Samstag, 7. Mai 2011

Georgien und die Angst vor der Geschichte

Eine Polemik
von Dr. Frank Tremmel

„Wenn ein Mensch oder ein Volk Gewalt brauchen, dann nur, weil ihr Denken, ihre Kultur und ihre Ausstrahlung schwach und gering sind, zu schwach, um zu siegen, zu wiederstehen oder abzuschrecken.“
Jean Fourastié

Die Volksaufstände im Maghreb und in Ägypten, die Massenproteste in vielen Teilen des Vorderen Orients haben in Georgien kaum nennenswerte Resonanz hervorgerufen. Unabhängig von deren Ausgang, d.h. von der Frage, in welche konkreten sozialen und politischen Formen diese Bewegungen münden werden, stellen sie doch an sich schon eine wichtige Zäsur in der Globalgeschichte des Bewusstseins dar. Davon wird zweifellos auch das Schicksal Transkaukasiens nicht unberührt bleiben. Diese Veränderungen beruhen u.a. auf der durch die modernen Kommunikationsmedien ermöglichten dauerhaften Wechselwirkung von Gefühlen und Ideen. Die emotionalen und die kognitiven Dimensionen unseres Menschseins konnten sich bislang in der Kulturgeschichte nur zeitweilig auf eine Weise verbinden, die dem menschlichen Dasein sowohl zivilisatorische Weitläufigkeit als auch symbolische Tiefe zu geben vermochte. Zudem wurden selbst diese achsenzeitlichen Durchbrüche zur „immanenten Transzendenz“ (Alfred Weber) vom Schatten der Gewalt, dem Zwillingsbruder der enthusiastischen und empathischen Gefühle, begleitet. Im Unterschied zur Vergangenheit finden diese produktiven Neukonstellationen der Humanität heute unter den Bedingungen einer globalen Noosphäre statt, die eine bislang nicht gekannte Synchronizität der Ereignisse generiert. Der Zivilisationsprozess schafft eine neue „Gesamtlebensaggregierung“ (ebd.) tellurischen Ausmaßes, die neue Formen der „seelischen Produktivität“ provoziert. Insofern ist die Indifferenz der georgischen Öffentlichkeit gegenüber den von Tunesien ausgehenden Ereignissen doch immerhin erklärungsbedürftig. Dies gilt umso mehr, als Georgiens neue politische Klasse ihr Selbstverständnis aus einer „bunten Revolution“ bezieht, die immerhin Parallelen zu den gegenwärtigen Entwicklungen aufzuweisen scheint. Welche Ursachen hat also dieser Mangel an Enthusiasmus und Mitgefühl?

Ghia Nodia, ein bekannter georgischer Politikwissenschaftler und ehemaliger Bildungsminister, gehört zu den Wenigen, die sich um eine Antwort bemühten. Nodias Erklärung auf der Website von Radio Free Europe (Why is Georgia so quiet about Tunisia’s Revolution?, 26.01.2011), die vor allem auf die seit Max Weber geläufige Ablösung des revolutionären Charismas durch die Prozesse der Veralltäglichung zurückgreift, bleibt allerdings zu unspezifisch, insbesondere da er sie selbst wieder relativiert und den Thermidor der georgischen „Rosenrevolution“ nicht unbedingt für endgültig hält. Im Grunde misstraut Nodia der pragmatischen Normalität der gegenwärtigen Situation, womit er, vermutlich unbewusst, sein georgisches Gespür für „die Instabilität der historischen Gesellschaften“ (Edgar Morin) unter Beweis stellt. Dass er dabei nicht nur an ein Wiederaufleben des „Geistes der Demokratie“ denkt, zeigt sein im Frühjahr des vergangenen Jahres ebenfalls auf der oben erwähnten Internetplattform veröffentlichter Artikel (The Geopolitics of Religious Extremism, 20.05.2010), in dem er den in Georgien stattfindenden Kampf der Intellektuellensoteriologien, die Auseinandersetzung zwischen liberalen Modernisierern und konservativen Traditionalisten kommentierte. Nodia übersetzt dort den Konflikt in die geopolitische Ost-West-Topographie und nimmt ihn vor allem als Menetekel für eine Eingemeindung seiner Heimat in ein von Moskau dominiertes „Orthodoxes Commonwealth“ (Dimitri Obolensky). Moderner Zivilisationsprozess und Religion scheinen in dieser Perspektive unvereinbare Gegensätze zu sein, an denen die Kaukasusrepublik zu zerbrechen droht. Vorerst zeichnet sich allerdings in der Bevölkerung keine eindeutige Unterstützung für diese hochstilisierten Extrempositionen ab. Es ist vor allem die Passivität breiter Kreise, die sich auch in der gegenwärtigen Indifferenz gegenüber den Ereignissen in Nordafrika und dem Nahen Osten widerspiegelt, die das Bild weit eher bestimmt. Der longue durée des Ostens, in der jede Initiative folgenlos bleibt, steht der Modernisierer gegenüber, dessen Voluntarismus die Historizität des Daseins mindestens ebenso negiert. „Im entrückten Vorgeschmack genießt er die zeitlose Gegenwart: ein neuer Mystiker, der in die Leere stößt“ (Grigol Robakidse). Für den Rhythmus des Schöpferischen, für die Einheit von Wachstum und Tat, mangelt es den Vertretern beider Tendenzen an Wahrnehmungsorganen. Moderne und Tradition fehlt es gleichermaßen an kreativen Kräften. So nimmt es nicht wunder, dass weder die Aussicht auf die liberale Zivilisation noch auf eine orthodoxe Theokratie bei den Georgiern nennenswerten Enthusiasmus hervorruft. Um den Somnambulismus der georgischen Kultur besser verstehen zu können, müssen wir die jüngere Zivilisationsgeschichte genauer betrachten.

