionen über die Handlungsfähigkeit Georgiens im internationalen Zusammenhang deutlich. Armenien und Aserbeidschan müssen provokant bemüht werden, um den endgültigen Zusammenbruch heroischer Illusionen zu illustrieren. Hinter den spektakulären Selbstinszenierungen der neuen georgischen Intellektuellen verschiedenster Couleur, ihrer Macht und ihrer Ohnmacht, verschwinden die tatsächlich bestehenden äußeren Bedrohungen und die Erschöpfung eines Volkes, das zum Material nationaler Subjektformierungen nach den Maßen einer Möchtegernelite wird.

Die Tradition des heroischen Nationalismus hat sich auch in Georgien erschöpft. Die Bevölkerung ist in 20 Jahren pausenloser Rhetorik ermüdet. Jeder Versuch in diese Richtung bringt nur neue Formen des nationalen Nihilismus oder eines abstrakten NGO- Internationalismus hervor. Dieses Konzept scheitert vor allem an einem Phänomen, dass in den gegenwärtigen politischen Debatten und auch in den Kulturwissenschaften so gut wie nicht thematisiert wird. Wir werden auch in Georgien mit dystrophischen Prozessen konfrontiert, die durch das Pathos der Entschlossenheit nur oberflächlich kompensiert werden. Anstatt mit Übermobilisierung oder mit Zynismus zu reagieren, könnte es sich lohnen, das Okular präziser zu justieren, um damit auf die zugrundeliegenden Phänomene zu blicken. Insgesamt haben wir uns dabei das Diktum von Gottfried Benn hinter den Spiegel zu stecken: „Gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen.“(1) Dem Phänomen des erschöpften Subjekts, das uns das zurückliegende Jahrhundert hinterlassen hat, ist weder mit erneuten ideologischen Überspannungen noch mir sarkastischer Häme zu begegnen.

Der Hamburger Publizist Ernst Riggert schrieb bereits 1954 einen Artikel (2), in dem er den in den Gefangenenlagern des 1. Weltkrieges entstandenen Begriff des „grauen Vogels“ als Signum unserer Epoche auswies. Er bezeichnet eine tiefgreifende Psychose, die als Ergebnis langer Katastropheneinwirkungen, z.B. „Jahre voller Aussichtslosigkeit und Angst als Folgen von Krieg, Arbeitslosigkeit oder Invalidität“ (3), auftaucht, die Betroffenen seelisch und körperlich dauerhaft schädigt und selbst unter normalisierten Bedingungen immer wieder in Erscheinung tritt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die gleichen Symptome unter den Befund der „Dystrophie“ gefasst, der vor allem bei den Heimkehrern aus den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern konstatiert wurde. „Dystrophie, ein von russischen Ärzten eingeführter Begriff, ist eine Ernährungsmangelkrankheit, die auch die Seele ergreift und schwerste Schäden oft nach Jahren noch offenbart.“ (4) Riggert gibt der Bezeichnung jedoch einen umfassenderen Bedeutungsgehalt und rückt den psychiatrischen Befund in den Rang einer Kulturdiagnose. Die Dystrophie ist nicht lediglich Resultat der „offenen Katastrophen der letzten Jahrzehnte“, von „Totalitarismus und Krieg, Ausrottung und Vertreibung“, sondern „der allgemeinen technisch-zivilisatorischen Entwicklung.“ (5) Angesichts der heroischen Illusionen, die den Beginn des vergangenen Jahrhunderts kennzeichneten und in Anbetracht der postmodernen Dekompositionierungen an dessen Ende mag uns diese Analyse aus der dazwischen liegenden Zeit vielleicht recht spröde erscheinen. Vielleicht kommt sie dem Leser auch zu psychologistisch vor. Vielleicht werden einige Zeitgenossen es aber auch plausibel finden, den reflektierten Rückgang auf das seelische Erleben als den einzigen Weg zu akzeptieren, der uns noch bleibt, um die Subjektqualitäten des historischen Menschen im posthistorischen Zeitalter allgemeinmenschlich zu läutern. Riggert verwies in diesem Zusammenhang auf die Analyse eines Denkers, der weder in Deutschland noch in Georgien Konjunktur hat, der aber schon frühzeitig sowohl die geschichtsphilosophischen Selbstermächtigungsideologien als auch die postmodernen Frivolitäten der europäischen „maîtres de pensées“ hinter sich gelassen hat. Der Kultursoziologe Alfred Weber (6) hatte bereits kurz nach dem Ende des letzten Weltkrieges das Ende der bisherigen „Art des geschichtskörperhaften, des staatlichen und sozialstrukturellen Miteinanderlebens der Menschheit“ prophezeit. Er sah die „Gefahr der völligen Selbstvernichtung der Menschheit“ und die Heraufkunft eines neuen Menschentyps, der den Menschen ablösen könnte, „der in Jahrtausenden über die Synthese von Herrentum und Anti-Herrentum zur Allgemeinvermenschlichung fortschritt.“ (7)

