Dr. Frank Tremmel
Der persönliche Dialog war und bleibt die Keimzelle und die existenziell bedeutsamste Form der menschlichen Kommunikation. Das echte Gespräch zielt auf die Überwindung des Scheins. Es ist, wie Martin Buber es einmal formulierte, eine ontologische Sphäre, die sich durch die Authentizität des Seins konstituiert. Es setzt Rückhaltlosigkeit voraus, die aber kein bloßes Drauflosreden meint. „Sagen ist Natur und Werk […] zugleich und es hat, wo es dialogisch, im Atemraum der großen Treue erscheint, die Einheit beider stets neu zu vollenden“ (Martin Buber). Der authentische Ausdruck ist das wahre Signum unseres Menschseins. Auch und gerade in unserer globalen Epoche des massenmedialen Scheins bleibt diese anthropologische Grundeinsicht bedeutsam. Der moderne Zivilisationsprozess umgibt uns zusehends mit einem sekundären Kosmos zeichenhafter Bedeutungen, mit dem wir durch unsere Kommunikationsmittel verbunden sind. Die Vermittlung ist einerseits ein enormer Freiheitszugewinn gegenüber dem unmittelbaren Eindruck, der uns auf primäre Gruppen festlegt, beinhaltet aber auch die Gefahr der Manipulation. Nachrichten werden zu Waren und zu Ideologien, die uns zum Teil von weither zugetragen werden und deren Wahrheitswert wir nur noch schwer überprüfen können. Es wird schwieriger, den „Atemraum der großen Treue“ zu bewahren. Unser Realitätsbewusstsein wird mittlerweile nur allzu oft durch den Nimbus der Herrschaft und das Prestige des Geldes beeindruckt. Nur im Märchen von Hans Christian Andersen, zudem aus Kindermund, wird uns kundgetan, dass der Kaiser doch nackt sei. In der Realität unseres Erwachsenendaseins fehlt es uns oft an diesem Mut zur Wahrhaftigkeit. Harry Pross, der kritische Mahner innerhalb der bundesdeutschen Medienwissenschaft, hat das kommunikationstheoretische Credo dieses Märchens folgendermaßen zum Ausdruck gebracht:
„Ohne Freiheit und Wahrhaftigkeit kann der Einzelne Nachrichten nicht verarbeiten, unwahrhaftig kann er nichts erkennen. Wo Wahrhaftigkeit fehlt, kann keine Erkenntnis sein. Man entzieht sich in der Kommunikation der Frage nach der Freiheit nicht, indem man die Fragestellung verschiebt und nach dem jeweils Adäquaten fragt. Was adäquat ist, kann keiner für den anderen befinden, ohne das Leben selbst zu verletzen.“
Sowohl in der westlichen Welt als auch im Orient wird das primäre Medium der Rede, d.h. die leibhaftige Kommunikation zwischen dem Autor und seinen Zuhörern zunehmend durch die politische Belehrung und die Verkaufsabsicht verdrängt. Erst in der jüngsten Vergangenheit zeichnen sich neue, gegenläufige Tendenzen ab. Die sekundären und tertiären Medien ermöglichen zunächst arbeitsteilige Rationalisierungen nie gekannten Ausmaßes. Zugleich entkontextualisieren sie aber die menschliche Kommunikation und vereinseitigen die Entwicklung der menschlichen Natur, d.h. der Einheit von Wahrnehmung und Bewegung. Der Dialog, das gemeinschaftliche Gespräch, die narrative Vernunft gelten angesichts der extremen Beschleunigung des globalen Informationsaustauschs als ineffizient. Lokale Kontexte sind kaum noch vermittelbar. Der Zusammenhang von Arbeit und biologischem Rhythmus, von präsentativer und diskursiver Symbolik wird auseinander gerissen. Individualität, Taktgefühl und anschauliche Erfahrung werden nicht mehr gepflegt. Die Synchronizität der modernen Kommunikation hebt zwar die raumzeitliche Organisation des Menschseins nicht auf, sie führt aber unter Umständen dazu, dass wir - geblendet durch das Versprechen auf ein globales Dorfes (McLuhan) - unser heimisches Dorf verwahrlosen lassen. Damit soll die Hoffnung auf eine humane Entwicklung, die mit der Kontinuität des `logischen Universums´ verbunden ist, das durch die nahezu unerschöpflichen Kommunikationsmittel erzeugt wird, nicht geschmälert werden. Es handelt sich dabei immerhin um die Aussicht, dass durch die mediale Kommunikation die historische Entwicklung des Bewusstseins in eine bewusste Entwicklung unserer Geschichte übergehen kann. Es wäre ignorant, dieses zivilisatorische Potential nicht zu realisieren. Aber wir müssen auch die Gefahren sehen. Es ist diese Dialektik von „Selbst- und Fremdbestimmung“, die vor dem Hintergrund der georgischen Erfahrungen von besonderem Interesse ist.
