Samstag, 3. April 2010

Der Fall Georgien: Medienpolitik als Organ der Verständigung oder als Instrument des Kulturkampfes?

Dr. Frank Tremmel


Die Gedanken, die ich Ihnen heute Nachmittag nahe legen möchte, sind zweierlei Ursprungs. Zum einen stammen Sie aus einer Medienbeobachtung, die Frau Lapauri-Burk und ich seit Ende des Sommers 2008 verstärkt durchführten, zum anderen sind sie das Resultat meines persönlichen, aber auch fachwissenschaftlichen Interesses an Fragen der philosophischen Kulturanthropologie und der historischen Semantik. Was kann ich Ihnen nun in einer ersten Annäherung aus dem Blickwinkel der historischen Anthropologie zur Frage der Medien und Bilder, insbesondere der Feindbilder mitteilen?

Dem aufmerksamen Leser des Tagungsprogramms wird nicht entgangen sein, dass der Titel, unter dem Ihnen mein Vortrag angekündigt wurde, eine augenscheinliche Tautologie enthält, die in der ersten Version noch massiver zutage trat. „Medien“ sind in einem genuin kulturanthropologischen Sinne immer „Organe der Verständigung bzw. der Vermittlung“, wie ich zunächst schrieb, und insofern „kultur“bildend. Der Mensch begegnet sich immer nur indirekt. Er ist auf Verständigung bzw. Vermittlung hin angelegt. Insofern entsprich Medialität einer anthropologischen Grundtendenz. Es sind übrigens vor allem Bilder, die zu den ursprünglichsten und offenbar unverzichtbaren Medien gehören. Der Mensch lebt immer anschaulich, trotz aller Abstraktionsleistungen. In diesem fundamentalen Sinne würde ich mit meinem Titel kulturanthropologisch gewissermaßen Eulen nach Athen tragen – wenn da nicht die „Politik“ und der „Kampf“ wären. Warum diese unschöne Dissonanz im Titel, warum nicht lediglich Kultur und Vermittlung, wozu den „sensus humanitatis“, warum „Sinn und Mitgefühl für die gesamte Menschheit“, nach Johann Gottfried Herder das Ziel der „schönen Wissenschaften“, durch den Hinweis auf Konflikthaftes beinträchtigen? Welche Rolle soll zudem Politik in diesem Zusammenhang spielen?

Nun könnte uns schon die schlichte Erfahrung, wohlgemerkt wiederum eine vermittelte Erfahrung, eines Besseren belehren. Die Bilder als fundamentale Medien haben wir in der artifiziellen Gesellschaft besonderen arbeitsteilig organisierten Produzenten übertragen. D.h. Erfahrungen werden uns durch „Medien“ als Spezialbranche vermittelt. Nun werden allerdings nicht nur „Kämpfe“ medial vermittelt dargestellt, nun kämpfen die Bildproduzenten nicht nur um die Deutungshoheit über die Bilder, sondern der Kampf wird selbst zum Medium, zur Metapher. Durch die Bildproduzenten avancierten Georgien und Transkaukasien seit den Kriegshandlungen im August 2008 regelrecht zu Chiffren für Ethnokonflikte und neu/alte Ost-Westgegensätzlichkeiten. Oftmals handelt es sich dabei allerdings um eine Urteilsbildung frei nach Goethes „Faust“, wo es im „Osterspaziergang“ heißt: „Wenn hinten fern in der Türkei die Völker aufeinander schlagen.“ Nach den Kriegsereignissen schlug zunächst die Stunde der politischen Kommentatoren, der tatsächlichen und vermeintlichen Kaukasusexperten, der Geostrategen unterschiedlichster Couleur. Vor laufenden Fernsehkameras hielt jeder seinen Zipfel der Wahrheit fest in Händen, schließlich stand der Marktwert der eigenen Expertise auf dem Spiel. Der „sensus humanitatis“ und die, wie es Herder seinerzeit durchaus nicht naiv erkannte, „kaufmännisch-politische Geschichte der Menschheit“ erwiesen sich schnell als widerstrebige Größen.