Worin kann uns nun aber der Rückgang auf Alfred Weber, den wohl letzten großen Vertreter des „Heidelberger Geistes“, Einsichten verschaffen, die nicht schon in den klassischen Analysen zur globalen Krise der Kultur und zum Problem des Menschen enthalten sind? Auch die georgische Philosophische Anthropologie und Kulturphilosophie hatten doch beispielsweise durch Surab Kakabadse eindringliche Schilderungen (8) unserer modernen Antinomien geliefert. Auch er sah wie Weber in der Prädominanz einer empiristisch-naturalistischen Denkweise (9) den Hauptgrund für den Verlust unseres Vertrauens in das individuelle Sein. Auch er hatte das Problem des Menschen unter den Bedingungen der kapitalistisch-industriellen Zivilisation beschrieben (10). Es fehlt der georgischen Philosophie doch durchaus nicht an fundamentalen Einsichten in das Wesen der Freiheit, in die Fähigkeit zur Überwindung der Trägheit des tatsächlichen Lebens, der Bereitschaft, sich dem Absoluten zu öffnen. Tamas Buatschidze hatte in seiner beindruckenden Hegelmonographie (11) gezeigt, dass es vor allem der schöpferische Aufbau der Kultur ist, der den Menschen zu einem echten Subjekt macht. Es ist vor allem die geistige Aktivität, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Das Geistige wird von Buatschidze als eine Form der Objektivität begriffen, die durch kognitive, ästhetische und ethische Handlungen hervorgebracht wird, welche die unmittelbaren vitalen, utilitaristischen Bedürfnisse des Individuums überschreiten. Nikoloz Tschawtschawadse hatte durch seinen axiologischen Begriff der Kultur immer wieder darauf hin gewiesen, dass die Kultur nicht nur ihre Objektivationen, sondern auch den kreativen Prozess ihrer Hervorbringung einschließt. Dies alles bleiben Leistungen, deren Zustandekommen unter den Bedingungen des sowjetischen Totalitarismus uns immer noch Hochachtung und Bewunderung abverlangen. Unter den Bedingungen der berühmten Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts gelang es noch einmal, den Geist des 18. Jahrhunderts zu beschwören. Die Philosophische Anthropologie der Georgier ist eine Noologie, die aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem historischen Materialismus hervorgegangen ist. In ihrem engen Bezug zur deutschen Tradition des Denkens über den Menschen akzentuiert sie den werthaften und tätigkeitsakzentuierten Aspekt der klassischen „Ausdrucksanthropologie“ (12) . Die georgische Philosophische Anthropologie und Kulturphilosophie sind im besten Sinne von einem an Friedrich Schiller erinnernden Gestus gekennzeichnet. Schon vor den ersten Übersetzungen war übrigens Schiller in Georgien bekannt. Dawid Batonischwili hatte ihn bereits 1815 als wichtigen Philosophen und Dichter gewürdigt. Giorgi Eristawi (13), dem wir die ersten Übersetzungen verdanken, hat die Gedichte Schillers bereits als große politische Freiheitsprogrammatik aufgefasst. Die späteren Übersetzungen von Ilia Tschawtschawadse und Iwane Kereselidse, die in der Zeitschrift „Ziskari“ veröffentlicht wurden, verdeutlichen den Stellenwert Schillers für den Freiheitskampf der Georgier. Die von Iwane Gomarteli zwischen 1902 und 1903 publizierten Briefe Schillers wurde in der gleichen Weise interpretiert. Später traten auch die philosophischen Schriften Schillers ins Bewusstsein der georgischen Öffentlichkeit. Es besteht kein Zweifel, dass seine Reflektionen über die Geschichte der Menschheit, die Freiheit und den Zusammenhang von Physis und Geist für die geistige Entwicklung der georgischen Kultur von eminenter Bedeutung sind. An dieser Stelle kann leider nicht der Bedeutung Schillers für die verschiedenen Bereiche des geistig-kulturellen Lebens nachgegangen werden (14).

