Donnerstag, 2. Juni 2011

Ein weiterer Brief nach Tbilissi,

erneut, liebe Freunde, wende ich mich in der Hoffnung an euch, dass die Worte eines Außenstehenden nicht von vornherein verworfen werden. Dieser Hoffnung liegt allerdings eine Befürchtung zugrunde, für die es in den letzten Jahren, verstärkt in den letzten Monaten, mehr als einmal Anlass gab. Das Entsetzen über die Ereignisse am Vorabend des Unabhängigkeitstages sitzt uns allen, die wir am Schicksal Georgiens Anteil nehmen, immer noch in den Knochen. Befürchtungen löst allerdings nicht das durch eine Polithasardeurin aufgeputschte Rowdytum des Mobs aus, den es in allen modernen Gesellschaften gibt und den man hierzulande mit Fußballspielen zufrieden stellt. Beunruhigend ist auch nicht die Frage der Verhältnismäßigkeit der Mittel, die von den Sicherheitsorganen des Staates eingesetzt wurden. Nein, beunruhigend sind die Reaktionen eines Teils des georgischen Bürgertums. Insgeheim haben viele Vertreter durchaus privilegierter Gruppen in Georgien einen Bürgerkrieg ins Kalkül gezogen. Ihr unbändiger Hass auf die Regierung und den Präsidenten ließ sie darauf hoffen, dass eine um ihr Leben kämpfende Fanatikerin, ihrerseits eine Angehörige der in Georgien herrschenden Familien, vielleicht doch eine größere Welle des Ressentiments und der Wut würde erzeugen können, auf der sie dann vielleicht wieder in die Spitzen des Staates hätten surfen können. Nein, beunruhigend ist vielmehr die Schwäche des georgischen Staates, dessen tragende Gruppen untereinander hoffnungslos zerstritten und gleichzeitig durch vielfältige Loyalitätsbeziehungen dubioser Art aneinander gekettet sind. Die Fraktionen dieser Nomenklatura sind bis heute nicht imstande, ein politisches Projekt zu formulieren, das die nötigen Anstrengungen bündelt, um aus Georgien eine moderne und zugleich mit seiner Geschichte souverän umgehende Kulturnation werden zu lassen. Stattdessen gefällt man sich in der Ideologieproduktion, unabhängig davon, ob diese nun neoliberal, religiös oder kritisch-humanitaristisch daherkommt.

Mir ist bewusst, welchen Zorn man in Georgien damit auf sich ziehen kann, aber da ich in den letzten Jahren viel Energie, Arbeitskraft und Liebe in die Förderung georgischer Anliegen habe fließen lassen, erlaube ich mir, liebe Freunde, meine Besorgnis mitzuteilen. Da zudem der Provinzialismus auch eine deutsche Krankheit ist, kann ich nicht umhin, euch darauf hinzuweisen, wie unvermittelbar gewisse georgische Idiosynkrasien mittlerweile sind. Ich kenne die Einwände gegenüber uns „untreuen“ Westeuropäern, dieses andauernde Misstrauen der Georgier, die den Verrat noch hinter der wohlwollendsten Warnung wittern. Ja, in der Tat, liebe Freunde, Europa ist eine kapriziöse und launische Geliebte. Sie ist keine treusorgende mater familias, auf deren Loyalität wir zählen können, sondern eine anspruchsvolle Dame, die ständig umworben sein will, die keine Weinerlichkeiten hören will, die unsere Geschenke ohne jeden Dank erwartet. Jeder Europäer stöhnt unter ihrem Regime und dennoch, liebe Freunde, nur sie kann die Dulcinea sein, die dem Ritter die Bedeutung gibt, die er sich selbst nicht geben kann. Liebe Freunde, wohin wollt ihr denn gehen? Das Europäertum ist, wie Ossip Mandelstam es formuliert hat, die einzige Alternative zum neuen Assyrertum. Europa ist kein Imperium, keine Religion, kein gemeinsamer Markt. Es ist eine exzentrische Region des Begehrens, die sich immer nur von außen definieren lässt. Europa ist eine aus Phönizien entführte Königstochter. Wollt ihr jetzt, wo sich selbst in Damaskus Menschen auf den Rücken des Stieres schwingen und dem Europäertum neue Bedeutung geben, das Bild einer kleinlichen Selbstzerfleischung in das Gedächtnis der Geschichte eintragen?

Ja, ihr fragt natürlich, was weißt du denn, was willst denn du? Bist du einer von denen oder einer von uns? Liebe Freunde, verschont mich damit. Ja, ich unterstütze die Westorientierung eurer Regierung! Nein, ich glaube nicht, dass damit alle Probleme gelöst sind! Ja, ich bin für eine Marktwirtschaft, die in Georgien eine funktionstüchtige mittelständische Wirtschaft etabliert. Nein, ich halte es für falsch, die strategischen Ressourcen des Landes einer verfehlten Globalisierung zum Opfer zu bringen. Ja, ich bin für eine Meritokratie, die den georgischen Familiarismus das Fürchten lehrt! Nein, ich glaube nicht an den neoliberalen Naturalismus, der aus dem Wettbewerb eine Religion machen will! Ja, es gibt die „Arabisierung des europäischen Bewusstseins“ (Rafik Schami), unseren Verrat, unsere kleinherzige Feigheit, aber das wisst ihr doch. Nein, ich glaube immer noch an uns, solange, bis wir alle ausgestopft in einem chinesischen Museum stehen!

Herzliche Grüße
Frank

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