Bereits in eine der ersten größeren ZDF-Dokumentationen zu den Kriegsereignissen vom 14. 12. 2008 sollte uns diesseits aller Humanitätsduselei bereits im Titel deutlich gemacht werden, worum es tatsächlich geht: „Machtpoker im Kaukasus“. In Gestalt einer dramaturgisch geschickt inszenierten Kriegsberichtserstattung wird der Eindruck einer vermeintlich objektiven, den Konfliktparteien gleichermaßen distanziert gegenüberstehenden Analyse der Ereignisse suggeriert. Die Genealogie des Krieges setzte in der üblichen Weise mit den manifesten Kriegshandlungen im August ein. In einem furiosen Durcheinander klischeehafter Bildfolgen wird zwar rhetorisch die Frage, „Wer ist der Gute und wer ist der Böse“, aufgeworfen, aber es gelang nicht, den historischen Kontext zu beleuchten, geschweige denn, den Konflikt in einer Entwicklungsperspektive zu deuten. Es blieb insofern nur der Eindruck einer lockeren Zusammenfassung gängiger Interpretationen, Sprachregelungen und geostrategischen Allerweltswissens.

Es ist offensichtlich, dass bei der medial umgesetzten Genealogie eines Krieges der zweifellos immer auch perspektivisch gesetzte „Beginn“ von entscheidender Bedeutung ist. Wenn wir den Konflikt lediglich mit den Ereignissen im August 2008 anfangen lassen, bekommen wir ein anderes Bild, als wenn wir die Ursprünge weiter zurück datieren. Beide Vorgehensweisen sind in jedem Fall begründungsbedürftig. Im Beitrag des ZDF wurde die erste Perspektive aber ohne Angabe von Gründen gleichsam naturwüchsig nahegelegt. Das ist weder im Sinne redlichen historischen Forschens, noch unter Gesichtspunkten eines professionellen Journalismus akzeptabel. Es wäre zumindest darauf hinzuweisen gewesen, dass viele seriöse Wissenschaftler die unmittelbaren Ursachen des Konfliktes bereits im Jahr 2004 verorten, umfassendere Forschungen einen latenten Kriegszustand seit 1992 konstatieren und verschiedene Kenner der Region darauf verweisen, dass der Konfliktbeginn sogar mit dem Jahr 1801 (mit dem Folgedatum 1921) anzusetzen wäre.

Mir geht es in meinem Vortrag nun aber nicht um die historische Genealogie des georgisch-russischen Konfliktes und seiner völkerrechtlichen Bewertung, sondern um eine Phänomenologie der Bewusstseinsformen, in denen der Konflikt wahrgenommen wird. In einer ersten Annäherung kann thesenhaft bereits vorweggenommen werden, dass offenbar Menschen, die ihr soziales Dasein in erster Linie als globale „societas civilis“ wahrnehmen, kaum noch in der Lage sind, das bewusstseinsgeschichtlich Voraussetzungsreiche dieser Lage zu begreifen. Auch die Bildproduzenten des ZDF-Beitrages, Herr Strumpf und Frau Gellinek unterliegen als Autoren des Films dieser unbewussten Denkform. Die Metaphorik des „Machtpokers“ legt von vornherein die Konfliktwahrnehmung fest: Zwei wild gewordene Diktatoren werden ins Bild gesetzt und es entsteht der Eindruck, als ob Russland und Georgien zwei gleichermaßen imperiale Mächte wären. Die bundesdeutschen Journalisten vollziehen in der Berichterstattung nur das Credo des Bundeswehrgenerals a.D. Klaus Reinhardt nach, der beide Konfliktparteien offenbar für verdiente Verlierer hält und lediglich die EU als gestärkt aus dem Konflikt hervorgehen sieht – die schickliche Strafe für Nationalisten. Damit werden die Begriffe Bild – Medium – Kultur - Kampf – Politik bereits in eine gewisse semantische Ordnung gebracht, die als symptomatisch bezeichnet werden kann und uns auch in anderen Interpretationszusammenhängen immer wieder begegnet ist. Aus der Sicht des liberalen Endzustandes dieser Welt kann es sich bei den Konflikten in der Kaukasusregion nur um atavistische, durch eine allzu intensive Identifikation mit dem kulturell Eigenen verursachte Ethnonationalismen und Machtkämpfe handeln.

