Perspektiven
der wissenschaftlichen Bildung
im
21. Jahrhundert
Dr.
Frank Tremmel
„Daher
sollte die Erziehung die vielfältigen Gesichter des menschlichen
Schicksals zeigen und illustrieren. Das Schicksal der menschlichen
Art, das individuelle Schicksal, das soziale Schicksal, das
historische Schicksal, alle Schicksale vermischt und untrennbar. Eine
der wesentlichsten Aufgaben der Erziehung der Zukunft wird daher die
Untersuchung und das Studium der menschlichen Komplexität sein. Sie
sollte münden in das Erkennen, also dem Bewusstwerden der
gemeinsamen Bedingung aller Menschen und der sehr reichen und
notwendigen Verschiedenheit der Individuen, der Völker, der
Kulturen, in unserer Verwurzelung als Bürger der Erde ...“
Edgar
Morin
Die
UNESCO erklärte im Rahmen ihres Programms „Kommunikation und
Information“ die Schaffung bzw. Förderung von
„Wissensgesellschaften“ zur zentralen Aufgabe des 21.
Jahrhunderts. Eine alte und zugleich sehr lebendige Kultur sucht auch
in Georgien ihren Weg in den „anthropologischen Raum
des Wissens“ (Pierre Lévy), der sich politisch über die
Meinungs- und Pressefreiheit, den allgemeinen Zugang zu Information
und Wissen, durch Bildung für alle und die Förderung kultureller
Vielfalt konstituiert. Die vergangenen zehn Jahre waren in Georgien
durch heftige Auseinandersetzung um die Modernisierung nahezu
aller gesellschaftlicher Bereiche gekennzeichnet. Das galt auch für
die Institutionen, die im engeren Sinne mit der Hervorbringung und
Organisation des Wissens beschäftigt sind. So gehörte die
Hochschulreform zu den prominentesten Politikfeldern der 2012
abgewählten Regierung. Unabhängig davon, dass Anspruch und
Wirklichkeit nicht immer miteinander korrespondierten, fehlte es
offenkundig vor allem an einer adäquaten Selbstbeschreibung der
georgischen Gesellschaft, aus der überhaupt erst Maßstäbe von
Modernität hätten gewonnen werden können. Der
Kommunikationsprozess zwischen den kreativen Minoritäten und der
Massenkultur, den diversen soziokulturellen Milieus, zwischen
Alltags- und Expertenkulturen, den eine solche Selbstbeschreibung
voraussetzt, wurde jedoch weitestgehend administrativ unterbunden.
Stattdessen wurde von einzelnen mit der Regierung verbundenen Gruppen
in Kultur und Wissenschaft dichotome Modelle der georgischen
Wirklichkeit prolongiert und abstrakte Kulturkämpfe inszeniert, die
den komplexen Zusammenhang der verschiedenen kognitiven
(Sub-)Kulturen auseinanderrissen, der überhaupt erst eine
Wissensgesellschaft konstituiert. So wurden in den Jahren zwischen
2003 und 2013 in Georgien Stimmen laut, die eine grundsätzliche
Kritik an der Annahme übten, dass die georgische Identität vor
allem über die Lage an der Kreuzung unterschiedlicher Kulturen
zu definieren wäre. Einige jüngere Philosophen und
Kulturwissenschaftler, eng mit der 2003 an die Macht gelangten
Regierung verbunden, vermochten in der polyphonen und originären
georgischen Kultur nur noch Rückständigkeit bzw. eine
ideologisch motivierte Imagination aus sowjetischer Zeit zu
entdecken. Beispielsweise stellte der Philosoph Gigi Tevzadze, Rektor
der Ilia Tschawtschawadse Universität und prominenter Vertreter der
Wissenschaftspolitik der mittlerweile abgewählten Regierung
unter Michail Saakaschwili, in einem Vortrag am Harriman Institute an
der Columbia University in New York 2009 die These auf,
derzufolge das Bild von einer Kreuzung der Kulturen Georgien vor
allem auf einen Ort festlegt, an dem teure westliche Technologien und
billige östliche Ressourcen (menschliche sowie natürliche)
aufeinandertreffen - eine Annahme, die für die politischen und
ökonomischen Entwicklungsplanungen des Landes bis heute bestimmend
sei. Sie führe dazu, dass das wirtschaftliche Wachstum
weiterhin in erster Linie durch Privatisierungen und
Liberalisierungen zustande käme und keine wissenschafts- und
technologiebasierte, d.h. keine sich selbst tragende Entwicklung in
Gang gesetzt würde – eine These, aus der eine administrative
Strategie kognitiver Modernisierung abgeleitet wurde, die auf
eine schnelle Anpassung an sogenannte westliche Standards abzielte.