Auch Alfred Weber hat in seinem letzten großen Werk „Der dritte oder der vierte Mensch“ Schillers Begriff des Erhabenen aufgegriffen. Ihn interessierte weniger die Kantische Gegenüberstellung von „intellegibler“ Welt und Sinnlichkeit - vielmehr berief er sich auf Schillers Rede von der „dämonischen Freiheit“ und vom „reinen Dämon“ des Menschen, die er als „immanent transzendente Wirklichkeit“ der spontanen Kräfte begriff. Auch Weber sah die Weltgeschichte als erhabenes Objekt, „als [...] Konflikt der Naturkräfte untereinander selber und mit der Freiheit des Menschen“. Allerdings zeichnet sich bei Weber schon eine postheroische Neuakzentuierung des Idealismus der Freiheit ab, wenn er schreibt: „Wobei der Erfolg der selbständigen Vernunft, die hier der Freiheit gleichgesetzt wird, gegenüber dem Walten der Naturkräfte, zu denen alle Affekte der Menschen gezählt werden müssen, sehr geringfügig sei.“ (15) Ansonsten sah er aber in Schillers Anthropologie durchaus eine „Vorwegnahme“ seiner eigenen Geschichtsinterpretation. Worin besteht nun nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts das Bleibende, aber auch das zu Überwindende der zugrundeliegenden Freiheitsauffassung. Können wir nach einer Epoche beispielloser Devastationen der inneren und äußeren Natur, die noch kürzlich den Untergang Grosnys erlebte und dem Verebben des Aralsees zuschaute, fraglos an die enthusiastische Philosophie Schillers (16) anknüpfen. Alfred Weber, 1868 am Vorabend der Gründung des Deutschen Reiches geboren, im selben Jahr, in dem auch Noe Schordania das Licht der Welt erblickte, war in seiner Jugend durchaus glühender Nationalist, der sich vom Ersten Weltkrieg noch die grundsätzliche Neuordnung Europas erhoffte. Dazu gehörte nicht nur die Demokratisierung des Deutschen Reiches, sondern auch die Verwirklichung einer Mitteleuropavision, die eine ökonomische Großraumpolitik mit dem Wunsch der osteuropäischen Völker nach Selbstbestimmung verknüpfen sollte. In Zusammenarbeit mit dem Deutschbalten Friedrich von der Ropp, der die Liga der Fremdvölker Russlands organisierte, bemühte er sich in Polen und vor allem in Litauen, gegen Ende des Krieges auch in der Ukraine und in Georgien um die Verwirklichung dieser Konzeption (17). Insofern kann Alfred Weber zu den intellektuellen Wegbereitern der deutsch-georgischen Zusammenarbeit gezählt werden, die dann ihre Fortsetzung zwischen Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg und Leo Kereselidze fand und aus der zunächst die „Georgische Legion“ und später die Nationalarmee der Demokratischen Republik Georgien hervorging (18).

Alfred Weber, der auch nach dem Ende des 2. Weltkrieges und dem Aufkommen neuer Machtblöcke, durchaus die Rechte der kleinen Völker verteidigte, sah uns nach dem „Ende der bisherigen Geschichte“ (19) , nach den Weltkriegen und Lagern jedoch mit einer neuen „Angst um das Wesen“ (20) des Menschen konfrontieren. Der bisherigen Geschichte, in der sich ein „Menschentyp, der einen um die Idee der Freiheit und der Menschlichkeit integrierten ich- und persönlichkeitsbezogenen Daseinsmodus herausgebildet hat“ (21), die aber auch den Nationalismus und Imperialismus hervorbrachte, folgt eine „neue universalgeschichtliche Epoche“, die eine gänzlich „neue Situation in bezug auf Mensch und Erde“ (22) hervorbringt. Das betrifft in erster Linie das bisherige System konkurrierender Machtstaaten.