Der bereits erwähnte Harry Pross, ein Schüler des streitbaren Kultursoziologen Alfred Weber, stellte die angesprochenen Themen in den Mittelpunkt seiner kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschung. In den 1960er Jahren hat er das „Institut für Publizistik“ an der Freien Universität Berlin in ein interdisziplinäres Lehr- und Forschungsinstitut verwandelt. Zusammen mit dem 1970 an das Institut berufenen Ivan Bystřina, der 1968 nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ aus der CSSR geflohen war, erprobte er neue kultursemiotische und kommunikationstheoretische Ansätze. Dabei blieben bestimmte Fragestellungen der Kultursoziologie Alfred Webers für ihn auch weiterhin maßgeblich. Weber hatte nach dem 2. Weltkrieg „die Umwandlung des deutschen Massenmenschen aus einem geduldig gehorsamen Massentier in einen Typus der Zusammenordnung charakterlich selbständiger, aufrechter, selbstbewusster, auf ihre Freiheitsrechte eifersüchtiger Menschen“ als kulturpolitische und pädagogische Aufgabe formuliert. Er warnte - vor dem sich abzeichnenden Übergang in ein neues globalgeschichtliches Zeitalter - vor einem proteischen Menschen, vor der „Flucht vor der Freiheit“, wie sie ein anderer seiner Schüler, Erich Fromm, beschrieben hat. Seine Kultursoziologie ist eine Anthropologie der Freiheit, die den versachlichenden Zivilisationsprozess nie ohne die Spontaneität der Kulturbewegung dachte. Dieser Bewegung liegen Symbolbildungen zugrunde, die sich einer primären Wirklichkeitserfahrung verdanken. Weber sprach von der „immanenten Transzendenz“. Pross und Bystřina haben jeweils auf ihre Weise diese elementare Freiheitsdimension der Semiose, d.h. der Hervorbringung der menschlichen Symbolwelt, immer als Grundlage aller Kommunikationsprozesse betrachtet. Ich habe an verschiedenen Stellen auf die Bedeutung der Kultur- und Geschichtsanthropologie Alfred Webers hingewiesen und sie in einen Zusammenhang mit entsprechenden georgischen Denkbewegungen gebracht. Weber hat übrigens, ähnlich wie später Juri Lewada, den Sowjetmenschen als Prototypen des von ihm gefürchteten „vierten Menschen“ beschrieben. Sein Ansatz könnte der zu etablierenden georgische Kommunikationswissenschaft fruchtbare Perspektiven aufzeigen. Die Kommunikationswissenschaft muss, wie das Harry Pross und Ivan Bystřina in Berlin demonstriert haben, eine Freiheitswissenschaft sein. Die von Weber beschriebenen Gefährdungen sind auch in der postsowjetischen Epoche nicht geringer geworden. Angesichts der eingangs erwähnten Erfahrungen des Wirklichkeitsverlustes in unserer globalen Kommunikationsgesellschaft bedarf es einer Wissenschaft, die auf einer „transzendentalen Theorie der Kommunikation“ beruht und sich der Grenzen der medialen Subjektivität bewusst bleibt. Einiges dazu hat der Autor in einem Artikel, der demnächst in der Printversion von „einBlick Georgien“ erscheinen wird, bereits ausgeführt.