Ghia Nodia fokussiert lediglich auf einen kleinen Ausschnitt des Wechselspiels von außeralltäglichem Charisma und modernem Zivilisationsprozess. In dieser Perspektive wird die Rosenrevolution als Übergang zu einer vermeintlich normalen Modernität betrachtet. Erneut sollte eine „ letzte“ Revolution den Abschluss der „Vorgeschichte“ einläuten, nun endlich Georgien auf das Gleis des kontinuierlichen Fortschritt verbürgenden liberalen Zivilisationsprozesses schieben. Ein wirklicher „Abschied von der bisherigen Geschichte“ (Alfred Weber) setzt aber eine geistige Anamnese der Vorgeschichte voraus und lässt sich nicht politisch dekretieren. Ohne eine solche kulturelle Gedächtnisarbeit hier leisten zu können, sei doch an dieser Stelle an einige signifikante Daten erinnert. Zum einen wären hier die Ereignisse des 9. April 1989 zu nennen, bei denen die Volksbewegung für die Unabhängigkeit Georgiens mit sowjetischen Panzern, Giftgas und Armeespaten blutig beendet wurde und die zum bösen Omen für den weiteren Verlauf der Unabhängigkeitsbestrebungen wurden. Der zwei Jahre darauf folgende Bürgerkrieg erschütterte das geistig-kulturelle Selbstvertrauen erneut. Die dritte Zäsur stellt der am 7. November 2007 nach Massendemonstrationen von der Regierung Michail Saakaschwilis gewaltsam verhängte Ausnahmezustand dar. Diese Ereignisse sind für die innere Geschichte der Georgier, für die Symbolisierung der tiefsten Emotionen, für das Herz der georgischen Kultur von zentraler Bedeutung. In allen Fällen wurde in entscheidenden historischen Augenblicken das ekstatische und empathische Zentrum der georgischen Kultur aus dem Rhythmus gebracht. Der Enthusiasmus, diese aufs höchste gesteigerte Phantasie, die eine Kultur mit den Bedürfnissen der Menschen verbindet, unterlag erneut der Gewaltgeschichte, die das Leben der kaukasischen Völker deformiert. Ohne eine Wiederherstellung dieser Verbindung zwischen „Tiefenperson“ (Philipp Lersch) und Kultur wird es weder in Georgien noch im Vorderen Orient nennenswerte Fortschritte geben. Nodia und andere liberale Intellektuelle gehen dagegen davon aus, dass die moderne Zivilisation vor allem ein Mechanismus der Affektkontrolle ist, eine posthistorische Balance der Egoismen, ein globales System der checks and balances, in das Georgien sich lediglich einordnen müsse, um seine Produktivität entfalten zu können. Die tatsächlich notwendige Kunst des Vergessens, die neues historisches Handeln ermöglicht, weicht so der schlichten Amnesie. Gesellschaft und Geschichte werden gleichsam dem Schema der neoklassischen Gleichgewichtstheorie subordiniert. Die Verwandlung von Leidenschaften in Interessen reduziert die Motive menschlichen Handelns auf subjektive Präferenzen, die sich nur im Spiegel des Marktgeschehens zweckrational beurteilen lassen. Dieses scheinbar so tolerante subjektive Marktgeschehen wird allerdings mit objektiver politischer Gewalt eingeführt.