„Die Geschichte hatte ihn bereits 1914 mit dem ersten tellurischen Zusammenstoß auf der neuen technisierten kleinen Erde ad absurdum geführt, so daß er schon damals nur noch Maske für Großformationen ganz anderer Art war. Sie hat ihn mit dem zweiten, an dessen vorläufigen Ende wir stehen, auch innerlich in seiner völlig unmöglich gewordenen Schwäche enthüllt. `Staat´ als selbständiger, auch kleiner Machtstaat wird in dieser Form künftig, mag dies nun gleich eintreten oder noch durch eine weitere, noch schrecklichere Katastrophe sich ergeben, als allgemeiner Leittypus politischen Daseins nicht mehr bestehen.“ (23)

Ob nun Armenien, Aserbeidschan, Deutschland oder Georgien – Nationen sind in der globalen Ära nicht mehr primäre Subjekte des Politischen. Die Versuche, daran festzuhalten, bringen hysterische Hybridformen des Politischen hervor, für die das gegenwärtige Russland ein abschreckendes Beispiel ist.

Weitaus beunruhigender aber ist die Bedrohung menschlicher Subjektivität in einem allgemeinmenschlichen Sinne. Analog zur Atomspaltung, die aus der Einsicht in die uns umgebende Natur entstand, werden wir aber auch mit einer „Persönlichkeitsspaltung“ (24) konfrontiert, die der mit dem „Zivilisationsprozess“ verbundene „Gesamtverapparatung“ (25) und Funktionalisierung folgt. Das dem „Rivalitätsstaat“ entsprechende, „um Freiheit und Menschlichkeit integrierte Menschentum“ (26) mitsamt seinen heute problematisch erscheinenden herrschaftlichen Tendenzen wird durch den „vierten Menschen“ bedroht. Ernst Riggert hat im Anschluss an Alfred Weber, dem Lehrer Franz Kafkas und Erich Fromms, diesen aus den ideologischen Übermobilisierungen und technologischen Daseinsumwälzungen hervorgegangenen Typus folgendermaßen skizziert:

„Während der Typ, den Alfred Weber als `dritten Menschen´ bezeichnet, in seiner höchsten Prägung ins Allgemeinmenschliche ausläuft, ist der `vierte Mensch´ eben die Verneinung des allgemeinmenschlichen, des Menschen Verbindenden. Er umschließt Noch-Menschliches mit der Fähigkeit zu außermenschlichem Handeln. Dieses fragmentarische, pluralistische Wesen `ohne regulierende und integrierende Menschlichkeitsmitte´ ist das Produkt zivilisatorischer Umstände, in denen der Mensch Spezialist und Funktionär der selbstgeschaffenen Struktur geworden ist. Er hat das Ganze aus den Augen verloren. Sein Bewußtsein erfaßt nur noch Bruchstücke und Zufälligkeiten. Er verliert sich an `Weltbilder´, die nur von einem Zerfall des Denkens zeugen. Er merkt nicht, daß er an der Nase herumgeführt wird.“ (27)

Von diesen Entwicklungen geht auch für Georgien die weitaus größte Gefahr aus. Solange Menschen existierten, die frei und kreativ zu sein vermochten, lebte das Nationale in den individuellen Subjekten weiter. Dazu gehörte aber, dass die Georgier ihre Liebe zum Selbstausdruck der Subjektivität im anderen Menschen nicht verloren. Es entbehrt nicht einer gewissen Paradoxie, dass diese Ressource, welche die schlimmsten Zeiten der Sowjetunion überdauerte, sich nun in gespreizter, medial inszenierter Subjektivität verliert. Überreizte Intellektuelle, die in Georgien keinen wirklichen Raum des kulturellen Austauschs mehr finden, steigern ihren Marktwert durch einen leerlaufenden politischen Extremismus. In dieser Hinsicht ist man dort immerhin in Westeuropa angekommen. Wenn wir etwas von dem schöpferischen, enthusiastischen Menschen in uns bewahren wollen, müssen wir dagegen unter den neuen Bedingungen der Geschichte mit unseren Beständen haushalten. Nur wenn vor allem dem Tragischen in der Geschichte (28) eine gehörige Prise Humor (29) beigefügt wird, ist das Leben erträglich und entlockt dem „grauen Vogel“ vielleicht doch noch eine heitere Melodie. Ansonsten hat Nicolaus Sombart (30) für das noch lebende Gehirn das Programm umrissen , das heute von Georgiern, Deutschen und den vielen anderen abzuarbeiten ist:

„Wenn Alfred Weber noch in der Geschichte wurzelt, so hat er doch den `Abschied von der bisherigen Geschichte´ proklamiert, was natürlich heißt: Abschied von der europäischen Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts. Er ist damit in den Raum vorgestoßen, in dem das Verhältnis von Mensch und Erde in planetarischen Dimensionen zum Gegenstand einer `nuova scienza´ werden mußte, die anthropologische, soziologische, ökonomische, demographische und ökologische Probleme als ebenso viele Aspekte der Art- und Erdgeschichte zu artikulieren versteht.“ (31)




Literatur

1. Benn, Gottfried: Der Ptolemäer, in Ders.: Sämtliche Werke, Band V, Stuttgarter Ausgabe, 1. Auflage, Klett-Cotta, Stuttgart 1991, S. 32.
2. Gewerkschaftliche Monatshefte, 01/1954, S. 47-50.
3. A.a.O., S. 48.
4. Ebd.
5. Ebd.
6. Alfred Weber (1968-1958), der jüngere Bruder Max Webers wurde in Erfurt geboren. Sein Vater war der nationalliberale Politiker Max Weber sen. Alfred Weber studierte Jura und Nationalökonomie, promovierte und habilitierte bei Gustav Schmoller und wurde 1899 Privatdozent an der Berliner Universität. 1904 wurde er Ordinarius für Staatswissenschaft an der deutschen Universität Prag. Dort begegnete er Franz Kafka , Max Brod und Thomas G. Masaryk. Drei Jahre später wurde er an die Uni-versität Heidelberg berufen, an der er nur mit Unterbrechungen durch den Ersten Weltkrieg und die NS-Zeit bis zu seinem Tode Nationalökonomie und Soziologie lehrte. Zu seinen Schülern gehörten Theodor Haubach, Carlo Mierendorff, Carl Zuckmayer, Norbert Elias, Erich Fromm, Nicolaus Sombart u.a.
7. Weber, Alfred: Der vierte Mensch oder der Zusammenbruch der geschichtlichen Kultur, in: Die Wandlung, 3. Jg., 1948, Heft 4, S. 285-295, hier: S. 285.
8. Kakabadse, Surab M.: Das Problem der existentiellen Krise und die transzendentale Phänomenologie E. Husserls, Tbilissi 1960 (in Russisch).
9. Vgl.: Ders.: Kunst, Philosophie und Leben, Tbilissi 1979 (in Russisch).
10. Ders.: Der Mensch als philosophisches Problem, zuerst 1970 in Russisch, zweite Auflage in Georgisch, Tbilissi 1987.
11. Buatschidze, Tamas: Hegel und das Wesen des Gegenstandes der Philosophie, Tbilissi 1977 (in Georgisch).
12. Vgl.: Taylor, Charles: Hegel, 5. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006.
13. "Giorgi Eristawi wurde 1811 in einer Fürstenfamilie in Odisi geboren. Er verbrachte die Kindheit in Chidistawi, besuchte die Adelsschule in Tbilissi und studierte in Moskau. Danach trat er in Tbilissi in den Beamtendienst. 1832 wurde er wegen Beteiligung an der Adelsverschwörung verhaftet und in die Verbannung geschickt, wo er in Polen und Litauen lebte. In dieser Zeit las er eingehend Werke der polnischen und europäischen Literatur. 1852-32 gab er die Literaturzeitschrift `Ziskari´(Morgenröte) heraus, die 1857 von neuem ins Leben gerufen wurde. Der Dichter, der sich großes Verdienst um die Entwicklung der georgischen Dramaturgie erwarb, starb am 9. September 1664.“ (Fähnrich, Heinz: Georgische Literatur, Verlag Shaker, Aachen 1993, S. 93.)