Interessanterweise identifiziert nun gerade die Kulturanthropologie Bilder als affektnahe Ausdruckformen, ja, in gewisser Weise verdanken sich Kulturen insgesamt der menschlichen Einbildungskraft, d.h. sie sind Phantasieleistungen. Bereits Friedrich Schiller hatte die kulturellen Gestaltbildungen aus freien ästhetischen Urteilen abgeleitet. Nun bindet Gemeinschaften nichts so sehr nach innen und trennt von außen wie ästhetische Urteile. Die ästhetischen Urteile, die unseren Bildproduktionen zugrundeliegen, sind verantwortlich für Trennungen, Konflikte und Feindschaften. Im Sinne der Kulturanthropologie kommt dem Bild ein eigentümlicher Doppelcharakter zu. Das Bild ermöglich Distanzierung vom Unmittelbaren der Gefühle, ermöglicht gleichzeitig emotionale Identifikation, wirkt motivierend. Gerade diese Ambiguität des Bildes läßt den Menschen in Ost und West geschichtlich leben.

Die hierzulande immer noch üblichen Gegenüberstellungen von Ethnizität und liberaler Weltgesellschaft, von Emotionalität und Vernunft, von Bild und Begriff etc. werden dem komplexen kulturgeschichtlichen Geschehen nicht gerecht. In einer Europäischen Gemeinschaft, die in der kulturpsychologischen Polarität von Barosso und Berlusconi lebt, in der die liberalen Niederländer bei den Europawahlen die PVV des Rechtspopulisten Geert Wilders zur zweitstärksten politischen Kraft avancieren ließen, läßt das Klischee von (O-Ton) „bestimmten emotionalen georgischen Männern“, dass der bekannte Fernsehjournalist Dirk Sager auf einer Veranstaltung der Bucerius Law School am 4.2.2009 zum Thema „Energieriese und neue Supermacht? Russlands Rolle im 21. Jahrhundert“ vollmundig bediente, in einem fahlen Licht erscheinen. Während Sager noch eine halbe Stunde zuvor vor vulgärer Völkerpsychologie bezüglich der „russischen Seele“ gewarnt hatte, erging sich der angebliche Kaukasuskenner in bezug auf den georgischen Staatspräsidenten in einer Charakterologie auf Stammtischniveau. Im Referat Südkaukasus des Auswärtigen Amtes wurde uns in diesem Zusammenhang Anfang des Jahres mitgeteilt, dass die ethnischen Narrative im Kaukasus nun mittlerweile unerträglich seien und durch Relationierung in anderen Kontexten, beispielsweise durch Veranstaltungen mit Kaukasiern im Kosovo, wechselseitig dekonstruiert werden sollen. Es gibt offenbar Erzählungen, die aufgrund ihres vermeintlichen ethnischen Primordialismus nicht mehr angehört werden sollen. Wer sich nicht vor dem Richtstuhl einer westeuropäischen diskursiven Moral ausweisen kann, wird der „sensus humanitatis“ abgesprochen. Dass aufgrund der Bildnatur menschlicher Existenz auch hierzulande gefühlsnahe Gemeinschaft und distanzierende Gesellschaft immer wieder erneut austariert werden müssen, scheint politisch Verantwortlichen und Journalisten nicht vertraut zu sein. An dieser Stelle wird übrigens deutlich, in wie hohem Maße der eingangs erwähnte „sensus humanitatis“ gerade aufgrund der agonalen Vielfalt menschlicher Bildproduktionen politikbedürftig ist. Bilder der Humanität stellen sich nicht naturwüchsig ein. Arbeit an den Bildern ist immer auch Arbeit am politischen Gemeinwesen.