Enthusiasmus, die Quelle nichtentfremdeter Gemeinschaftsbeziehungen, taucht in dieser Perspektive des um seine Selbsterhaltung besorgten Subjekts nur als Fanatismus religiöser Charismatiker auf. Der aus der kolonialen Deformation des geistigen Lebens entstandene Dualismus der Mentalitäten wird durch diese halbierte Modernisierung ständig reproduziert. So bleibt der Enthusiasmus auf das inspirierte Handeln einzelner Menschen begrenzt, in dem die georgische Kultur sich zwar immer wieder punktuell manifestierte, aber keine historische Form prägte (Sasa Piralischwili). Empathie und Enthusiasmus sind in der Tat entgrenzende Erfahrungen, Ausdruck der ekstatischen, nichtinstrumentellen Gemeinschaft, die mit all ihren Kränkungen und Hoffnungen in den Tiefen der polarisierenden Zivilisationsgeschichte weiterlebt. Gemeinschaft und Gesellschaft sind andauernd ineinander verschränkte Kulturformen, die in der modernen Globalgeschichte um ihre geistig produktive Verbindung ringen. Swiad Gamsachurdias maß- und formlose Freisetzung der Gemeinschaftsenergien, Eduard Schewardnadses fauler, beide Formen zersetzender Kompromiss und Michail Saakaschwilis Apologie der erkalteten Gesellschaft sind Etappen dieser Suche, deren Ende längst nicht erreicht ist. Die „Rosenrevolution“ trat mit dem legitimen Anspruch auf, Georgien aus einer stagnativen Zwischenzone der Zivilisationsgeschichte zu befreien. Georgien sollte sich in Zukunft in erster Linie als „Gesellschaft“ („societas civilis“) verstehen, nicht als religiös oder ethnisch fundierte Gemeinschaft. Aufgeheizte Gefühle, wie sie in Revolutionen, totalitärer Mobilisierung und Bürgerkrieg zum Ausdruck kommen, sollten der Vergangenheit angehören. Der Weg in den Westen, von manchen als Heimkehr verstanden, sollte nicht mehr durch unliebsame, zum Teil mit Schamgefühlen besetzte, Erinnerungen belastet werden. Tatsächlich dringt die Vergangenheit aber durch die haarfeinen Risse der neoliberal polierten Oberfläche der georgischen Lebenswirklichkeit und kontaminiert den sittlichen Gesamtorganismus. Unter den „europäischen Standards“, den neuen Verhaltenskodizes, der smarten Leistungsorientierung, liegen die Abgründe der „Runtergespülten“, der „Modernisierungsverlierer“, der Vertriebenen, der Traumatisierten. In all dem manifestiert sich eine zutiefst gespaltene Kultur, deren Krise spätestens dann zutage tritt, wenn das liberale Wachstumsmodell seine Wohlstandsversprechen nicht breitenwirksam einzulösen vermag. Aus diesem Grund wird aus dem Instrument zunehmend ein Selbstzweck. Die ökonomische Rationalisierung entkoppelt die georgischen Erfahrungswelten und schafft einen neuen proteischen Menschentyp, dem seine Gefühle im Wege stehen. Vielleicht ist er aber auch nur eine weitere Metamorphose des alten totalitären Typus, d.h. des "vierten Menschen" (Alfred Weber). Diejenigen, denen die adaptiven Fähigkeiten fehlen, treten den inneren Rückzug an, die flexiblen Gewinner leben längst in einer Wirklichkeit, die mit den georgischen Lebensumständen nicht mehr viel gemein hat. Vielleicht liegt hier auch der tiefere Grund für die teils kühle, teils resignative Gleichgültigkeit gegenüber den Ereignissen in Ägypten, Syrien und den anderen von Georgien nicht so weit entfernten Ländern. Georgiens Somnambulismus ist der Zustand einer Kultur, die ihre Vergangenheit vergessen möchte und die in der gewählten Zukunft nicht ankommt.

Eine Gesellschaft, die zu keinem Ausgleich mit den gemeinschaftlichen Aspirationen der Menschheit gelangt, die sich künstlich von ihrer Vergangenheit abschneidet, kann keinen Neuanfang zustande bringen. In Georgien wird einer Moderne von gestern nachgejagt, die zu vergessen scheint, dass nicht nur in Syrien und im Jemen längst kein Thermidor in Aussicht ist, vielmehr auch in Portugal, Griechenland, Spanien und Irland Unruhen drohen. Der Aufbruch aus der Semiperipherie ist ein anspruchsvolles Projekt, das nicht allein durch den Sturz orientalischer Despoten, die den westeuropäischen Wohlstandszentren die Armutsflüchtlinge vom Hals geschafft haben, und durch die Einführung der Marktwirtschaft verwirklicht wird. Von einer postkatastrophischen Moderne sind wir weltweit sehr weit entfernt. Eine "normale" Moderne, für die die Länder des sogenannten Vorderen Orients nur Rohstofflieferanten waren und der angesichts der Atomkatastrophe in Japan nicht nur die physischen Energien ausgehen, verspricht für Georgien weder eine Befreiung aus seiner Tiefenerstarrung noch einen Abschied von der bisherigen Geschichte. Die "georgische Renaissance" (Grigol Robakidze) des 21. Jahrhunderts lässt auf sich warten.

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