Fragen der Massenkommunikation und der Publizistik werden in Georgien immer wichtiger. Es mangelt allerdings an der Einhaltung professioneller Standards und einer wissenschaftlich fundierten Kommunikationspolitik. Der ideale Schwung, der nach 1945 von der berühmten Conference on Freedom of Information (1948) ausging und der nach 1989, nach den Umbrüchen in Osteuropa und der Sowjetunion, noch einmal neue Kraft gewann, ist weltweit einer großen Ernüchterung gewichen. Erst in letzter Zeit scheint sich das vor dem Hintergrund der „Facebook und Twitterrevolutionen“ im Vorderen Orient wieder zu ändern. Die historische Erfahrung zeigt, dass die Entwicklung der Medien der Freiheit der Information vorausgehen muss. Mediengeschichte ist immer auch Bewusstseinsgeschichte, besser, eine Geschichte unseres jeweiligen Wirklichkeitsverhältnisses. Das schließt neben dem im Westen dominierenden Ichbewusstsein das Gesamtensemble der sensomotorischen Wahrnehmungen ein, die sich in den Kulturen der Welt unterschiedlich ausdifferenzieren und dem Kommunikationsprozess zugrunde liegen. Diese kulturgeschichtliche Differenzierung wirft die Frage nach den für eine Gesellschaft angemessenen Medien auf. Harry Pross hat das für die Beantwortung notwendige Forschungsprogramm folgendermaßen umrissen:
„Um die einzelnen Medien verstehen zu können muss man sich zu radikalem Relativismus entschließen und technisch-wissenschaftliche mit kultischen und politisch-wirtschaftlichen Komponenten in Beziehung setzen. Man darf nicht nur auf das Medium starren, sondern muss in der Beurteilung seiner Möglichkeiten auch Wertvorstellungen einbeziehen, Kult, Moral und Chiffren der Transzendenz, ferner tiefsitzende, nicht ohne weiteres rationalisierbaren Lebensäußerungen der Art, wie sie Magret Mead von den Arapesh berichtet hat, die angesichts eines Bildes aus einem amerikanischen Magazin nicht fragen ´Was ist das?´, sondern ausrufen `Oh, wie herrlich!´. In diesem kultischen Bereich entscheidet sich schließlich, welche Wirkung die veränderte Objektwelt auf die Menschen haben kann, welchen Rang sie dem Kommunikationsmittel zumessen können. Das heißt zugleich, dass die Entscheidung nicht allein beim Autor und auch nicht beim Medium liegt, sondern dass sie in erster Linie in den primären Gruppen fällt, in die alle Medien schließlich münden. Veranstalteter Empfang und formlose Rezeption sind in ihrer Unterschiedlichkeit zu beachten, und am Ende wäre dann wieder die Rede in der hautnahen Gruppe der wichtigste Faktor der Verarbeitung.“
In diesem Kontext arbeitet der Autor zurzeit an einem Konzept für die Etablierung der Kommunikationswissenschaften in Georgien. "Radikaler Relativismus", d.h. die Einsicht in die historische und kulturelle Kontingenz von Sensomotorik und Kommunikation schließt die ethische Verantwortung für das gesprochenen Wort keineswegs aus. Im Gegenteil: Kontextualismus und Universalismus sind methodologisch und ethisch zwei Seiten eines im Dialog verbundenen Prozesses. Die historische Anthropologie der Medien und der Kommunikation ist gerade für junge Nationen mit alten Völkern und Kulturen hochinteressant und bedeutsam. Das längerfristige Ziel müsste letztlich darin bestehen, ein Interdisziplinäres Zentrum für Medienanthropologie, Kultursemiotik und Kommunikationsökologie in Georgien zu gründen, das sich dieser Fragen annimmt. Erste Kontakte zum Interdisziplinäre Zentrums für Semiotik der Kultur und der Medien in São Paulo, das die Ansätze von Pross, Bystřina u.a. fortführt, wurden bereits hergestellt. Georgien verfügt mit der psychologischen Uznadzeschule und einer Reihe hochangesehener Philosophen, Sprachwissenschaftler und Semiotiker über eigene kognitive Ressourcen, die unbedingt genutzt werden sollten. Wir befinden uns ganz am Anfang einer spannenden Reise. Unsere Reisegruppe soll sich dabei auf der Basis des vertrauensvollen Dialogs konstituieren, denn auch die Wissenschaft von der Kommunikation ist Kommunikation. Alle, die den Weg mitgehen wollen, seien herzlich eingeladen.
მარიკა ლაფაური, ფრანკ ტრემელი, საქართველო, ფილოსოფია, არქიტექტურა, მედია, პოლიტიკა, ატენი, სიონი, კისისხევი, მუსიკა, საგალობელი, Musik, Dr. Frank Tremmel, Marika Lapauri-Burk, sakartwelo, einblick Georgien, Kaukasus, caucasus, Tiflis, Sakartvelo, Tbilissi, georgisch, Tourismus, georgische Sprache, Kutaissi, Nachrichten aus Georgien, Medien, Geschichte Georgiens, georgische Kultur, philosophie, Giwi Margwelaschwili, Film und Theater, Traditionen, Kulturantropologie, Literatur, Lile e.V.
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