In der bundesdeutschen Wahrnehmung herrscht in der Regel die Auffassung vor, dass es zwischen retardierender Volksgemeinschaft und panhumanistischer Weltgesellschaft nichts Nennenswertes gibt. So wurde beispielsweise am 30.12.2008 in der Zeit unter dem Titel „Es sind Friedens- keine Kriegsspiele“ über die erfolgreichste deutsche Trampolinturnerin Anna Dogonadze berichtet, dass sie weiterhin gute Freundschaft zu ihren russischen Kollegen hält und 1973 in Mzcheta geboren wurde, dass - man höre und staune - „damals zur Sowjetunion“ gehörte „und nach deren Zerfall ein Teil von Georgien" wurde. Mzcheta ist nach Auffassung von Herrn Florian Zerfass, der sich nicht nur im Sportressort tummelt, sondern auch diverse Publikationen zu geopolitischen Fragen publizierte, die „Hauptstadt einer Nachbarprovinz von Südossetien“. Diese laxe Handhabung der Topographie ist symptomatisch, da es eben zwischen Ethnien und Provinzen einerseits und olympischer Verbrüderung andererseits nichts mehr gibt, worin wir uns auskennen sollten. Dass Mzcheta für nahezu 1000 Jahre bis ins 6. Jahrhundert die Hauptstadt des iberischen Königreiches und insofern für die staatliche und religiöse Entwicklung Georgiens von zentraler Bedeutung war, ist vielleicht zu politisch, zu national.

Mir geht es nun aber auch nicht darum, dass liberale „posthistoire“ durch ein Kulturkampszenario zu ersetzen, sondern darum, erkennbar werden zu lassen, dass die Krise des europäischen Machtstaates im 19. Jahrhundert uns allzu voreilig dazu veranlasst hat, uns in ein posthistorisches Utopia zu verabschieden, das noch nicht einmal in der virtuellen Welt des Internets eine echte Basis hat. Die menschliche Einbildungskraft begründet vielmehr ein geschichtliches Wechselspiel von Sinnlichkeit und Sittlichkeit, von Endlichkeit und Unendlichkeit, von orthafter Lebensform und Utopie. Die „exzentrische Positionalität des Menschen“ , wie Helmuth Plessner es nannte, verdeutlicht das Soziomoralische als anthropologisches Grenzphänomen: Der Mensch ist topisches und utopisches Wesen zugleich. Es ist das Fremdwerden des Eigenen, die ständige ethische Überschreitung der topischen Vertrautheit, d. h. unsere projektive Vernunft, zu der auch unsere Kommunikationsmedien gehören, die letztlich die `unvollendete Weltgesellschaft´ weiter vorantreibt. Es geht dabei aber immer auch um das Problem eines authentischen Selbstausdrucks des Menschen. Wenn, wie beispielsweise der hierzulande sehr bekannte Frankfurter Philosoph Jürgen Habermas meint, das Ziel einer universalistischen Ethik in der Herstellung von Übereinstimmung, d.h. „wahrem Konsens“ besteht, dann bedarf es antizipierter Bilder von einem „richtigen Leben“(1), denn Bilder sind das normative Regulativ jeder Lebensform. Die Ausdrucksanthropologie stellt den Anspruch dieser Ethik vielleicht nicht in Frage, will ihn aber konkretisieren und auf dem Boden einer konkreten Lebensform realisieren. Interessant wäre die Frage, ob sich diese Kulturen danach differenzieren ließen, wie viel Weltgesellschaft sie jeweils in sich aufzunehmen imstande sind. Ein konkreterer Universalismus ist immer auch ein universellerer Partikularismus. Aus dieser `Dialektik´ kommen wir nicht heraus. Vielmehr gilt es, die diversen partikularen Formen des Weltgesellschaftlichen herauszupräperieren und auf ihre Fruchtbarkeit hin zu untersuchen. Der agonale Zusammenhang von partikularer Sittlichkeit und universeller Ethik wird immer wieder in konkreten historischen Lebens- oder Ethosformen bildhaft, d.h. anschaulich vermittelt.

Unter diesen Gesichtspunkten geht es in dem gegenwärtigen Konflikt im Kaukasus nicht in erster Linie um ein scheinbar undurchschaubares Durcheinander ethnischer Rivalitäten, sondern darum, dass Ethnien in einem reflexiv-institutionellen Prozess auf dem Weg einer nationalen und vielleicht auch regionalen Rekonstitution sind. Es ist keine Alternative, den Georgiern u.a. den Absprung aus dieser konfliktreichen Situation in einen multiethnischen Globalismus anzuempfehlen. Diese scheinbare Option ist schon für unsere Verhältnisse mehr als zweifelhaft, für die Georgier ein politisches Vabanquespiel. Georgien ist zweifellos eine Nation auf multiethnischer Grundlage. Die Fixierung auf ethnische Heterogenität erzeugt allerdings ebenso fragwürdige Bilder wie die, die durch Metaphern wie „Machtpoker“ oder „Pulverfass“ bereits nahegelegt wurden. Wie sehr diese Perspektive aber die bundesdeutsche Sicht bestimmt, mag zugespitzt die Position des Generalsekretärs der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) Tilman Zülch belegen, wie er sie in einer Pressemitteilung vom 29. August 2008 zum Ausdruck brachte. Unter der plakativen Überschrift „Abchasien/Südossetien Minderheitenkonflikte gerecht lösen: Autonomiestatus für Abchasien - Wiedervereinigung der Osseten - Proporzregelung für alle Minderheiten - Beispielhafte Friedensinitiative für Flüchtlingsrückkehr von Außenminister Steinmeier fortsetzen!“ schlägt die GfbV vor, „das zurzeit russische Nordossetien mit dem völkerrechtlich zu Georgien gehörenden Südossetien zu vereinigen und diese Eigenstaatlichkeit durch Georgien und Russland garantieren zu lassen. Den nicht-ossetischen Nationalitäten, einschließlich der georgischen Rückkehrer, soll eine Proporzregelung nach Südtiroler Modell die Gleichberechtigung in Administration und Öffentlichem Leben garantieren.“ Ohne dies im Einzelnen kommentieren zu wollen: Eine gewisse Unkenntnis bezüglich der Gesamtproblematik, insbesondere des internationalen Rechts und ein Mangel an Vorstellungskraft, was eine derartige Lösung überhaupt bedeuten würde, ist unverkennbar.

Nun sind Ethnien weder ahistorische Urphänome, die völlig unverändert in eine Art Kulturschutzpark „Weltgesellschaft“ aufgenommen werden noch überwundene Stufen der Menschheitsgeschichte. Tatsächlich müssen immer wieder neue historische Synthesen aus universeller Zivilisationsentwicklung und der lokalen Sprache des Lebens gefunden werden. Auf Veranstaltungen des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und der Friedrich Naumann Stiftung, wo wir uns in dieser Hinsicht Aufschlussreiches erhofften, mussten wir leider erleben, wie das Bild eines ethnisch unübersichtlichen Flickenteppichs Kaukasus in Folge des Krieges weiter perpetuiert wurde. Frau Marietta König, die am IFSH promoviert und bisher durch keinerlei kaukasiologische Forschungen hervorgetreten war, wurde im Zuge der Ereignisse zur Kaukasusspezialistin, die in ihren Stellungnahmen dieses Klischee ganz besonders bediente. Diese Auffassungen wurden mittlerweile in einer Reihe von Publikationen öffentlich wirksam. Die gewissenhaften und anspruchsvollen Arbeiten von Frau Prof. Manana Tandaschwili, Sprachwissenschaftlerin an der Universität Frankfurt und anderer renommierter Fachwissenschaftler, die hier in Deutschland leben und hervorragend Deutsch sprechen, waren offenbar nicht holzschnittartig genug, um das öffentliche Interesse zu bedienen. Der komplexe multiethnische, mulilinguale und multireligiöse Zusammenhang und die Ausbildung von modernen Staatsformen im Kaukasus wird auf ein folkloristisches Niveau heruntergebrochen, dass den Ethnokonflikt auch da sucht, wo er vorher nie bestand. Beispielsweise identifizierte Frau Sarah Reinke von der besagten GfbV bereits 2006 in einer Art Memorandum die kurdischen Yezidi als verfolgte Minderheit. Tatsächlich beruht die streckenweise schlechte materielle Lage der Kurden in Georgien auf Bedingungen, von denen sämtliche Bürger des Landes betroffen sind.

Diese ethnofolkloristische Sicht korrespondiert mit völkerrechtlichen Erwägungen zum Recht auf Separation, wie sie von Prof. Otto Luchterhand vom IFSH während der Kriegsereignisse in den öffentlichen Raum gestellt wurden. Als tröstende Option wird den Georgiern immer mal wieder eine Wiederbelebung der transkaukasischen Föderation, wie sie vom 22. April bis zum 28. Mai 1918 existierte, anempfohlen, beispielsweise in der wöchentlich erscheinenden Zeitung „Freitag“. Ohne das vielleicht langfristig tatsächlich Aussichtsreiche dieser Konzeption hier diskutieren zu wollen, entspricht auch dieser Vorschlag dem geschilderten Wahrnehmungsmuster. Es wird förmlich suggeriert, dass es sich bei den Auseinandersetzungen um Abchasien und Südossetien (Schida Kartli) um einen symmetrischen Konflikt in einer herrschaftsfreien Weltgesellschaft handelt, in der diverse Volksgruppen nicht mehr zusammenleben wollen, ein autoritärer Staat diese doch ansonsten nicht verwerfliche Divergenz mit Zwangsmitteln unterdrückt, eine Großmacht als scheinbar neutraler Schiedsrichter auftritt und dabei die Interessen der angeblich unterdrückten Minderheiten vertritt. Es wird höchstens die Verhältnismäßigkeit der Mittel bestritten und dann gleichsam verschämt als Fußnote angemerkt, dass davon die Souveränitätsrechte der drangsalierten Nation nicht betroffen seien. Uwe Klußmann, Spiegel-Korrespondent in Moskau hat für die Konsolidierungsbestrebungen Georgiens nur die Metapher vom „Zerschmetterten Traum“ (Juni 2009) übrig. Aufgrund von imaginären Auskünften von Frau Heidi Tagliavini, die als Leiterin einer Kommission im Auftrag der EU die Ursachen des Kriegsausbruchs im August 2008 untersuchen soll, erklärt er Georgien zum Aggressor. Frau Tagliavani hat diese Behauptungen mittlerweile zurückgewiesen. Bereits mehrfach hat der Spiegel diese Sichtweise in der Öffentlichkeit lanciert, ohne den Abschluss der Untersuchungen abzuwarten.

Der historische Fortschritt im Sinne der Freiheit, den jede demokratisch verfasste Nation gegenüber einer Ethnie, einem Imperium, aber auch einer globalen Wirtschaftsgesellschaft darstellt, wird nicht mehr thematisiert. Ja, die begriffliche Differenzierung und die aus ihr entstehenden praktisch-politischen Verpflichtungen existieren im allgemeinen Bewusstsein kaum noch. Sowohl die Nationwerdung Georgiens als auch die Formierung einer übernationalen Kaukasusregion war und ist in erster Linie ein kultureller Prozess der Bildung und Bewusstwerdung, der Humanisierung und Differenzierung der nationalen Bildsprache, der aber der aktiven Unterstützung der anderen Nationen bedarf. Hier lässt sich sehr wohl an das Erbe eines Ilja Tschawtschawadze und eines Irakli Zereteli anknüpfen. Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Zitat von Herder vortragen, um Ihnen zu verdeutlichen, was hierzulande einmal mit Arbeit am „sensus humanitatis“ gemeint war und was als Entwurf einer modernen Medienpolitik auch heute noch bedenkenswert ist:


"Was ist Nation? Ein großer, ungejäteter Garte voll Kraut und Unkraut. Wer wollte sich dieses Sammelplatzes von Thorheiten und Fehlern so wie von Vortrefflichkeiten und Tugenden ohne Unterscheidung annehmen, und wenn es eine bloße Meinung von Seelenkräften oder Verdiensten gilt, für diese Dulcinea gegen andre Nationen den Speer brechen? Lasset uns, so viel wir können, zur Ehre der Nation beitragen; auch vertheidigen wollen wir sie, wo man ihr Unrecht tut; sie aber ex professio preisen, das halte ich für einen Selbstruhm ohne Wirkung... Offenbar ists die Anlage der Natur, dass wie ein Mensch, so auch ein Geschlecht, also auch ein Volk von und mit dem andern lerne, unaufhörlich lerne, bis alle endlich die schwere Lection gefasst haben: "kein Volk sei ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde; die Wahrheit muss von allen gesucht, der Garte des gemeinen Bodens von allen gebauet werden. Am großen Schleier der Minerva sollen alle Völker, jedes auf seiner Stelle, ohne Beeinträchtigung, ohne stolze Zwietracht wirken."


(1) Habermas, Jürgen: Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt am Main 1971, S. 154f.


Vortrag. 20.06.09 Wolhyniermuseum. Manuskript

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