Unabhängig von der teilweise sehr eigenwilligen Interpretation
dieser Standards trug Tevsadze in seiner Funktion als
Universitätsrektor eher zur Zerschlagung der in Georgien
vorhandenen kognitiven Ressourcen bei als zu
der „Forschungsrevolution“, die der UNESCO Word
Report „Towards Knowledge Societies“ 2005
geforderte hatte. Die Ablehnung tatsächlich oder auch nur
vermeintlich fragwürdiger westöstlicher Synthesen bzw. eines
unmöglichen „dritten Zustands“ (Merab
Mamardaschwili) verblieb selbst weitestgehend in der kritisierten
Denkform und eröffnete keine Perspektive auf eine Gesellschaft, die
ihr immaterielles kulturelles Erbe auf produktive Weise mit dem
sich im 21. Jahrhundert eröffnenden Raum des Wissens zu verbinden
vermag. Dies schlug sich im Bereich der Geistes- Sozial- und
Humanwissenschaften vor allem in der Ablehnung einheimischer
Wissenschaftstraditionen nieder. Schauen wir uns die Ökologie der
georgischen Wissensgesellschaft genauer an.
Georgiens
Eingliederung in die Weltwirtschaft und der Aufbau einer
Wissensgesellschaft erfordern zweifellos auch eine Reform der
Wissenschaftspolitik, die – wie in anderen Ländern auch – eine
kritische Revision nationaler Wissenschaftstraditionen einschließt.
Das darf aber nicht auf deren Abschaffung hinauslaufen. Als der
Historiker Iwane Dschawachischwili, der Begründer der
Staatlichen Universität Tbilissi, am 30. Januar 1918 die erste
Vorlesung über „Die Persönlichkeit des Menschen und ihre
Bedeutung im altgeorgisch-philosophischen Schrifttum" hielt,
hatte diese Themenwahl programmatische Bedeutung. Neben
christlichen Traditionen griff Dschawachischwili auch Motive der
humboldtschen Bildungsidee auf, mit der er nicht zuletzt durch seine
Tätigkeit als Gastwissenschaftler an der
Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (1901/02) vertraut gewesen
sein dürfte. Humboldts Überlegungen haben im Zusammenspiel mit
jenen des Kardinals Newman zweifellos der Forschungsuniversität
des 19. Jahrhunderts den Weg geebnet. Ohne hier die „soziale
Matrix der Bildungsbewegung des deutschen Idealismus“ (Friedrich
H. Tenbruck) rekonstruieren zu können, die auch für Georgien von
einiger Bedeutung war, muss heute neu nach den
Verwirklichungsmöglichkeiten dieser Ideen gefragt werden. Weder
die oberflächliche und ritualisierte Beschwörung des
Humboldt-Mythos noch dessen wohlfeile und in der Regel nicht
besonders originelle Fundamentalkritik, die alteuropäischen
Ballast abwerfen möchte, hat bislang darauf geantwortet. Die
institutionelle Neugründung der Universität, wie sie in Georgien
nach der erneuten Erlangung der Unabhängigkeit 1991 auf der
Tagesordnung steht und bis heute nicht abgeschlossen ist, wird immer
wieder vor die Frage nach der Einheit und Autonomie des Wissens in
der Ausbildung freier Individualität gestellt. Auch die aktuellen
Diskussionen in Georgien belegen dies. Die „ideelle
Forderung der Wissens- und Lebensform der Universität“ (Helmut
Schelsky) muss in einer neuen historischen Lage auch neu erfüllt
werden. „Einsamkeit und Freiheit“, diese griffige Formel, die der
deutsche Soziologe Schelsky zur Charakterisierung der humboldtschen
Universitätsidee prägte, bedarf unter den georgischen
Bedingungen des 21. Jahrhunderts allerdings der Reformulierung und
kritischen Aneignung. Die Bildungskonzeption Humboldts ist aufs
engste mit der Idee des Kulturstaates verbunden, d.h. eines
Staates, der die relative Autonomie der Kultur auch aktiv gegen die
utilitaristischen Ansprüche und Interessen der Gesellschaft schützt.
Humboldt selbst hatte damit zugleich aber auch „Ideen zu
einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu
bestimmen“ verbunden. Jenseits
konservativ-idealistischer Interpretationen dieser Konzeption bleibt
auch heute die Aufgabe bestehen, das Verhältnis von
Kultur/Universität, Staat und Gesellschaft so zu gestalten, dass ein
Zugewinn an Freiheit und Humanität möglich bleibt. Die globale
Vergesellschaftung des Wissens ist unaufhaltsam, ebenso wie die
des Staates. Dies gilt auch umgekehrt, d.h. im Sinne einer
Verstaatlichung der Gesellschaft und des Wissens. Kultur-, Bildungs-
und und Wissenschaftspolitik haben heute mehr denn je die
Aufgabe, diese Prozesse neu zu koordinieren und Freiräume für
humane Selbstentwicklung zu schaffen. „Freiheit und
Einsamkeit“ sind nicht misszuverstehen. Weder geht es
um eine Apologie neoliberaler Wissenschaftspolitik noch um eine
Aufforderung zum weltabgewandten Eremitentum. In Humboldts berühmtem
Bericht über die Mittelschulen in Königsberg und Litauen wird die
Persönlichkeitsbildung durchaus kommunikativ verstanden und ebenso
die „Gemeinschaft der Gleichgestimmten“ betont. Es ist gerade
Humboldts Sprachphilosophie, seine „Anthropologie der
Artikulation“ (Jürgen Trabant, Matthias Jung, Guram
Ramischwili), die heute Ansätze für eine Theorie der Wissenschaften
und Bildung enthält, wie sie Schelsky neben einer Funktionsanalyse
für eine Neugründung der Universität für so wichtig hielt. Diese
Anthropologie ermöglicht es uns , über geistesaristokratischen
Überlegungen hinauszugehen, die noch einen Karl Jaspers 1945
bei seiner Interpretation der „Idee der
Universität“ leiteten, ohne andererseits das Wissen und
die Bildung in der marktförmigen Vergesellschaftung zu
zersplittern. Es ist vor allem der Gedanke der Kommunikation bei
Jaspers, der mit seinen sprach-anthropologischen, sozialen und
politischen Implikationen für eine Erneuerung der Universität
anschlussfähig ist.
Die
Krise der epistemischen Kultur Georgiens hat Ursachen, die in den
globalen Veränderungen der Forschungslandschaft, aber eben auch in
der lokalen Reaktionen auf diese Herausforderungen zu suchen sind.
Sowenig der unvermittelte Anschluss an „nationale
Schulen“ den heutigen Bedingungen entspricht, sowenig
produktiv ist offenkundig eine Wissenschaftspolitik, die keinen
Zugang zu den vitalen Tiefenschichten der georgischen Kultur findet
und seit 2005 lediglich unkritisch den umstrittenen Bologna-Prozess
exekutiert. Ohne die Situation der Human- und Kulturwissenschaften
an der Ilia Universität an dieser Stelle überzubewerten oder gar
als repräsentativ für die gesamte georgische Forschung auf
diesem Gebiet anzusehen, ist sie doch für die bisherige
Wissenschaftspolitik in mancher Hinsicht symptomatisch. Die 2013
veröffentlichten Ergebnisse eines Audits des IDFI (Institute
for Development of Freedom of Information) ergab, dass die acht in
die Ilia Universität eingegliederten Institute ihr Potential nicht
einmal ansatzweise entfalten konnten. Ein Teil der ehemaligen
Mitarbeiter verfügt nur durch die Einwerbung von Drittmitteln über
minimale Einkünfte, die übrigen arbeiten kostenlos oder wurden
entlassen. An die Stelle eines in der gesamten ehemaligen
Sowjetunion einzigartigen und berühmten Philosophischen Institutes,
an dem sich Ende der 1960er Jahre vor allem unter seinem Direktor
Nikoloz Tschawtschawadse eine eigenständige
philosophisch-anthropologische und kulturphilosophische Forschung
etablierte, trat so ein farbloses und durchschnittliches Institut, an
dem die Bibel in postmoderner Perspektive dekonstruiert wird und der
traditionell hervorragend vertretene Bereich der Philosophischen
Anthropologie durch einen auf diesem Gebiet international kaum
bekannten niederländischen Sozialanthropologen neu strukturiert
werden soll, der sich bislang offenbar vor allem mit Fragen der
Globalisierung und des Postsozialismus beschäftigt hat. Das nicht
weniger bekannte Uznadze Institut für Psychologie wurde wieder
ausgegliedert, weil es den willkürlichen Auflagen nach
unangekündigten drastischen Etatkürzungen widersprach. Seither
suchen die Mitarbeiter nach einer neuen rechtlichen Form und der
entsprechenden Finanzierung. Wertvolle und im ex-sowjetischen Bereich
einzigartige Forschungen auf nahezu allen Gebieten der
Psychologie, die selbst unter den schwierigen Bedingungen der
1990er Jahre fortgeführt wurden, sind hochgradig gefährdet. Die
gegenwärtige psychologische Forschung und Lehre an der Ilia
Universität ist dagegen nicht durch nennenswerte internationale
Leistungen oder ein besonders eigenständiges Profil hervorgetreten.
Anstelle der von Tevsadze u.a. kritisierten unproduktiven
ostwestlichen Konstellation ist zumindest für den Bereich der Human-
und Kulturwissenschaft eine noch wesentlich unfruchtbarere
Forschungslandschaft entstanden. Auch das an der Ilia Universität
angesiedelte und zumindest programmatisch interdisziplinär
angelegte „Institut für die Genealogie der Moderne“ trat
bislang lediglich mit einem Potpourri unterschiedlichster
Publikationen in georgischer Sprache hervor, die eine langfristige
und systematische Forschungsstrategie vermissen lassen. So wie an der
Ilia Universität wurde auch andernorts in Georgien durch die
vermeintliche Förderung von Mobilität, internationaler
Wettbewerbs- und Beschäftigungsfähigkeit eine Erneuerung und
Weiterentwicklung nationaler Wissenschaftstraditionen eher
verhindert. Der zunehmende Zerfall und die Plünderung der teilweise
unter rechtlich dubiosen Bedingungen erworbenen Immobilien und
Gebäude, die enormen nicht genutzten Aktiva, die unrentabel
arbeitenden Vorzeigeprojekte der Ilia Universität etc. geben
insofern ein charakteristisches Bild der georgischen
Forschungslandschaft, deren Morphologie vor allem durch ein
bewusst herbeigeführtes Gefälle zu den epistemischen Machtzentren
in Westeuropa und den USA gekennzeichnet ist. Dazu trägt auch das in
Georgien geförderte „Publish-or-Perish-Paradigma“ noch
bei, das die Qualität der Lehre weiter absenkt und die gemeinsame
Erarbeitung neuer Wissensfelder durch Lehrende und Lernende
erschwert. Der von Tevzadze u.a. angeführte Science Citation
Index (SCI) als Beleg für die Fortschritte der georgischen
Wissenschaftskultur mutet geradezu grotesk an. Die einseitige
und schematische Favorisierung des Englischen trägt bei eh schon
verbreiteter Bilingualität in der georgischen Wissenschaftssprache
(Russisch/Georgisch) zur weiteren Fragmentierung der
epistemischen Kultur bei. Die Reflexmodernisierung der letzten zehn
Jahre hat die Fähigkeit zur Selbstorganisation des Wissens in
Georgien erheblich geschwächt. Die immer wieder rhetorisch im
Munde geführte „Nachhaltigkeit“ wurde sowohl
von georgischer Seite als auch durch die westliche
Wissenschaftspolitik oftmals sträflich vernachlässigt. Im Verbund
mit westlichen Stiftungen und Regierungsorganisationen wurde so
zumindest teilweise eine deformierte Wissenskultur und ein
epistemisches Gefälle geschaffen, die externe Expertise dauerhaft
plausibel erscheinen lassen und die einheimische Elitenkorruption
fördern. Kollektive kognitive Potentiale, die unter den Bedingungen
der gewiss nicht unproblematischen sowjetischen Wissenschaftspolitik
entstanden waren und sich durch die ersten, nicht weniger schweren
Jahre der neu errungenen Unabhängigkeit erhielten, wurden
systematisch zerstört. Kultur- und Wissenschaftspolitik kam in
vielen Bereichen eher einer „Entwicklung der
Unterentwicklung“ (André Gunder Frank) gleich.
Unter
den Bedingungen der Globalisierung, d.h. vor allem der Ausweitung der
Warenproduktion und der Zirkulationsprozesse in Verbindung mit der
wissenschaftlich-technischen Revolution, wurde zunächst vor
allem ein de-kontextualisiertes Wissen („dis-embedded knowledge“)
favorisiert, das den neuen Kognitionstechnologien entsprach. Die
historisch-philologisch orientierten Geisteswissenschaften, die
das Erbe der idealistischen Bildungsbewegung angetreten hatten,
gerieten in die Defensive. Der Dualismus von Natur- und
Geisteswissenschaften, der die nachidealistische
Wissenschaftsauffassung prägt, verschärft sich unter den
Bedingungen der gegenwärtigen epistemische Kultur Georgiens.
Die sich ausdifferenzierenden Wissensformen und Wissenschaftsmilieus
unterliegen der Gegensätzlichkeit der „Zwei
Kulturen“, wie sie C.P. Snow 1959 in seiner „Rede
Lecture“ an der Universität Cambridge unterschied. Die
lange Zeit vorherrschende literarische Bildung der urbanen
Intellektuellen und die naturwissenschaftlichen Denkformen stehen
sich weiterhin unverbunden gegenüber. Die indigenen
Wissensformen gelten als rückständig und der Gedanke,
dass „kulturelle Vielfalt“, wie es im
UNESCO-Weltbericht heißt, „überhaupt nicht unvereinbar
mit Fortschritt oder Entwicklung“ (UNESCO-Weltbericht
2005, S. 252) sei, hat in der georgischen Universität bislang keine
Basis. Die beschleunigte „Signalökonomie“ (Harry
Pross) bringt ein fragmentiertes Wissen hervor, das zwar der
schnellen Sondierung unterschiedlichster Informationssorten
dient, aber den „ethisch-mythischen Kern“ (Paul
Ricœur) lokaler Kulturen, das Erleben und das implizite Können
lediglich ideologiekritisch berücksichtigt bzw. kulturindustriell
trivialisiert. Die globalen Wirtschaftsprozesse erfordern zwar
auch ein wachsendes interkulturelles Wissen, das allerdings
weitestgehend instrumentell bleibt, sofern es lediglich kurzfristigen
Verwertungsinteressen unterliegt. Die fundamentalistischen Reaktionen
einer allerdings eher im Programmatischen verbleibenden
Indigenisierung des Wissens ließen nicht auf sich warten. Das
vorherrschende dichotome Kulturmodell des Westens wird im
Übergang zur globalen Kommunikations- und Netzwerkgesellschaft aus
der Sicht bestimmter Machtgruppen in Georgien zum „Kampf
der Kulturen“ hypostasiert. Kulturbewegung und
Zivilisationsprozess werden nicht als aufeinander bezogene
Dimensionen der sich ausdifferenzierenden Soziosphäre sondern als
reifizierte Entitäten wahrgenommen. Die postmoderne
Pluralisierung des Wissens wiederum reflektiert ungenügend auf die
sozialen Bedingungen der Ausbildung von Urteilskraft
(Jean-François Lyotard), die sinnvolle Unterscheidungen überhaupt
erst ermöglicht. Die in den letzten Jahren in Georgien stark
geförderten Wirtschaftswissenschaften sind nicht in der Lage
gewesen, eine intermediäre „episteme“ zu
entfalten. Der Industrielle Kacha Bendukidse hat mit seiner
"Wissensstiftung" und mit den von ihm unterstützten
Universitäten (Freie Universität Tbilissi, Georgische
Agrarwissenschaftliche Universität) vor allem neoliberale Ansätze
gefördert. Es darf allerdings bezweifelt werden, dass Friedrich
August von Hayeks zweifellos diskutiertenswerte Theorie der
Wissensordnungen als Basis für eine interdisziplinäre Forschung
bzw. für den Aufbau einer georgischen Wissengesellschaft taugt.
Kosmologisch überhöhte Marktmechanismen können das
individualisierte, verstreute Wissen nur sehr bedingt
zusammenführen. Ähnlich problematisch steht es mit den
vernachlässigten Sozialwissenschaften, die zuweilen als „dritte
Kultur“ (Wolf Lepenies) bezeichnet wurden. Unter
US-amerikanischen und westeuropäischen Bedingungen entstandene Theorien und Kategorien wurden eifrig rezipiert, trugen aber
nur wenig zur Selbstbeschreibung der georgischen Gesellschaft bei.
Die teilweise neu entstandenen fächerübergreifenden „cultural
studies“ haben diesen Gegensatz sogar noch verstärkt,
zumal sie sich oftmals in scheinpolitische Auseinandersetzungen
(„cultural wars“) verstrickten und den Bezug zur
georgischen Wirklichkeit verloren. Insgesamt befindet sich die
epistemische Ökologie der georgischen Gesellschaft in einem
erheblichen Ungleichgewicht, das „Hypertrophien“ bei
gleichzeitiger Zerstörung der „Artenvielfalt“ zeitigt.
Wissenschaftsprojekte, die strukturbildend an einer Sanierung
arbeiten und zur Etablierung einer eigenständigen georgischen
Wissensgesellschaft beitragen, sind kaum vorhanden. Ausnahmen,
wie das von der Psychologin und Philosophin Lali Surmanidze a an der
Staatlichen Iwane Dschawachischwili Universität etablierte
interdisziplinäre Doktorandenprogramm „Psychologische
Anthropologie“ bestätigen die Regel. Der für die
Geisteswissenschaften so wichtige Übergang zu einer integralen
Anthropologie, in der die einzelnen Disziplinen neu koordiniert und
metatheoretisch aufeinander bezogen werden, hat nicht stattgefunden.
Die dazu in Georgien bereits vorhandenen Potentiale wurden nicht
genutzt. Die fraglose Übernahme westlicher Modelle der
Wissensorganisation hat die Krise nicht nur verstärkt, sondern
teilweise überhaupt erst hervorgerufen.
Alles
spricht dafür, dass neue mutige Schritte erforderlich sind, um aus
dieser Situation herauszukommen. Gerade im Bereich der
Philosophie und der Geisteswissenschaften sind durch die rasanten
Fortschritte der Bio-, Neuro- und Kognitionswissenschaften
Veränderungen in der Koordination der Disziplinen und der
grundlagentheoretischen Gesamtausrichtung unvermeidlich geworden.
Zugleich ist die Forschung in veränderte soziale Praxisformen
eingebettet, die auch neue Formen der Forschungsorganisation
erforderlich machen. Interdisziplinarität wird zu grundlegenden
Strukturkomponente einer sich entwickelnden Human- und
Kulturwissenschaft. Zugleich werden Fragen nach einer Humanisierung
der Wissenschaften aufgeworfen, die im Raum der Universität nicht
ungehört verhallen dürfen. Eine derartige Ausrichtung ist
allerdings an der Ilia Tschawtschawadse Universität, dem
wissenschaftspolitischen Vorzeigeprojekt der vergangenen Jahre, nicht
sichtbar, wenngleich sich ihr Rektor in einer knapp einhundert Seiten
starken und auf Englisch publizierten Schrift noch 2013 an einer
interdisziplinären Theorie der Anthropogenese versucht hat, die von
einigen von ihm protegierten Wissenschaftlern geradezu hymnisch
als Neuanfang auf diesem Gebiet gefeiert wird. Die Arbeit enthält
keinerlei Bezug auf die in Georgien bereits geleistete Arbeit auf
diesem Gebiet. Von einer ernsthaft mit den Fachwissenschaften
korrespondierenden interdisziplinären Anthropologie kann keine
Rede sein, eher von einem feuilletonistischen Amalgam aus
Evolutionsbiologie und postmoderner Narratologie. So willkürlich
wie Tevzadze seine privaten Lesefrüchte zu einer Anthropologie
zusammenfügt, so willkürlich ist seine Leitung der gesamten
Universität. Um aus dieser Krise herauszukommen, ist es
erforderlich die von ihm 2009 in New York so einseitig beantwortete
Frage nach dem Ort der georgischen Episteme neu aufzuwerfen und zu
beantworten. Die Erzeugung von Wissen ist nicht allein durch
eine rationale intrinsische „episteme“ bestimmt,
sie ist Teil eines umfassenden Lebensprozesses, der soziale
Interaktionen, alltägliche Erfahrungen und kulturelle Einflüsse
einschließt (Karin Knorr Cetina). Die heutigen epistemischen
Kulturen sind weltweit aus sehr unterschiedlichen Mischungen
soziokultureller, kognitiver und emotional-motivationaler Komponenten
hervorgegangen. Sie sind, wie der in Tunis geborene
französischsprachige Philosoph Pierre Lévy nahelegt, sowohl
genetisch als auch phänomenologisch das Resultat sich
überschneidender „anthropologischer Räume“, denen
auch unterschiedliche „Epistemologien“ zugeordnet
sind. Lévys sozial-phänomenologische Unterscheidung eines Raums
der „Erde“, des „Territoriums“,
der „Waren“ und des „Wissens“ und
die ihnen entsprechenden Epistemologien der Intuition und des in
der Ethnie verkörperten Gedächtnisses, der Dialektik von Erfahrung
und Theorie, der Technowissenschaft und des sich erst in Ansätzen
abzeichnenden lebendigen Wissens, das Lévy
als „Kosmopädie“ bezeichnet, haben ihre
Entsprechungen in der epistemischen Kultur Georgien. Gerade die
Suche nach einer „allgemeinen menschlichen Ökologie“,
nach einer „Kunst, die Beziehungen zwischen den vier
anthropologischen Räumen harmonisch zu gestalten“ zeichnete
die fortgeschrittensten Ansätze der georgischen Philosophie und
Humanwissenschaften aus. Auch in diesem Sinne kann Georgien als
ein Ort an der Schnittstelle höchst gegensätzlicher geistiger
Trajektorien verstanden werden, als ein Land, in dem das Denken schon
sehr früh zwischen Ratio und Sensus, zwischen Lebensweisheit und
wissenschaftlicher Erkenntnis zu vermitteln wusste. „Tatsächlich
setzt das Entstehen echter `Wissensgesellschaften´ eine Vielfalt an
Wissensformen und -quellen voraus, was auch indigenes
Wissen [...] einschließt“ (UNESCO-Weltbericht
2005, S. 252).
Die
Vielfalt des Wissens und deren Einheit können nur in einem Raum der
Freiheit realisiert werden. Seit den artes liberales der
mittelalterlichen europäischen Universität meint dies zunächst die
Freiheit vom Broterwerb, d.h. der Freiheit von unmittelbaren
ökonomischen Zwängen. Es ist eine paradoxe Wahrheit, dass die
Wissenschaften ihren Nutzen für die Gesellschaft nur erbringen
können, wenn sie nicht nützlich sein müssen. Es ist diese
Auffassung, die auch Friedrich Schillers Antrittsvorlesung in
Jena am 26./27. Mai 1789 zugrunde liegt. Seine Polemik gegen
den „Brotgelehrten“, der keinen Zweck seines Wirkens
kennt und dennoch die Zwecklosigkeit nicht ertragen kann, und seine
Lobpreisung des „philosophischen Kopfes“, der die
Wahrheit mehr liebt als das System, ist eine der Gründungsurkunden
der idealistischen Bildungsidee. Freiheit verbindet sich hier mit der
Aufforderung, „unsere Tätigkeit an das große Ganze der
Welt anzuschließen“ (Friedrich Schiller). Das Ganze in
Freiheit zu denken scheint in einer globalen Ära, die gewissermaßen
Schillers universalhistorischem Anspruch in vielem doch
entspricht, schwerer als im 18. Jahrhundert. Wir wissen heute mehr
von der Differenziertheit des „großen Ganzen“, d.h.
von der Vielfalt der partikularen Gruppen und ihrer jeweiligen
kognitiven Systeme (Georges Gurvitch). Die Legitimität der
akademischen Freiheit war jedoch an diesen Anspruch einer
universalen Wahrheit gebunden. Daraus leitet sich der Anspruch der
Universität als eines exterritorialen, zweck- und staatsfreien Raums
ab. Nur wenn es gelingt, eine Universalität des Wissens
wiederzugewinnen, die sich den falschen Totalitätsansprüchen
des 20. Jahrhunderts entzieht, kann die akademische Freiheit
gerechtfertigt werden, wie sie der Physiker und Physiologe Hermann
von Helmholtz in seiner berühmten Rede zum Antritt Rektorats an der
Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. Oktober 1877 noch
einmal so eindrucksvoll beschwor. Die epistemischen Systeme der
Ethnien, der Klassen, der Staaten und der Märkte, die unsere Epoche
bestimmten, können diese Universalität nicht verbürgen. Wo ließe
sich dies besser dokumentieren als in der Kaukasusregion? Aber auch
das postmoderne Misstrauen gegen die Ansprüche des Universalen
hilft hier nicht weiter. Denn auch der Verzicht auf das ideologische
Einheitsdenken wird von der eindimensionalen
ökonomisch-technologischen Wirklichkeit durchdrungen, die unsere
geistigen Ideale ersetzt. Bereits Alfred Weber, der sich nach 1945 in
den Heidelberger Zusammenhängen mit Karl Jaspers in der
Notwendigkeit einer Erneuerung der deutschen Universitätsidee einig
wusste, forderte deshalb dazu auf, „Modifikationen an der
alten Idee der Dominanz des Personprinzips und des Universalismus an
den Universitäten vorzunehmen“ (Alfred Weber, 247). Die
vorurteilslose Anerkennung, in einem "Zeitalter der Massen"
(Serge Moscovici) zu leben und die Einsicht, dass die
Wissenschaft „die letzten eigentlich orientierenden
Weltfragen nicht zu beantworten vermag“ (Ders., 247f.),
hatten ihn bewogen, sich der demokratischen Arbeiterbewegung
anzuschließen und den damals bereits abzeichnenden Vorfomen eines
nihilistischen Postmodernismus die Suche nach "immanenter
Transzendenz" entgegenzustellen. Daraus leitete er auch
sein Zukunftsprogramm universeller Wissensvermittlung ab, das eine
interdisziplinäre historisch-anthropologische Grundlagen-Reflexion,
die deutliche Orientierung auf sozialpolitische Zielsetzungen im
Sinne einer konsequenten Demokratisierung und eine geistige
Erneuerung vorsah. Darin bleibt er aktuell. Georgiens Universitäten
bedürfen eines Programms, dass die technologisch gestützte
Wissensgesellschaft mit den vitalen Tiefendimensionen unseres
Menschseins verbindet. Die Eingliederung in den „europäischen
Bildungsraum“ bliebe ein technokratisches Projekt, wenn
die Georgier ihre historischen Erfahrungen im Kampf um
Demokratie, die Vielfalt ihrer Wissenskulturen und ihrer geistigen
Aspirationen nicht einbringen dürften. Die Universität ist ein
kulturelles Projekt, dass auf den modernen Zivilisationsprozess
angewiesen ist, aber nicht durch ihn begründet werden kann. Ihre
Gründung ist ein Akt geistiger Freiheit. Sie wird uns nicht
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