Dienstag, 20. August 2013

Der globale Raum des Wissens, die anthropologische Einheit der Episteme und die Zukunft der georgischen Universitäten

Perspektiven der wissenschaftlichen Bildung
im 21. Jahrhundert

Dr. Frank Tremmel

Daher sollte die Erziehung die vielfältigen Gesichter des menschlichen Schicksals zeigen und illustrieren. Das Schicksal der menschlichen Art, das individuelle Schicksal, das soziale Schicksal, das historische Schicksal, alle Schicksale vermischt und untrennbar. Eine der wesentlichsten Aufgaben der Erziehung der Zukunft wird daher die Untersuchung und das Studium der menschlichen Komplexität sein. Sie sollte münden in das Erkennen, also dem Bewusstwerden der gemeinsamen Bedingung aller Menschen und der sehr reichen und notwendigen Verschiedenheit der Individuen, der Völker, der Kulturen, in unserer Verwurzelung als Bürger der Erde ...“
Edgar Morin


Die UNESCO erklärte im Rahmen ihres Programms „Kommunikation und Information“ die Schaf­fung bzw. Förderung von „Wissensgesellschaften“ zur zentralen Aufgabe des 21. Jahrhunderts. Eine alte und zugleich sehr lebendige Kultur sucht auch in Georgien ihren Weg in den „anthropologi­schen Raum des Wissens“ (Pierre Lévy), der sich politisch über die Meinungs- und Pressefreiheit, den allgemeinen Zugang zu Information und Wissen, durch Bildung für alle und die Förderung kul­tureller Vielfalt konstituiert. Die vergangenen zehn Jahre waren in Georgien durch heftige Ausein­andersetzung um die Modernisierung nahezu aller gesellschaftlicher Bereiche gekennzeichnet. Das galt auch für die Institutionen, die im engeren Sinne mit der Hervorbringung und Organisation des Wissens beschäftigt sind. So gehörte die Hochschulreform zu den prominentesten Politikfeldern der 2012 abgewählten Regierung. Unabhängig davon, dass Anspruch und Wirklichkeit nicht immer miteinander korrespondierten, fehlte es offenkundig vor allem an einer adäquaten Selbstbeschrei­bung der georgischen Gesellschaft, aus der überhaupt erst Maßstäbe von Modernität hätten ge­wonnen werden können. Der Kommunikationsprozess zwischen den kreativen Minoritäten und der Massenkultur, den diversen soziokulturellen Milieus, zwischen Alltags- und Expertenkulturen, den eine solche Selbstbeschreibung voraussetzt, wurde jedoch weitestgehend administrativ unterbun­den. Stattdessen wurde von einzelnen mit der Regierung verbundenen Gruppen in Kultur und Wis­senschaft dichotome Modelle der georgischen Wirklichkeit prolongiert und abstrakte Kulturkämpfe inszeniert, die den komplexen Zusammenhang der verschiedenen kognitiven (Sub-)Kulturen aus­einanderrissen, der überhaupt erst eine Wissensgesellschaft konstituiert. So wurden in den Jahren zwischen 2003 und 2013 in Georgien Stimmen laut, die eine grundsätzliche Kritik an der Annahme übten, dass die georgische Identität vor allem über die Lage an der Kreuzung unterschiedlicher Kul­turen zu definieren wäre. Einige jüngere Philosophen und Kulturwissenschaftler, eng mit der 2003 an die Macht gelangten Regierung verbunden, vermochten in der polyphonen und originären geor­gischen Kultur nur noch Rückständigkeit bzw. eine ideologisch motivierte Imagination aus sowjeti­scher Zeit zu entdecken. Beispielsweise stellte der Philosoph Gigi Tevzadze, Rektor der Ilia Tschawtschawadse Universität und prominenter Vertreter der Wissenschaftspolitik der mittlerweile abgewählten Re­gierung unter Michail Saakaschwili, in einem Vortrag am Harriman Institute an der Columbia Uni­versity in New York 2009 die These auf, derzufolge das Bild von einer Kreuzung der Kulturen Georgien vor allem auf einen Ort festlegt, an dem teure westliche Technologien und billige östli­che Ressourcen (menschliche sowie natürliche) aufeinandertreffen - eine Annahme, die für die po­litischen und ökonomischen Entwicklungsplanungen des Landes bis heute bestimmend sei. Sie füh­re dazu, dass das wirtschaftliche Wachstum weiterhin in erster Linie durch Privatisierungen und Li­beralisierungen zustande käme und keine wissenschafts- und technologiebasierte, d.h. keine sich selbst tragende Entwicklung in Gang gesetzt würde – eine These, aus der eine administrative Stra­tegie kognitiver Modernisierung abgeleitet wurde, die auf eine schnelle Anpassung an sogenannte westliche Standards abzielte. Unabhängig von der teilweise sehr eigenwilligen Interpretation die­ser Standards trug Tevsadze in seiner Funktion als Universitätsrektor eher zur Zerschlagung der in Ge­orgien vorhandenen kognitiven Ressourcen bei als zu der „Forschungsrevolution“, die der UNESCO Word Report „Towards Knowledge Societies“ 2005 geforderte hatte. Die Ablehnung tatsächlich oder auch nur vermeintlich fragwürdiger westöstlicher Synthesen bzw. eines unmöglichen „dritten Zustands“ (Merab Mamardaschwili) verblieb selbst weitestgehend in der kritisierten Denkform und eröffnete keine Perspektive auf eine Gesellschaft, die ihr immaterielles kulturelles Erbe auf produk­tive Weise mit dem sich im 21. Jahrhundert eröffnenden Raum des Wissens zu verbinden vermag. Dies schlug sich im Bereich der Geistes- Sozial- und Humanwissenschaften vor allem in der Ableh­nung einheimischer Wissenschaftstraditionen nieder. Schauen wir uns die Ökologie der georgischen Wissensgesellschaft genauer an.

Georgiens Eingliederung in die Weltwirtschaft und der Aufbau einer Wissensgesellschaft erfordern zweifellos auch eine Reform der Wissenschaftspolitik, die – wie in anderen Ländern auch – eine kritische Revision nationaler Wissenschaftstraditionen einschließt. Das darf aber nicht auf deren Abschaffung hinauslaufen. Als der Historiker Iwane Dschawachischwili, der Begründer der Staatli­chen Universität Tbilissi, am 30. Januar 1918 die erste Vorlesung über „Die Persönlichkeit des Men­schen und ihre Bedeutung im altgeorgisch-philosophischen Schrifttum" hielt, hatte diese Themen­wahl programmatische Bedeutung. Neben christlichen Traditionen griff Dschawachischwili auch Motive der humboldtschen Bildungsidee auf, mit der er nicht zuletzt durch seine Tätigkeit als Gast­wissenschaftler an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (1901/02) vertraut gewesen sein dürfte. Humboldts Überlegungen haben im Zusammenspiel mit jenen des Kardinals Newman zwei­fellos der Forschungsuniversität des 19. Jahrhunderts den Weg geebnet. Ohne hier die „soziale Matrix der Bildungsbewegung des deutschen Idealismus“ (Friedrich H. Tenbruck) rekonstruieren zu können, die auch für Georgien von einiger Bedeutung war, muss heute neu nach den Verwirkli­chungsmöglichkeiten dieser Ideen gefragt werden. Weder die oberflächliche und ritualisierte Be­schwörung des Humboldt-Mythos noch dessen wohlfeile und in der Regel nicht besonders originel­le Fundamentalkritik, die alteuropäischen Ballast abwerfen möchte, hat bislang darauf geantwor­tet. Die institutionelle Neugründung der Universität, wie sie in Georgien nach der erneuten Erlan­gung der Unabhängigkeit 1991 auf der Tagesordnung steht und bis heute nicht abgeschlossen ist, wird immer wieder vor die Frage nach der Einheit und Autonomie des Wissens in der Ausbildung freier Individualität gestellt. Auch die aktuellen Diskussionen in Georgien belegen dies. Die „ideelle Forderung der Wissens- und Lebensform der Universität“ (Helmut Schelsky) muss in einer neuen historischen Lage auch neu erfüllt werden. „Einsamkeit und Freiheit“, diese griffige Formel, die der deutsche Soziologe Schelsky zur Charakterisierung der humboldtschen Universitätsidee prägte, be­darf unter den georgischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts allerdings der Reformulierung und kritischen Aneignung. Die Bildungskonzeption Humboldts ist aufs engste mit der Idee des Kultur­staates verbunden, d.h. eines Staates, der die relative Autonomie der Kultur auch aktiv gegen die utilitaristischen Ansprüche und Interessen der Gesellschaft schützt. Humboldt selbst hatte damit zugleich aber auch „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestim­men“ verbunden. Jenseits konservativ-idealistischer Interpretationen dieser Konzeption bleibt auch heute die Aufgabe bestehen, das Verhältnis von Kultur/Universität, Staat und Gesellschaft so zu gestalten, dass ein Zugewinn an Freiheit und Humanität möglich bleibt. Die globale Vergesell­schaftung des Wissens ist unaufhaltsam, ebenso wie die des Staates. Dies gilt auch umgekehrt, d.h. im Sinne einer Verstaatlichung der Gesellschaft und des Wissens. Kultur-, Bildungs- und und Wissen­schaftspolitik haben heute mehr denn je die Aufgabe, diese Prozesse neu zu koordinieren und Frei­räume für humane Selbstentwicklung zu schaffen. „Freiheit und Einsamkeit“ sind nicht misszuver­stehen. Weder geht es um eine Apologie neoliberaler Wissenschaftspolitik noch um eine Aufforderung zum weltabgewandten Eremitentum. In Humboldts berühmtem Bericht über die Mittelschulen in Königsberg und Litauen wird die Persönlichkeitsbildung durchaus kommunikativ verstanden und ebenso die „Gemeinschaft der Gleichgestimmten“ betont. Es ist gerade Humboldts Sprachphilosophie, seine „Anthropologie der Artikulation“ (Jürgen Trabant, Matthias Jung, Guram Ramischwili), die heute Ansätze für eine Theorie der Wissenschaften und Bildung enthält, wie sie Schelsky neben einer Funktionsanalyse für eine Neugründung der Universität für so wichtig hielt. Diese Anthropologie ermöglicht es uns , über geistesaristokratischen Überlegungen hinauszuge­hen, die noch einen Karl Jaspers 1945 bei seiner Interpretation der „Idee der Universität“ leiteten, ohne andererseits das Wissen und die Bildung in der marktförmigen Vergesellschaftung zu zersplit­tern. Es ist vor allem der Gedanke der Kommunikation bei Jaspers, der mit seinen sprach-anthropo­logischen, sozialen und politischen Implikationen für eine Erneuerung der Universität anschlussfä­hig ist.

Die Krise der epistemischen Kultur Georgiens hat Ursachen, die in den globalen Veränderungen der Forschungslandschaft, aber eben auch in der lokalen Reaktionen auf diese Herausforderungen zu suchen sind. Sowenig der unvermittelte Anschluss an „nationale Schulen“ den heutigen Bedingun­gen entspricht, sowenig produktiv ist offenkundig eine Wissenschaftspolitik, die keinen Zugang zu den vitalen Tiefenschichten der georgischen Kultur findet und seit 2005 lediglich unkritisch den umstrittenen Bologna-Prozess exekutiert. Ohne die Situation der Human- und Kulturwissenschaf­ten an der Ilia Universität an dieser Stelle überzubewerten oder gar als repräsentativ für die ge­samte georgische Forschung auf diesem Gebiet anzusehen, ist sie doch für die bisherige Wissen­schaftspolitik in mancher Hinsicht symptomatisch. Die 2013 veröffentlichten Ergebnisse eines Au­dits des IDFI (Institute for Development of Freedom of Information) ergab, dass die acht in die Ilia Universität eingegliederten Institute ihr Potential nicht einmal ansatzweise entfalten konnten. Ein Teil der ehemaligen Mitarbeiter verfügt nur durch die Einwerbung von Drittmitteln über minimale Einkünfte, die übrigen arbeiten kostenlos oder wurden entlassen. An die Stelle eines in der gesam­ten ehemaligen Sowjetunion einzigartigen und berühmten Philosophischen Institutes, an dem sich Ende der 1960er Jahre vor allem unter seinem Direktor Nikoloz Tschawtschawadse eine eigenstän­dige philosophisch-anthropologische und kulturphilosophische Forschung etablierte, trat so ein farbloses und durchschnittliches Institut, an dem die Bibel in postmoderner Perspektive dekonstruiert wird und der traditionell hervorragend vertretene Bereich der Philosophischen Anthropologie durch einen auf diesem Gebiet international kaum bekannten niederländischen Sozialanthropolo­gen neu strukturiert werden soll, der sich bislang offenbar vor allem mit Fragen der Globalisierung und des Postsozialismus beschäftigt hat. Das nicht weniger bekannte Uznadze Institut für Psycholo­gie wurde wieder ausgegliedert, weil es den willkürlichen Auflagen nach unangekündigten drasti­schen Etatkürzungen widersprach. Seither suchen die Mitarbeiter nach einer neuen rechtlichen Form und der entsprechenden Finanzierung. Wertvolle und im ex-sowjetischen Bereich einzigarti­ge Forschungen auf nahezu allen Gebieten der Psychologie, die selbst unter den schwierigen Be­dingungen der 1990er Jahre fortgeführt wurden, sind hochgradig gefährdet. Die gegenwärtige psy­chologische Forschung und Lehre an der Ilia Universität ist dagegen nicht durch nennenswerte in­ternationale Leistungen oder ein besonders eigenständiges Profil hervorgetreten. Anstelle der von Tevsadze u.a. kritisierten unproduktiven ostwestlichen Konstellation ist zumindest für den Bereich der Human- und Kulturwissenschaft eine noch wesentlich unfruchtbarere Forschungslandschaft entstanden. Auch das an der Ilia Universität angesiedelte und zumindest programmatisch interdis­ziplinär angelegte „Institut für die Genealogie der Moderne“ trat bislang lediglich mit einem Pot­pourri unterschiedlichster Publikationen in georgischer Sprache hervor, die eine langfristige und systematische Forschungsstrategie vermissen lassen. So wie an der Ilia Universität wurde auch an­dernorts in Georgien durch die vermeintliche Förderung von Mobilität, internationaler Wettbe­werbs- und Beschäftigungsfähigkeit eine Erneuerung und Weiterentwicklung natio­naler Wissenschaftstraditionen eher verhindert. Der zunehmende Zerfall und die Plünderung der teilweise unter rechtlich dubiosen Bedingungen erworbenen Immobilien und Gebäude, die enor­men nicht genutzten Aktiva, die unrentabel arbeitenden Vorzeigeprojekte der Ilia Universität etc. geben insofern ein charakteristisches Bild der georgischen Forschungslandschaft, deren Morpholo­gie vor allem durch ein bewusst herbeigeführtes Gefälle zu den epistemischen Machtzentren in Westeuropa und den USA gekennzeichnet ist. Dazu trägt auch das in Georgien geförderte „Publish-or-Perish-Paradigma“ noch bei, das die Qualität der Lehre weiter absenkt und die gemeinsame Er­arbeitung neuer Wissensfelder durch Lehrende und Lernende erschwert. Der von Tevzadze u.a. an­geführte Science Citation Index (SCI) als Beleg für die Fortschritte der georgischen Wissenschafts­kultur mutet geradezu grotesk an. Die einseitige und schematische Favorisierung des Englischen trägt bei eh schon verbreiteter Bilingualität in der georgischen Wissenschaftssprache (Russisch/Ge­orgisch) zur weiteren Fragmentierung der epistemischen Kultur bei. Die Reflexmodernisierung der letzten zehn Jahre hat die Fähigkeit zur Selbstorganisation des Wissens in Georgien erheblich ge­schwächt. Die immer wieder rhetorisch im Munde geführte „Nachhaltigkeit“ wurde sowohl von georgischer Seite als auch durch die westliche Wissenschaftspolitik oftmals sträflich vernachlässigt. Im Verbund mit westlichen Stiftungen und Regierungsorganisationen wurde so zumindest teilweise eine defor­mierte Wissenskultur und ein epistemisches Gefälle geschaffen, die externe Expertise dauerhaft plausibel erscheinen lassen und die einheimische Elitenkorruption fördern. Kollektive kognitive Potentiale, die unter den Bedingungen der gewiss nicht unproblematischen sowjetischen Wissen­schaftspolitik entstanden waren und sich durch die ersten, nicht weniger schweren Jahre der neu errungenen Unabhängigkeit erhielten, wurden systematisch zerstört. Kultur- und Wissenschaftspolitik kam in vielen Bereichen eher einer „Entwicklung der Unterentwicklung“ (André Gunder Frank) gleich.

Unter den Bedingungen der Globalisierung, d.h. vor allem der Ausweitung der Warenproduktion und der Zirkulationsprozesse in Verbindung mit der wissenschaftlich-technischen Revoluti­on, wurde zunächst vor allem ein de-kontextualisiertes Wissen („dis-embedded knowledge“) favorisiert, das den neuen Kognitionstechnologien entsprach. Die historisch-philologisch orientierten Geistes­wissenschaften, die das Erbe der idealistischen Bildungsbewegung angetreten hatten, gerieten in die Defensive. Der Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften, der die nachidealistische Wis­senschaftsauffassung prägt, verschärft sich unter den Bedingungen der gegenwärtigen epistemi­sche Kultur Georgiens. Die sich ausdifferenzierenden Wissensformen und Wissenschaftsmilieus un­terliegen der Gegensätzlichkeit der „Zwei Kulturen“, wie sie C.P. Snow 1959 in seiner „Rede Lecture“ an der Universität Cambridge unterschied. Die lange Zeit vorherrschende literarische Bil­dung der urbanen Intellektuellen und die naturwissenschaftlichen Denkformen stehen sich weiter­hin unverbunden gegenüber. Die indigenen Wissensformen gelten als rückständig und der Gedan­ke, dass „kulturelle Vielfalt“, wie es im UNESCO-Weltbericht heißt, „überhaupt nicht unvereinbar mit Fortschritt oder Entwicklung“ (UNESCO-Weltbericht 2005, S. 252) sei, hat in der georgischen Universität bislang keine Basis. Die beschleunigte „Signalökonomie“ (Harry Pross) bringt ein frag­mentiertes Wissen hervor, das zwar der schnellen Sondierung unterschiedlichster Informationssor­ten dient, aber den „ethisch-mythischen Kern“ (Paul Ricœur) lokaler Kulturen, das Erleben und das implizite Können lediglich ideologiekritisch berücksichtigt bzw. kulturindustriell trivialisiert. Die glo­balen Wirtschaftsprozesse erfordern zwar auch ein wachsendes interkulturelles Wissen, das allerdings weitestgehend instrumentell bleibt, sofern es lediglich kurzfristigen Verwertungsinteressen unterliegt. Die fundamentalistischen Reaktionen einer allerdings eher im Programmatischen verbleibenden Indigenisierung des Wissens ließen nicht auf sich warten. Das vorherrschende dichotome Kultur­modell des Westens wird im Übergang zur globalen Kommunikations- und Netzwerkgesellschaft aus der Sicht bestimmter Machtgruppen in Georgien zum „Kampf der Kulturen“ hypostasiert. Kul­turbewegung und Zivilisationsprozess werden nicht als aufeinander bezogene Dimensionen der sich ausdifferenzierenden Soziosphäre sondern als reifizierte Entitäten wahrgenommen. Die post­moderne Pluralisierung des Wissens wiederum reflektiert ungenügend auf die sozialen Bedingun­gen der Ausbildung von Urteilskraft (Jean-François Lyotard), die sinnvolle Unterscheidungen über­haupt erst ermöglicht. Die in den letzten Jahren in Georgien stark geförderten Wirtschaftswissen­schaften sind nicht in der Lage gewesen, eine intermediäre „episteme“ zu entfalten. Der Industrielle Kacha Bendukidse hat mit seiner "Wissensstiftung" und mit den von ihm unterstützten Universitäten (Freie Universität Tbilissi, Georgische Agrarwissenschaftliche Universität) vor allem neoliberale Ansätze gefördert. Es darf allerdings bezweifelt werden, dass Friedrich August von Hayeks zweifellos diskutiertenswerte Theorie der Wissensordnungen als Basis für eine interdisziplinäre Forschung bzw. für den Aufbau einer georgischen Wissengesellschaft taugt. Kosmologisch überhöhte Marktmechanismen können das individualisierte, verstreute Wissen nur sehr bedingt zusammenführen. Ähnlich problematisch steht es mit den vernachlässigten Sozialwissenschaften, die zuweilen als „dritte Kultur“ (Wolf Lepenies) bezeichnet wurden. Unter US-amerikanischen und westeuropäischen Bedingungen entstandene Theorien  und Kategorien wurden eifrig rezipiert, trugen aber nur wenig zur Selbstbeschreibung der georgischen Gesellschaft bei.  Die teilweise neu entstandenen fächerübergreifenden „cultural studies“ ha­ben diesen Gegensatz sogar noch verstärkt, zumal sie sich oftmals in scheinpolitische Auseinander­setzungen („cultural wars“) verstrickten und den Bezug zur georgischen Wirklichkeit verloren. Ins­gesamt befindet sich die epistemische Ökologie der georgischen Gesellschaft in einem erheblichen Ungleichgewicht, das „Hypertrophien“ bei gleichzeitiger Zerstörung der „Artenvielfalt“ zeitigt. Wis­senschaftsprojekte, die strukturbildend an einer Sanierung arbeiten und zur Etablierung einer ei­genständigen georgischen Wissensgesellschaft beitragen, sind kaum vorhanden. Ausnahmen, wie das von der Psychologin und Philosophin Lali Surmanidze a an der Staatlichen Iwane Dschawachischwili Universität etablierte interdisziplinäre Doktorandenprogramm „Psychologische Anthropologie“ bestätigen die Regel.  Der für die Geis­teswissenschaften so wichtige Übergang zu einer integralen Anthropologie, in der die einzelnen Disziplinen neu koordiniert und metatheoretisch aufeinander bezogen werden, hat nicht stattge­funden. Die dazu in Georgien bereits vorhandenen Potentiale wurden nicht genutzt. Die fraglose Übernahme westlicher Modelle der Wissensorganisation hat die Krise nicht nur verstärkt, sondern teilweise überhaupt erst hervorgerufen.

Alles spricht dafür, dass neue mutige Schritte erforderlich sind, um aus dieser Situation herauszu­kommen. Gerade im Bereich der Philosophie und der Geisteswissenschaften sind durch die rasan­ten Fortschritte der Bio-, Neuro- und Kognitionswissenschaften Veränderungen in der Koordination der Disziplinen und der grundlagentheoretischen Gesamtausrichtung unvermeidlich geworden. Zu­gleich ist die Forschung in veränderte soziale Praxisformen eingebettet, die auch neue Formen der Forschungsorganisation erforderlich machen. Interdisziplinarität wird zu grundlegenden Struktur­komponente einer sich entwickelnden Human- und Kulturwissenschaft. Zugleich werden Fragen nach einer Humanisierung der Wissenschaften aufgeworfen, die im Raum der Universität nicht un­gehört verhallen dürfen. Eine derartige Ausrichtung ist allerdings an der Ilia Tschawtschawadse Universität, dem wissenschaftspolitischen Vorzeigeprojekt der vergangenen Jahre, nicht sichtbar, wenngleich sich ihr Rektor in einer knapp einhundert Seiten starken und auf Englisch publizierten Schrift noch 2013 an einer interdisziplinären Theorie der Anthropogenese versucht hat, die von ei­nigen von ihm protegierten Wissenschaftlern geradezu hymnisch als Neuanfang auf diesem Gebiet gefeiert wird. Die Arbeit enthält keinerlei Bezug auf die in Georgien bereits geleistete Arbeit auf diesem Gebiet. Von einer ernsthaft mit den Fachwissenschaften korrespondierenden interdiszipli­nären Anthropologie kann keine Rede sein, eher von einem feuilletonistischen Amalgam aus Evolu­tionsbiologie und postmoderner Narratologie. So willkürlich wie Tevzadze seine privaten Lese­früchte zu einer Anthropologie zusammenfügt, so willkürlich ist seine Leitung der gesamten Uni­versität. Um aus dieser Krise herauszukommen, ist es erforderlich die von ihm 2009 in New York so einseitig beantwortete Frage nach dem Ort der georgischen Episteme neu aufzuwerfen und zu be­antworten. Die Erzeugung von Wissen ist nicht allein durch eine rationale intrinsische „episteme“ bestimmt, sie ist Teil eines umfassenden Lebensprozesses, der soziale Interaktionen, alltägliche Er­fahrungen und kulturelle Einflüsse einschließt (Karin Knorr Cetina). Die heutigen epistemischen Kulturen sind weltweit aus sehr unterschiedlichen Mischungen soziokultureller, kognitiver und emotional-motivationaler Komponenten hervorgegangen. Sie sind, wie der in Tunis geborene fran­zösischsprachige Philosoph Pierre Lévy nahelegt, sowohl genetisch als auch phänomenologisch das Resultat sich überschneidender „anthropologischer Räume“, denen auch unterschiedliche „Episte­mologien“ zugeordnet sind. Lévys sozial-phänomenologische Unterscheidung eines Raums der „Erde“, des „Territoriums“, der „Waren“ und des „Wissens“ und die ihnen entsprechenden Episte­mologien der Intuition und des in der Ethnie verkörperten Gedächtnisses, der Dialektik von Erfahrung und Theorie, der Technowissenschaft und des sich erst in Ansätzen abzeichnenden le­bendigen Wissens, das Lévy als „Kosmopädie“ bezeichnet, haben ihre Entsprechungen in der epis­temischen Kultur Georgien. Gerade die Suche nach einer „allgemeinen menschlichen Ökologie“, nach einer „Kunst, die Beziehungen zwischen den vier anthropologischen Räumen harmonisch zu gestalten“ zeichnete die fortgeschrittensten Ansätze der georgischen Philosophie und Humanwis­senschaften aus. Auch in diesem Sinne kann Georgien als ein Ort an der Schnittstelle höchst gegen­sätzlicher geistiger Trajektorien verstanden werden, als ein Land, in dem das Denken schon sehr früh zwischen Ratio und Sensus, zwischen Lebensweisheit und wissenschaftlicher Erkenntnis zu vermitteln wusste. „Tatsächlich setzt das Entstehen echter `Wissensgesellschaften´ eine Vielfalt an Wissensformen und -quellen voraus, was auch indigenes Wissen [...] einschließt“ (UNESCO-Weltbe­richt 2005, S. 252).


Die Vielfalt des Wissens und deren Einheit können nur in einem Raum der Freiheit realisiert wer­den. Seit den artes liberales der mittelalterlichen europäischen Universität meint dies zunächst die Freiheit vom Broterwerb, d.h. der Freiheit von unmittelbaren ökonomischen Zwängen. Es ist eine paradoxe Wahrheit, dass die Wissenschaften ihren Nutzen für die Gesellschaft nur erbringen kön­nen, wenn sie nicht nützlich sein müssen. Es ist diese Auffassung, die auch Friedrich Schillers Antritts­vorlesung in Jena am 26./27. Mai 1789 zugrunde liegt. Seine Polemik gegen den „Brotgelehrten“, der keinen Zweck seines Wirkens kennt und dennoch die Zwecklosigkeit nicht ertragen kann, und seine Lobpreisung des „philosophischen Kopfes“, der die Wahrheit mehr liebt als das System, ist eine der Gründungsurkunden der idealistischen Bildungsidee. Freiheit verbindet sich hier mit der Aufforderung, „unsere Tätigkeit an das große Ganze der Welt anzuschließen“ (Friedrich Schiller). Das Ganze in Freiheit zu denken scheint in einer globalen Ära, die gewissermaßen Schillers univer­salhistorischem Anspruch in vielem doch entspricht, schwerer als im 18. Jahrhundert. Wir wissen heute mehr von der Differenziertheit des „großen Ganzen“, d.h. von der Vielfalt der partikularen Gruppen und ihrer jeweiligen kognitiven Systeme (Georges Gurvitch). Die Legitimität der akademi­schen Freiheit war jedoch an diesen Anspruch einer universalen Wahrheit gebunden. Daraus leitet sich der Anspruch der Universität als eines exterritorialen, zweck- und staatsfreien Raums ab. Nur wenn es gelingt, eine Universalität des Wissens wiederzugewinnen, die sich den falschen Totalitäts­ansprüchen des 20. Jahrhunderts entzieht, kann die akademische Freiheit gerechtfertigt werden, wie sie der Physiker und Physiologe Hermann von Helmholtz in seiner berühmten Rede zum Antritt Rektorats an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. Oktober 1877 noch einmal so ein­drucksvoll beschwor. Die epistemischen Systeme der Ethnien, der Klassen, der Staaten und der Märkte, die unsere Epoche bestimmten, können diese Universalität nicht verbürgen. Wo ließe sich dies besser dokumentieren als in der Kaukasusregion? Aber auch das postmoderne Misstrauen ge­gen die Ansprüche des Universalen hilft hier nicht weiter. Denn auch der Verzicht auf das ideologi­sche Einheitsdenken wird von der eindimensionalen ökonomisch-technologischen Wirklichkeit durchdrungen, die unsere geistigen Ideale ersetzt. Bereits Alfred Weber, der sich nach 1945 in den Heidelberger Zusammenhängen mit Karl Jaspers in der Notwendigkeit einer Erneuerung der deutschen Universitätsidee einig wusste, forderte deshalb dazu auf, „Modifikationen an der alten Idee der Dominanz des Personprinzips und des Universalismus an den Universitäten vorzunehmen“ (Alfred Weber, 247). Die vorurteilslose An­erkennung, in einem "Zeitalter der Massen" (Serge Moscovici) zu leben und die Einsicht, dass die Wissenschaft „die letzten eigentlich orientierenden Weltfragen nicht zu beantworten vermag“ (Ders., 247f.), hatten ihn bewogen, sich der demokratischen Arbeiterbewegung anzuschließen und den damals bereits abzeichnenden Vorfomen eines nihilistischen Postmodernismus die Suche nach "immanenter Transzendenz" ent­gegenzustellen. Daraus leitete er auch sein Zukunftsprogramm universeller Wissensvermittlung ab, das eine interdisziplinäre historisch-anthropologische Grundlagen-Reflexion, die deutliche Orien­tierung auf sozialpolitische Zielsetzungen im Sinne einer konsequenten Demokratisierung und eine geistige Erneuerung vorsah. Darin bleibt er aktuell. Georgiens Universitäten bedürfen ei­nes Programms, dass die technologisch gestützte Wissensgesellschaft mit den vitalen Tiefendimen­sionen unseres Menschseins verbindet. Die Eingliederung in den „europäischen Bildungsraum“ bliebe ein technokratisches Projekt, wenn die Georgier ihre historischen Erfah­rungen im Kampf um Demokratie, die Vielfalt ihrer Wissenskulturen und ihrer geistigen Aspi­rationen nicht einbringen dürften. Die Universität ist ein kulturelles Projekt, dass auf den moder­nen Zivilisationsprozess angewiesen ist, aber nicht durch ihn begründet werden kann. Ihre Grün­dung ist ein Akt geistiger Freiheit. Sie wird uns nicht geschenkt.

Literatur:

Elkana, Yehuda/Klöpper, Hannes: Die Universität im 21. Jahrhundert. Für eine neue Einheit von Lehre, Forschung und Gesellschaft, Edition Körber Stiftung, Hamburg 2012.
Gunder Frank, André: Abhängige Akkumulation und Unterentwicklung, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987.
Gurvitch, Georges: The Framework of Knowledge, Basil Blackwell, Oxford 1971.
Humboldt, Wilhelm von: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, Studienausgabe, Band 4, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002.
Jaspers, Karl: Die Idee der Universität, Reprint der Ausgabe von 1946, Springer, Berlin/Heidelberg/New York 1980.
Jung, Matthias: Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, De Gruyter, Berlin/New York 2009.
Knorr Cetina, Karin: Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002.
Lepenies, Wolf: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Carl Hanser, München/Wien 1985.
Lévy, Pierre: Die kollektive Intelligenz, eine Anthropologie des Cyberspace, Bollmann, Mannheim 1997.
Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht [1979], Passagen Verlag, Wien 2012.
Mamardaschwili, Merab: Der dritte Zustand. Russland und das Ende des Kommunismus, in: Sinn und Form, 61. Jahr, 5. Heft 2009, S. 591-597.
Morin, Edgar: Die sieben Fundamente des Wissens für eine Erziehung der Zukunft, Krämer, Hamburg 2001.
Pross, Harry: Signalökonomie und Bedeutungsschwund, in; Ders.: Politik und Publizistik in Deutschland seit 1945, Piper, München 1980.
Ramischwili, Guram: Einheit in der Vielfalt. Grundfragen der Sprachtheorie im Geiste Wilhelm von Humboldts, Dümmler, Bonn 1988/89.
Ricœur, Paul: Geschichte und Wahrheit, List, München 1974.
Morin, Edgar: Die sieben Fundamente des Wissens für eine Erziehung der Zukunft, Krämer, Hamburg 2001.
Schelsky, Helmut: Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Ro­wohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1963.
Schiller, Friedrich: Universalhistorische Schriften, hrsg. Von Otto Dann, Insel, Frankfurt am Main/Leipzig 1999.
Tenbruck, Friedrich: Bildung, Wissenschaft, Gesellschaft, in: Dieter Oberndörfer (Hrsg.): Wissenschaftliche Politik. Eine Einführung in Grundfragen ihrer Tradition und Theorie, Rombach, Freiburg, S. 365-420.
Toulmin, Stephen: Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Suhrkamp. Frankfurt am Main 1994.
Trabant, Jürgen: Traditionen Humboldts, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990.
Ders.: Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998.
UNESCO WORLD REPORT, Towards Knowledge Societies 2005, http://unesdoc.unesco.org/images/0014/001418/141843e.pdf

Weber, Alfred: Universität und geschichtliche Lage [Universitätsvortrag 1953], in: Ders.: Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins, Piper, München 1953, S. 239-252.



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