14. Trotzdem soll an dieser Stelle auf die außerordentliche Rolle verwiesen werden, die Schillers Dramen in der georgischen Bühnenkunst zukam. Sowohl die Schillerinszenierungen unter der Regie eines Lado Meschischwili als auch die zu sowjetischen Zeiten sensationellen internationalen Erfolge eines Alexander „Sandro“ Achmeteli wären hier zu erwähnen. Es handelte sich jedesmal um öffentliche Demonstrationen gegen die Tyrannei und Okkupation durch das russische Regime. Achmeteli, 1886 geboren, gehörte zu den revolutionären Erneuerern des georgischen Theaters. Er wurde während des antisowjetischen Aufstandes 1924 verhaftet und stand auch später unter dauernde Beobachtung des kommunistischen Regimes. Nur seine internationale Bekanntheit schützte ihn zunächst. 1937 wurde er erneut verhaftet, im Beisein Lawrentij P. Berijas gefoltert und dann erschossen.
15. Weber, Alfred: Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins, Piper, München 1953.
16. Vgl.: Safranski, Rüdiger: Schiller oder die Erfindung des deutschen Idealismus, Hanser, München/Wien 2004.
17. Vgl.: Weber, Alfred: Veröffentlichungen zur `Politik im Weltkrieg´, in: Ders.: Politische Theorie und Tagespolitik (1903-1933), Gesamtausgabe, Band 7, hrsg. von Eberhard Demm unter Mitwirkung von Nathalie Chamba, Metropolis Verlag, Marburg 1999, S. 109ff.
18. Vgl.: Gotsiridze, Giorgi: Die georgische Öffentlichkeit und Deutschland in den Jahren 1914-1918, in: GEORGICA. Zeitschrift für Kultur, Sprache und Geschichte Georgiens und Kaukasiens, Jahrgang 1997, Heft 20, Universitätsverlag Konstanz, Konstanz 1997, S. 15-25.
19. Weber, Alfred: Abschied von der bisherigen Geschichte. Überwindung des Nihilismus?, Claassen & Goverts, Hamburg 1946.
20. Weber, Alfred: Der vierte Mensch oder der Zusammenbruch der geschichtlichen Kultur, a.a.O., S. 283.
21. Sombart, Nicolaus: Alfred Weber: Der dritte oder der vierte Mensch, in: Ders.: Nachdenken über Deutschland. Vom Historismus zur Psychoanalyse, Piper, München/Zürich1987, S. 186-195, hier: 189.
22. Weber, Alfred: der dritte oder der vierte Mensch, a.a.O., S. 16ff.
23. Weber, Alfred: Abschied von der bisherigen Geschichte, a.a.O., S. 19f.
24. Ders.: Der vierte Mensch oder der Zusammenbruch der geschichtlichen Kultur, a.a.O., S. 284.
25. Ders.: Der dritte oder der vierte Mensch, a.a.O., S. 53ff.
26. Ders.: a.a.O., S. 52 und S. 116.
27. Riggert, Ernst: Der „graue Vogel“, a.a.O., S. 48f.
28. Vgl.: Weber. Alfred: Das Tragische und die Geschichte, Piper, München 1953.
29. Vgl. hierzu Merab Mamardaschwilis Rede vom „lustigen Tragismus“ der Georgier (Mamardaschwili, Merab: Georgien in der Nähe und Ferne, Tbilissi, 1995 (in Russisch), S. 10
30. Sombart, Nicolaus (1923-2008), Sohn des Sozial- und Wirtschaftshistorikers Werner Sombart und seiner dreißig Jahre jüngeren rumänischen Frau Corina Leon, Schüler Alfred Webers und Carl Schmitts, befreundet mit Grigol Robakidze und verheiratet mit Tamara Khundadze, der Tochter des exilierten Menschewisten Michael Khundadze. Sombart war ein Kultursoziologe, der sich ähnlich wie der Franzose Edgar Morin zu den „sociologes de la joie“ zählte. Vgl. dazu: Keller, Thomas: Sociologes de la joie – Edgar Morin und Nicolaus Sombart, in: Bröckling, Ulrich/Paul, Axel T./Kaufmann, Stefan (Hrsg.): Vernunft – Entwicklung – Leben: Schlüsselbegriffe der Moderne. Festschrift für Wolfgang Eßbach, 1. Auflage, Fink, München 2004, S. 97ff.
31. Vielleicht könnte eine kleine Ausgabe der Schriften Alfred Webers in Georgien dieses Vermächtnis unter den Bedingungen des „Abschieds von der bisherigen Geschichte erfüllen“.
32. Sombart, Nicolaus: Alfred Weber, a.a.O., S. 188.


April 2010

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen