oder die
Wiederkehr des Raumes
Vorstudien
zur topographischen Hermeneutik Georgiens
von Dr.
Frank Tremmel
„Russland,
das in seinen ersten, überwiegend feudalen, zum Teil aber in
Nowgorod auch städterepublikanische Stadien unzweifelhaft
Freiheitstendenzen in sich trug und von Byzanz nur Glauben und Kirche
übernommen hatte, wurde seit seiner `Sammlung um Moskau´, bei der
es die byzantinische Bürokratie und Staatshieratik als
verfestigendes Staatsferment entlehnte, der große
hieratisch-bürokratische Monolith von Europa, der sich nicht umsonst
selbst als Nachfolger von Byzanz, nach dessen Fall, proklamierte.
Alle alten östlich-bürokratischen Unfreiheitstendenzen wurden hier
fortgesetzt und strahlen von da auf das daneben liegende Abendland
aus.“
„Europa-Asien
ist kein einheitlicher Körper von verwandter gesellschaftlicher,
wirtschaftlicher und geistiger Formung, sondern eine Welt der größten
Mannigfaltigkeit, von keiner Denk-, Sprach- oder Formgemeinschaft
irgendwelcher Art, vielmehr von abgrundtiefsten Differenzen der
seelischen Ausdrucksrichtung, geistigen Gegenstandsgestaltung und des
praktischen Wollens; – eine
Welt verschiedenartiger historischer Kulturgebilde teilweise riesiger
Gestalt und ältester Fixierung, teilweise bisher flüchtiger Leere
und wandelbarer Jungheit.“
„Auch
diese Völker stehen in Wahrheit, mögen sie nun aus alten Formen
herausgetreten sein wie wir und neue suchen, oder mögen sie
überhaupt erst heute auf die Bühne kommen, an einem Anfang. Auch
sie ruhen in Wahrheit, wenn sie sich auf ihren geistigen Ursprung
besinnen können, von dem sie weiterbauen können, auf dem alten
gemeinsamen Mutterboden, der aus der europäischen Antike stammt.
Auch sie können, wenn sie fruchtbar werden wollen, mit der
Ausprägung, die das Lateinertum und das Angelsachsentum vom
europäischen Boden her geschaffen haben, nichts anfangen, wie sie
andererseits in den noch völlig ungeklärten, aus byzantinischen und
asiatischen Elementen gemischten russischen Nebel nicht gehören.
Auch sie werden, wenn sie es richtig anfangen, die Ausprägung eines
jungen neuen Europäertums versuchen.“
„Auf
dem Mond werden wir nichts erfahren. Nichts darüber, wie wir leben
sollen. Wir müssen kapieren, was wirklich wichtig ist, sonst sind
wir verloren.“
Alfred Weber
Der georgische Traum vom Raum
In den beiden
Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte die
Raumdimension nicht nur im Rahmen einer wiederentdeckten Geopolitik,
sondern ebenso in den Kulturwissenschaften eine ungeahnte
Renaissance. Neben den einschlägigen Theorien der jüngeren
Vergangenheit wurden auch ältere Autoren wiederentdeckt. Friedrich
Ratzel, Karl Haushofer, Carl Schmitt und Oswald Spengler erwiesen
sich – mehr oder weniger explizit – als Wiedergänger eines
Geschichts-. Kultur- und Politikverständnisses, das in den
Konzeptionen eines Samuel P. Huntington und eines Alexander Dugin
fröhliche Urständ feiert. Das Fragwürdige dieser Ansätze ist
offenkundig und wird weidlich diskutiert. Weniger deutlich sind die
methodologischen und politischen Alternativen. Neben einer grob
empirischen Kartographie der Kulturen, die deren Grenzen nur allzu
gerne mit den Grenzen alter und neuer Imperien identifiziert, finden
wir die allgegenwärtigen Dekonstruktionen des Raums, die sich vor
allem der kritischen Vivisektion der primordialen Mythen und der
Apologie der Hybridität verschrieben haben. Tatsächlich tragfähige
Konzepte einer topographischen Hermeneutik, die zudem der
Politikwissenschaft als Demokratietheorie neue Impulse geben können,
sind rar. Für Georgien, das seinen Ort immer wieder an der
Schnittstelle so vieler Räume fand, das sich in seinem Kampf für
Freiheit zwischen Ost und West fortwährend so vielen despotischen
und imperialen Tendenzen ausgesetzt sah, ist eine solche Forschung
geradezu überlebensnotwendig. Das sich unweit der Kaukasusregion
vollziehende syrische Drama offenbart die Notwendigkeit, die
Zivilisationstheorie um eine Hermeneutik des Raums zu erweitern. Die
kulturelle Semantik Georgiens kann in ihren topologischen
Tiefendimensionen und in ihren politischen Bezügen am ehesten durch
eine kultursoziologische Konstellationsanalyse erschlossen werden,
deren Grundlagen zu der Zeit entstanden, in der auch die eurasische
Bewegung geboren wurde. Alfred Weber, mit dem
Werk Oswald Spenglers intim vertraut, hatte sich nicht in den Solipsismus einer kulturellen Monadenlehre verrannt und konnte so
das Wertvolle der Spenglerschen Symboltheorie kritisch aufheben.
Weber, der 1919 mit Spengler in München noch persönlich diskutiert
hatte, lieferte wertvolle Beiträge
zu einer humanistischen Kulturtopologie und wandte sich zugleich gegen jede Form der
Ideokratie und der Demokratieverachtung.
Es
war zu erwarten, dass die „Krise des modernen Staatsgedankens in
Europa“, die Alfred Weber bereits 1925 konstatierte und die heute
erneut den europäischen Einigungsprozess begleitet, auch
Auswirkungen auf die georgische Suche nach einer Staatsidee haben
würde. Die Unfähigkeit der intellektuellen Elite Georgiens, ein
einigermaßen kohärentes Konzept der Staatlichkeit zu formulieren,
hat diese geistige Abwendung von Europa und die Suche nach
vermeintlichen Alternativen beschleunigt. Ein großer Teil der
jüngeren Generation der urbanen Intellektuellen beschäftigte sich
lange Zeit lieber mit Fragen der sexuellen Revolution und mit
ortsfremden Modernisierungsheorien, anstatt sich mit einer für
Georgien angemessenen topologischen Bewusstseinsbildung zu befassen.
Zur gleichen Zeit formierten sich Gruppierungen eines aggressiven
religiös-ethnischen Nationalismus, die Georgiens Zukunft im Raum
eines orthodoxen Commonwealth sehen. Die andauernde Agonie des
georgischen Lebens, der Zerfall der Dörfer, die Zerstörung der
gebildeten Mittelschichten, der um sich greifende pseudomoderne
Nihilismus in allen kulturellen Bereichen, erzeugen eine geistige
Atmosphäre, in der die „eurasische“ Option vielen plausibel
erscheint. Bei diesen Überzeugungen handelt es sich allerdings vor
allem um ein Amalgam aus Scheinevidenzen: Unproduktive ökonomische
Abhängigkeitsbeziehungen und kaum noch tragfähige kulturelle
Gemeinsamkeiten aus sowjetischer Zeit gehen mit passend erscheinenden
ideellen Konzepten aus der Gedankenwelt des russische Exils der
1920er/30er Jahre eine wenig belastbare Verbindung ein. Diese
instabile Allianz verfügt dennoch über eine nicht zu
unterschätzende Anziehungskraft, die vor allem aus der Unfähigkeit
der demokratischen Kräfte resultiert, einen tragfähigen
Staatsgedanken zu formulieren. Eine um ihre kulturräumliche
Tiefendimension gebrachte Zivilisationstheorie sieht sich mit der
Wiederauferstehung der kulturmorphologischen und raumpolitischen
Betrachtungsweisen eines Nikolai Trubetzkoi bzw. eines Petr Savickij konfrontiert. Es bleibt abzuwarten, ob daraus in Georgien in
absehbarer Zeit auch geopolitische Schlussfolgerungen gezogen werden.
Was diese Verschiebungen in der symbolischen Tektonik für den
georgischen Genius loci bedeuten können, lässt sich aufgrund
historischer Erfahrungen allerdings bereits heute beantworten.
Die
eurasische Bewegung ist in geistiger Hinsicht ein Produkt des
russischen Exils. Sie hat keine georgischen Wurzeln. Nikolai
Alexejew, Jakow Sadowski, Petr Suwtschinski, Nikolai Trubetzkoi,
Georgi Florowski, Petr Savickij, Lew Karsawin u.a. schufen nach der
Oktoberrevolution eine neue nationalpolitische Konzeption, die im
Gegensatz zu den Ideen der exilierten russischen Liberalen, der
linken Demokraten und der Monarchisten der
nachrevolutionären Wirklichkeit immerhin Rechnung trug, den
traditionellen Panslawismus weiterentwickelte und Russland
kulturpolitisch im mittel- und ostasiatischen Raum verortet sah.
Damit unterschieden sich die Eurasier von den antibolschewistischen
Opponenten der russischen Revolution. Es handelte sich im
wesentlichen um eine Bewegung, die in den intellektuellen Eliten die
treibende Kraft der geistigen Erneuerung Russlands sahen. In dieser
Hinsicht grenzten sie sich von den „Narodniki“ (Volkstümlern)
ab, die vor allem die Bauern als das historische Subjekt einer
agrarsozialistischen Rekonstitution der „Obschtschina“
(Dorfgemeinde) betrachteten. Das politische Ziel der Eurasier war
vielmehr die Schaffung einer orthodoxen „ideokratija“
(Ideokratie), die Herrschaft einer Einheitspartei, welche die
Gesellschaft nach ihren Idealen umgestalten sollte.
Ähnlich
wie die Bolschewisten hatten sie keine sozialen Wurzeln in den
vorrevolutionären Klassen, Schichten und Milieus, betrieben
andererseits aber eine Sakralisierung tradierter Lebensformen. Sie
vertraten gewissermaßen einen von seinen kommunistischen und
marxistischen Elementen gereinigten Bolschewismus auf
ethno-religiöser Grundlage. Diese Verbindung des russischen
Messianismus mit nationalrevolutionären Bestrebungen hatte durchaus
immer wieder partielle Anhaltspunkte in der historischen Realität. Die
frühe eurasische Bewegung ist ohne den Aufstieg des Stalinismus
sowenig zu verstehen wie die neu-eurasischen Bestrebungen ohne die
post-sowjetische Krise.
Revolution
und asiatische Restauration
Bereits
im September 1920, dem Jahr, in dem sich über Aserbaidschan der
Druck auf die unabhängige Demokratische Republik Georgien
verstärkte, fand in Baku mit 1800 Delegierten aus verschiedenen
asiatischen Ländern der sogenannte „Kongress der Völker des
Ostens“ statt, auf dem sich der ganze Zwiespalt der Russischen
Revolution offenbarte. Bereits sehr schnell stellte sich heraus, dass
diese Vertreter der nicht-europäischen Welt, Kasachen, Usbeken u.a.,
sich nicht als willfährige Instrumente einer europäischen
Revolution verstanden. Die Revolution der nationalen Befreiung und
die Revolution des Weltproletariats konnten nur durch fragile
Kompromissformeln zusammengebunden werden. Die ausgebliebenen
Revolutionen im Westen erzeugten ein sowohl praktisches als auch
ideologisches Problem. Die russische Sowjetrepublik war ohne
Schutzzonen und Rohstofflieferanten nicht lebensfähig. Das Getreide
und Eisen aus der Ukraine, das Erdöl aus dem Kaukasus und die
Baumwolle aus Zentralasien waren unverzichtbar. Lenin selbst
betrachtete neben der Verwirklichung des der Elektrifizierung
dienenden GOELRO-Plans und dem Aufbau des Genossenschaftswesens vor
allem die Nationalitätenpolitik als zentrale Aufgabe der neuen
Macht. Seine im Rahmen der NÖP (Neue Ökonomische Politik)
zunehmende Fokussierung auf die Kulturarbeit anstelle des forcierten
Klassenkampfes konnte aber innerhalb des bolschewistischen Systems
nicht durchgeführt werden. Dabei scheiterte er an den Widersprüchen
des von ihm selbst mit ins Leben gerufen repressiven politischen
Regimes. Er sah durchaus, wie heikel das Thema Nation war und wie
viel Fingerspitzengefühl es erforderte. Seine Balance der beiden
Revolutionen im Spannungsfeld zwischen West und Ost brach jedoch
schon zu seinen Lebzeiten auseinander. Weltrevolution und nationale
Befreiung waren im Rahmen des bolschewistischen Systems nicht zu
vermitteln. Die „asiatische Restauration“, vor der ihn Georgi
Plechanow und die Menschewiki bereits 1905 gewarnt hatten, war daher
unausweichlich. Bereits 1921 wurde unter der Leitung von Leo Trotzki
der Kronstädter Matrosenaufstands vor St. Petersburg und die
„Machnowschtschina“
in der Ukraine niedergeschlagen. Im
gleichen Jahr okkupiert die Rote Armee Georgien und zerschlug die
von Sozialdemokraten regierte unabhängige Demokratische Republik.
Der
historische Marxismus hatte in seinen evolutionären und
revolutionären Spielarten die kulturtopologische Dimension der
Geschichte weitestgehend ausgeblendet. Die Entwicklungssequenz
Feudalismus-Kapitalismus-Sozialismus/Kommunismus vernachlässigte
räumliche und kulturelle Differenzierungen im Gesamtprozess. Die
noch bei Marx in den berühmten „Grundrissen“ (1857/58) zu
findende Unterscheidung der „Formen,
die der kapitalistischen Produktion vorhergehen“ , zu denen auch
die „asiatische“ gehört, seine vorsichtigen Skizzen der
Alternativen einer zukünftigen russischen Entwicklung, wie sie sich
in den Briefentwürfen an die Sozialrevolutionärin Vera Sassulitsch
(1881) finden, wichen bereits in der Zeit der Zweiten Internationale
einer zunehmend eurozentrischen, materialistisch-deterministischen
Entwicklungstheorie, wie sie beispielsweise in Georgi Plechanows
„Über materialistische Geschichtsauffassung“ (1898) und später
in Karl Kautskys „Die materialistische Geschichtsauffassung“
(1927) kodifiziert wurde. Wenn Marx in „Die künftigen Ergebnisse
der britischen Herrschaft in Indien“ (1853) den Kolonialismus
scharf kritisierte und noch davon ausging, dass erst „wenn eine
große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche,
den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte gemeistert und sie
der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker
unterworfen hat, […]
der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen
heidnischen Götzen gleichen [würde],
der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte“,
wurden später in der westeuropäischen Arbeiterbewegung recht
fraglos progressiv-lineare Illusionen gehegt. Aber auch Marx hatte
keinen Gedanken darauf verschwendet, was zu tun wäre, wenn die „am
weitesten fortgeschrittenen Völker“ keine Anstrengungen in die
von ihm prognostizierte Richtung unternehmen würden. Genau vor
dieses Problem sahen sich die russischen Revolutionäre aber
spätestens ab 1920 gestellt. Das Fehlen einer kulturtopologischen
Perspektive, das die marxistische Antizipation einer
zivilisatorischen Synchronisation kennzeichnet, wurde ihnen letztlich
zum Verhängnis. Dieser Mangel kennzeichnet die gesamte
liberal-progressive Geschichtsphilosophie Westeuropas und prägt bis
heute die aus ihr hervorgegangenen Modernisierungstheorien. Genau
hier lag die gedankliche Einsatzstelle der Eurasier.
Der
„Aufbau des Sozialismus in einem Land“, dessen Voraussetzungen
Nikolai Bucharin 1925 in einer Broschüre noch fragend sondierte,
erwies sich als nicht zu bewältigende Zerreißprobe. Das Scheitern
des „Kriegskommunismus“ und die sich immer stärker abzeichnenden
Probleme einer fehlenden Entwicklungskonzeption
offenbarten das ganze Dilemma. Schon recht bald nach Lenins Tod
zeichnete sich endgültig das ideelle und praktische
Auseinanderbrechen der scheinbar einheitlichen revolutionären
Trajektorie ab. Die vor allem von Bucharin unterstützte NÖP hatte,
von der herrschenden Partei beargwöhnt, dem nachrevolutionären
Menschewismus u.a. neue Möglichkeiten eröffnet. Die „genetische
Sichtweise“ (Kondratieff etc.), die einen an den objektiven
Bedingungen der postrevolutionären Gesamtwirtschaft orientierten
Industrialisierungsplan favorisierte, bot versierten
nicht-bolschewistischen Fachleuten Betätigungsfelder für eine
konstruktive Aufbaupolitik. Industrielle und landwirtschaftliche
Entwicklung sollten sich ausgewogen vollziehen. Alexander W.
Tschajanow entwickelte seine bahnbrechenden Gedanken zur Verbindung
von bäuerlicher Familienwirtschaft, Genossenschaftswesen und
Marktwirtschaft. Fragen der „Fundamentaldemokratisierung“ (Karl
Mannheim), einer echten Föderalisierung bzw. gar des
Selbstbestimmungsrechtes der Nationen konnten allerdings längst
nicht mehr gestellt werden. Der Kampf gegen die nationalen und
religiösen Traditionen wurde weiterhin mit unbarmherziger Härte
geführt. Zugleich formierte sich ein internationalistischer
Ultrabolschewismus, der unter Trotzkis Führung auf die permanente
Weltrevolution als Voraussetzung jeder sozialistischen Perspektive
bestand. Diese Richtung forderte eine schnelle rücksichtslose
Industrialisierung. Die „ursprüngliche sozialistische
Akkumulation“ (Jewgeni A. Preobraschenski) sollte vor allem auf
Kosten des Agrarsektors in Gang gesetzt werden. Sie sah eine schnelle
Proletarisierung und Urbanisierung der Landbevölkerung vor. Die
Vertreter einer „teleologischen Sicht“ auf die Wirtschaftsplanung
forderten, alle Ressourcen zentralistisch diesen Zwecksetzungen
unterzuordnen. Preobraschenski, als Vorsitzender des Präsidiums des
Regionalkomitees für das Uralgebiet direkt in in die Ermordung der
Zarenfamilie involviert, brach zwar 1929 mit dem Trotzkismus, konnte
aber ab 1932 in leitenden Wirtschaftsfunktionen seine Konzeptionen
durchsetzen. 1937 fiel auch er dem Großen Terror zum Opfer.
Als
entscheidende, sich durchsetzende Kraft erwies sich die
terroristische Funktionärsbürokratie in Verbindung mit dem
halbasiatischen Erbe Russlands. Auf der Grundlage dieses Bündnisses
leitete Stalin seine „Zweite Revolution“ ein. Der
Nationalitätenpolitik, für die Stalin als Volkskommissar seit 1917
verantwortlich war, kam dabei eine Schlüsselrolle zu. Im Verbund mit
der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und der rigorosen
Konzentration auf den Aufbau der Schwerindustrie wurde eine
anthropologische Transformation vorangetrieben, aus der das neue
Sowjetvolk und der Homo sovieticus hervorgehen sollte. Spätestens
zu Beginn der 1930er Jahre wurde deutlich, dass die
entwicklungspolitischen Erfolge der NÖP neue nationale Eliten
hervorgebracht hatten, die in Weißrussland, Zentralasien und im
Kaukasus keineswegs völlig mit den traditionellen Werten brachen. Es bildeten sich neue Formen des „Nationalkommunismus“ aus.
Stalin, der die internationalistischen Illusionen der Bolschewiki nie
geteilt hatte, begann in dieser Zeit – nachdem er sich in den
innerparteilichen Machtkämpfen durchsetzen konnte – mit seiner
Zerstörung aller traditionellen Lebensformen. Die
Zwangskollektivierungen und die Industrialisierung dienten vor allem
der imperialen Disziplinierung der eurasischen Bauernvölker. Eine
weitere Differenzierung der nationalen Kulturen, die den
Zivilisationsprozess begleitet und
die doch ideologisch befürwortet wurde, musste nun um jeden Preis unterbunden
werden. Mit Hilfe von Zwangsrequirierungen wurden systematisch
Lebensmittelengpässe und Hungersnöte ausgelöst. Alleine in der
Ukraine starben auf diese Weise nahezu 3,5 Millionen Menschen. Zum
Teil schloss Stalin damit an eine bereits aus zaristischen Zeiten
bekannte Praxis an, zum Teil bediente er sich aber auch neuer Mittel.
Umsiedlungen, willkürliche Neugliederungen ethnischer und
nationaler Räume und eine repressive Sprachpolitik wurden durch
ideologischen Terror und den Aufbau eines zentralistischen
industriellen Planstaates ergänzt. Stalin schuf eine eurasische
Ideokratie, die byzantinisch-theokratische Herrschaftspraxis, eine
messianische Sozialreligion und industriellen Ultramodernismus
vereinte.
Bereits
in den Anfängen der Formierung dieser neuen Herrschaftsform spielte
Georgien eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zu der immer wieder
perpetuierten Behauptung, dass Stalin sein Heimatland dabei
privilegiert behandelt hätte, zeigen die historischen Fakten ein
anderes Bild. Das Land wurde vielmehr zur Probe aufs Exempel des
neuen Imperiums. Nachdem Georgien 1921 von der Roten Armee erobert
worden war, begannen auf Initiative Lenins Anstrengungen, die drei
kaukasischen Republiken ökonomisch zu vereinen. Grigori
K. (Sergo) Ordschonikidse, der bereits 1907 in Baku zusammen mit
Stalin im Untergrund gearbeitet hatte und ab 1917 in der Ukraine, der
Krim und dem Nordkaukasus als Reorganisator des Staatswesens tätig
war, stieß bei dem Versuch, die Direktiven Lenins durchzusetzen, auf
erbitterten Widerstand im Zentralkomitee der KP Georgiens. Die
Erfahrungen einer unabhängigen menschewistischen Bauernrepublik
waren noch nicht verblasst und so bekannte sich die vergleichsweise
geschickt operierende Führungsmannschaft der georgischen Kommunisten
(Philipe
Macharadse,
Budu Mdiwani, Michael Okudshawa, Kote Zinzadze, Lado Dumbadse) zur
Stärkung des Souveränitätsprinzips innerhalb des sowjetischen
Systems. Ende 1921 gab Lenin daher sein Ziel auf. Stalin, dessen
Einfluss als Generalsekretär ständig zunahm, unterstützte in
dieser Auseinandersetzung jedoch bereits nach Kräften das
Zentralkomitee in Moskau. Der Konflikt verschärfte sich zusehends
und zog sich über das ganze Jahr 1922 hin. Da es sich nicht um den
einzigen, wenngleich schwersten Konflikt dieser Art handelte, wurde
auf Ersuchen des Politbüros eine Kommission gebildet, die einen Plan
zur Neuregelung der Beziehungen der Russischen Föderation mit den
anderen Republiken vorlegen sollte. An der Spitze stand Stalin in
seiner Eigenschaft als Nationalitätenkommissar. Seine neue Funktion
als Generalsekretär ermöglichte es ihm nun auch, die
Zusammensetzung solcher Kommissionen zu bestimmen. So kooptierte er
auch in diesem Fall seine politischen Freunde und setzte eigenhändig
den Text der Resolution für das sogenannte „Autonomisierungsprojekt“
auf. Der sah die Eingliederung der „unabhängigen Republiken“ in
die Russische Föderation als „autonome Republiken“ vor. Hier
liegen die praktisch-politischen Anfänge einer Umformung der
russischen Staatsidee, die als „asiatische Restauration“
bezeichnet werden kann. Diese Versuche werden in immer neuen Anläufen
bis in die jüngste Vergangenheit unternommen.
Die
Zentralkomitees Aserbaidschans und Armeniens stimmten zu, die
Georgier und Weißrussen zeigten sich widerspenstig. Ordschonikidse
verstärkte über das transkaukasische Regionskomitee (Zakkrajkom)
den Druck und nutze seinen Aufstieg in der Partei, um dem georgischen
Zentralkomitee Befehle zu erteilen, die auf die Durchführung der
stalinschen Pläne abzielten. Stalin telegrafierte Mdiwani am 29.
August 1922, dass von nun an die Beschlüsse der höheren
Regierungsstellen der RSFSR für alle Republiken bindend seien. Der
Gegensatz spitze sich erneut zu und Lenin, der bereits schwer
erkrankt war, nahm zusehends Kenntnis von den Ereignissen. Wenngleich
er zu diesem Zeitpunkt noch den Informationen Stalins vertraute und
sich für den georgischen Konflikt als solchen nicht interessierte,
verwarf er doch das „Autonomisierungsprojekt“ und bestand im
Rahmen der neuen Machtverhältnisse auf einer „Föderation
gleichberechtigter Republiken“ mit einem gemeinsamen
Exekutivkomitee. Lenin verfolgte die Angelegenheit von seinem
Landhaus in Gorki von nun an mit größter Aufmerksamkeit und empfing
Ende September nicht nur Ordschonikidse, sondern auch Okudshawa,
Dumbadse und Minadse. Stalin zeigte sich allerdings von Lenins
Kritik nur geringfügig irritiert, warf ihm nun seinerseits
„nationalen Liberalismus“ vor und beschuldigte ihn zugleich des
„Zentralismus“. Lenin wurde zunehmend zum Opfer seiner eigenen
Ideologie. Der Internationalismus konnte im Rahmen des
bolschewistischen Staates nur zentralistisch durchgesetzt werden. Die
Georgier erhielten daher selbst von Bucharin und Lenin nur geringe
Unterstützung. Der großrussische Chauvinismus ließ sich nur
kritisieren, wenn zugleich die Unabhängigkeitsbestrebungen der
anderen Völker als kleinbürgerliche Nationalismen gebrandmarkt
wurden. Stalin nutze dieses Dilemma geschickt zur Stärkung seiner
Position. Ordschonikidse befahl dem georgischen Zentralkomitee sogar,
das Land zu verlassen und sich in Moskau zur Verfügung zu halten.
Daraufhin nahmen die Georgier Zuflucht zu einer bis dahin
beispiellosen Geste und reichten ihren
kollektiven Rücktritt ein.
Ordschonikidse ernannte sofort ein neues Zentralkomitee aus jungen
und willfährigen, aber unfähigen Leuten. Entscheidend war jedoch,
dass durch die spektakuläre georgische Initiative innerhalb des
sowjetischen Herrschaftssystems ein latenter Konflikt manifest wurde.
Seine Freilegung bedrohte die gesamte fragile Struktur der
Modernisierungsdiktatur mit ihrem antikolonialen Anspruch und lenkte
Lenins Aufmerksamkeit daher erneut auf die Kaukasusrepublik.
Zudem
verlor Ordschonikidse in der Auseinandersetzung mit seinen
Landsleuten die Nerven und wurde handgreiflich. Er schlug in der
Gegenwart Alexei Rykows, des Stellvertreters Lenins, ein
Parteimitglied, einen Anhänger Mdiwanis, ins Gesicht. Es ging dabei
nicht mehr nur um einen Konflikt zwischen Zielen und Methoden. Lenin
wurde noch kurz vor seinem Tod innerhalb seiner eigenen Partei mit
dem Wesen der neuen Macht konfrontiert, die er selbst ins Leben
gerufen hatte. Seine vehemente Kritik der bürgerlichen Demokratie,
die er untrennbar mit dem Kapitalismus verwoben sah, seine fraglose
Anwendung dikatorisch-terroristischer Mittel, führten keine neue
„proletarische Demokratie“ und auch keine neue wirkliche
Föderation herbei, die den zaristischen „Völkerkerker“ nachhaltig
öffnete. Ordschonikidse und Stalin waren von Lenin als
tatkräftige Vertreter seiner Politik jahrelang protegiert worden.
Sie eroberten für ihn den Kaukasus. Im Gegensatz zu den Idealisten
wie Lunatscharski und Bucharin waren sie die eigentlichen
Protagonisten des Bolschewismus. Ihre Rohheit und administrative
Bedenkenlosigkeit waren ein Produkt der Gewalt und des Terrors, derer
sich Lenin zuvor selbst bedient hatte. Was sich als innerparteilicher
Konflikt noch recht harmlos darstellte kostete zwischen 1921 und 1924
allein nur in Georgien 30.000 Menschen das Leben. Allein nach dem
August-Aufstand 1924 wurden 7000 Menschen erschossen, mehrere
zehntausend Menschen nach Sibirien und Zentralasien deportiert. Dabei
handelte es sich nur um einen Vorgeschmack des Terrors, der zunächst
vor allem die alten Eliten und die Anhänger des georgischen
Sozialdemokratie betraf. Unter Stalin selbst wurden dann nahezu
50.000 Georgier, darunter große Teile auch der neuen intellektuellen
Elite, systematisch vernichtet. Lenins „Union der Sowjetrepubliken
Europas und Asiens“ war schon recht bald endgültig ihrer
antikolonialen und antiimperialistischen Legitimationen entkleidet.
Sein Werk, das er noch in seinen letzten Lebensmonaten gegen den
Mann, den er selbst an die Macht gebracht hatte und gegen große
Teile seiner eigenen Partei verteidigen musste, blieb ein nicht zu
vollendender Torso. So wie bereits unter Lenin die Rätedemokratie
zur Farce wurde, so beginnt die neue Macht Ende der 1930er Jahre mit
der Rehabilitierung der imperialen Vergangenheit auch den
Internationalismus zu Grabe zu tragen. Iwan der Schreckliche wird
unter Stalin als „Vereiniger der russischen Länder“ gefeiert.
Die Rolle der orthodoxen Kirche und des Mönchtums als Träger der
byzantinischen Zivilisation wird neu bewertet. Die Rehabilitierung
der russischen Geschichte unter Ausschluss demokratischer
Bestrebungen führte auch zur Relativierung der zaristischen
Kolonialpolitik. War es ihr nicht zu verdanken, dass die
unterworfenen Völker die Etappe des Kapitalismus überspringen
konnten, um zugleich mit den Russen an den Segnungen der
revolutionären Ära teilzunehmen?
Eurasien
und der Übergang zur Globalgeschichte
Der
schwierige „Weg vom Gottesreich zum Nationalstaat“, den der aus
Syrien stammende Politikwissenschaftler Bassam Tibi am Beispiel des
arabischen Orients beschrieb, konnte auch im Raum des russischen
Imperiums nicht bis zu Ende gegangen werden. Daran wurden die Völker
in diesem Raum – neben ihrer Lage innerhalb der kapitalistischen
Weltwirtschaft und der internationalen politischen Ordnung – vor
allem durch die nicht genügend vollzogene Verbindung von nationaler
und demokratischer Idee bzw. durch die soziokulturelle Kraftlosigkeit
der Klassen und Gruppierungen, die eine solche Synthese hätten
verwirklichen können, gehindert. Ähnlich wie in Afrika und im
Vorderen Orient, wurde auch in Russland die Schwäche der
demokratischen Nationalbewegung durch eine Pan-Ideologie kompensiert,
die oftmals realistisch perzipierte kulturräumliche Momente mit
einer unproduktiven und künstlichen Überhöhung der eigenen
Rückständigkeit verknüpfte. Kulturelle Deformationen, die der
semiperipheren Abhängigkeit und dem einheimischen Despotismus
entspringen, werden zur kulturellen Identität uminterpretiert.
Zugleich gelang es diesen Bewegungen nicht, das durchaus reale
Problem zu lösen, die vitale Tiefendimension, den „ethisch-mythischen Kern
einer Kultur“ (Paul Ricœur) mit der modernen Weltzivilisation zu
verbinden. Die Formierung lebensfähiger regionaler
Geschichtskörper blieb fragmentarisch und unterlag der despotischen
Gewaltsamkeit. Das Scheitern des klassischen Panslawismus, der mit
dem Zerfall der Tschechoslowakei und Jugoslawiens Ende des 20.
Jahrhunderts endgültig manifest wurde, berührte allerdings die
russische Suche nach einer neuen nationalkulturellen Identität
nicht. Die russischen Slawophilen hatten an dieser zunächst eher
westslawischen Bewegung kaum Anteil, da das zaristische Russland in
vielen osteuropäischen Ländern als Besatzungsmacht auftrat und mit
den Habsburger Reich verbündet war. Erst die große geopolitische
Auseinandersetzung zwischen dem britischen Weltreich und dem
russischen Imperium, der Orient- oder Krimkrieg (1853-1856),
verstärkten den Einfluss des Panslawismus auf die russische Politik.
Der innere Zerfall des Osmanischen Reiches weckte die
Begehrlichkeiten der großen Mächte in Ost und West. In der damals
wie heute aufgeworfenen „Orientalischen Frage“ ging es um die
Verbindungswege nach Ostasien und um die Vorherrschaft in
Zentralasien. Der Keim und zugleich das Kernstück der politischen
Ideologie der Eurasier liegt in einer eigentümlich doppelseitigen
Verbindung von britischer Geopolitik und russischem Panslawismus. Im
Kampf um die große „Weltinsel“ (Halford Mackinder) wird, genährt
mit dem Blut der Völker des Vorderen Orients, Afghanistans und
Transkaukasiens, ein neuer Mensch geboren.
Einen
Namen erhält er aber erst in dem Jahr, in dem die Rote Armee in
Tbilissi einmarschierte und die georgische Regierung ihren Weg nach
Frankreich antrat. 1921 wird in Sofia der Sammelband „Ischod
k Vostoku“ („Der
Auszug nach Osten“) herausgegeben, dessen Vorwort
mit
folgenden Worten endet: „Die russischen Menschen und die Menschen
der `Russländischen Welt´ sind weder Europäer noch Asiaten. Da wir
mit den verwandten und uns umgebenden Kultur- und Lebenselementen
verschmolzen sind, schämen wir uns nicht, uns Eurasier zu nennen.“
Die Herausgeber sind durchaus ernstzunehmende Fachwissenschaftler:
Der Geograph Petr
Savickij, der Musikologe Petr Suwtschinski, der Slawist und
Sprachwissenschaftler Nikolai Trubetzkoi und der Theologe Georgi
Florowski. Sie schreiben die erste Anthropologie des neuen
eurasischen Menschen. Den Feinverästelungen dieser Welt- und
Menschensicht soll hier nicht nachgegangen werden, zumal sie uns hier
nur in ihrem Bezug auf die symbolische
Topographie Georgiens interessiert.
Die Originalität dieser Bewegung liegt nicht so sehr in ihrer
„Historiosophie“, die in der Regel auf ältere russische
Geschichtsphilosophien, wie die des 1885 in Tbilissi verstorbenen
Naturwissenschaftlers Nikolai Danilewski und die des
Schriftstellers und Religionsphilosophen Konstantin Leontjew
(1831-1891) zurückgriff. Zusammen mit der Kulturmorphologie Oswald
Spenglers bilden deren Werke die wesentlichen Inspirationsquellen der
eurasischen Geschichtsinterpretationen. Weitaus interessanter sind
ihre Gedanken zur Raumtheorie, die den geographischen
„mestoraswitije“-Begriff
(in etwa: Kulturlandschaft) mit Ideen der strukturalistischen
Sprachwissenschaft und Ergebnissen der ethnologischen und
historischen Forschung verbanden. Die
Eurasier Nikolai Trubezkoi und Roman Jakobson waren immerhin
führende Vertreter des Prager Strukturalismus.
Es gelang ihnen allerdings nicht, eine wirkliche Hermeneutik der sehr
komplexen und vielgliedrigen eurasischen Raumstruktur zu schaffen.
Ansätze dazu wurden allzu schnell vom „geilen Drang aufs große
Ganze” (Walter Benjamin) überwältigt. Metaphysische
Überinterpretationen und naturalistische Reduktionen brachten die
Eurasier, ähnlich wie schon Spengler, um die Resultate ihrer
Anstrengungen. Die Fixierung auf die hergebrachten dichotomen Bilder
von Europa und Russland, auf die essentialistische Unterscheidung von
westlichem Atomismus und östlichen Organizismus lassen Feduns Diktum
vom „vollkommen fiktiven“ Charakter der eurasischen Lehre
plausibel erscheinen. Auch die messianische Erwartung einer neuen
organischen Epoche, die den Kritizismus hinter sich lässt, bleibt
eigentümlich abstrakt. Vieles scheint wie der schwache Widerschein
des Bolschewismus, der im Exil mit einigen heimelig anmutenden
Versatzstücken aus der Asservatenkammer des russischen
Traditionalismus ausstaffiert wurde. Dies gilt umso mehr, als die
Orientierung an Asien zu einem Zeitpunkt stattfand, in der auch das
Japan der Meiji-Ära und China unter
Sun Yat-sen bereits erhebliche Modernisierungsanstrengungen
unternahmen. Während sich Wjatscheslaw Iwanow in Russland dem Erbe
der griechischen Antike zuwandte und Ossip Mandelstam 1922 in
„Menschenweizen“, noch unter dem Schutz Bucharins, die
„Neubelebung des Europäertums“ beschwor, wurde im europäischen
Exil der Weg in die formlosen Weiten Asiens beschritten. Alexander
Blok, der 1918 in seinem Poem “Die Skythen“ noch eine Ode auf
den moralischen Sieg Russlands über den Westen anstimmte, starb
bereits 1921 völlig entkräftet in seiner Wohnung in Petrograd an Unterernährung.
Die
Eurasier verkennen den Sinn ihrer eigenen Entdeckung. Ihr Versuch,
die Zeit in den eurasischen Raum zu bannen, hinderte sie an der
Ausarbeitung einer angemessenen historischen Anthropologie. Sowenig
wie der Mehrzahl der Marxisten gelingt es ihnen, die kulturräumliche
Dimension der Geschichte in ihrer komplexen und zum Teil auch
widersprüchlichen Einheit mit dem Zivilisationsprozess zu denken.
Ein bestimmtes historisches „Verhältnis von Mensch und Erde“
(Alfred Weber) wird zu einer ubiquitären Ontologie verdinglicht bzw.
hypostasiert. Die erste „Dauerperiode“ der Menschheitsgeschichte
(4000 v. Chr. bis 1500/1600 n. Chr.), d.h. die innerlich und
äußerlich zusammenhängende Geschichte, also die
Universalgeschichte“, war tatsächlich „geographisch auf
Eurasien“ (Ders.) beschränkt. Das eurasische System der Alten Welt
(William H. McNeill, Imanuel Geiss) bildete lange Zeit die
raumzeitliche Grundstruktur der Geschichte und ihrer
Interpretationen, wurde aber spätestens ab 1600 n. Chr. durch eine
„revolutionäre Übergangsperiode“ abgelöst, die ein „ganz
neues Verhältnis von Mensch und Erde“ (Alfred Weber) herbeiführte.
So wie vermutlich Afrika unsere Gattung hervorbrachte, die sich von
dort auf unserem Planeten verbreitete, so schleuderte Zentralasien
immer neue Völker aus seinem Inneren heraus. In immer neuen
Wanderungsbewegungen überlagerten diese Viehzüchter und
Hirtenvölker die Ackerbauvölker in der benachbarten
Fruchtbarkeitszone. Aus diesen ethno-kulturellen Synthesen gingen die
ersten Hockkulturgebiete der Erde hervor: Zum einen die in Indien,
China und dann auch in Japan noch immer bestehenden Hochkulturen,
deren Sozialstruktur und mentale Haltung zwar durch weitere
Wanderungen befruchtet, aber ansonsten über weite Zeiträume
weitestgehend unverändert blieben, zum anderen im Westen, wo durch
die Wanderungseinbrüche immer neue Hochkulturen mit
unterschiedlichen geographischen Zentren entstanden, d.h. die
„Primärkulturen“ in Babylonien, Ägypten, Kreta, Hatti, ab 1200
v. Chr. dann als Sekundärkulturen erster Stufe die persische,
jüdische, griechische, römische und ab 600 bis 800 n. Chr. , der
Islam, Russland und das Abendland als Sekundärkulturen zweiter
Stufe. Dieser eurasische Gesamtkomplex war in seiner mentalen
Struktur bis 1200 v. Chr. durch eine chtonisch-magische Haltung
geprägt, die darauf folgend durch das Nebeneinander von mythischer
und intellektueller Daseinserfassung abgelöst wird.
Mit der primären „Achsenzeit“ (Karl Jaspers)
werden zwischen 800 und 200 v. Chr. in China, Indien, dem Iran, in
Israel und in Griechenland die aber bereits die bis heute wirkenden
geistigen Grundkategorien der historischen Menschheit geschaffen. Eurasien
begann, sich selbst zu transzendieren. Daoismus und Konfuzianismus, Jainismus und Buddhismus, Zoroastrismus,
der prophetische Messianismus und die antike Philosophie brachten ein
neues Selbstbewusstsein des Menschen hervor, der sich aus mythischen
und naturhaften Bindungen befreite. Mit dem Manichäismus, dem
Späthellenismus und vor allem durch das Christentum trat dann
endgültig „die universellste Verbundenheit, die
allgemeinmenschliche Sympathiekohärenz“ (Weber 1946, 228) ins
Bewusstsein. Die Renaissance und das 18. Jahrhundert bringen diesen
Prozess schließlich auf den Begriff des Humanismus. Der
Zivilisationsprozess befreit sich aus seiner kulturräumlichen
Einbettung und schafft zugleich eine Vielzahl neuer Räume.
Auch in dieser Hinsicht ist Georgien, an der Schnittstelle
unterschiedlicher geistiger Trajektorien gelegen, nicht in die
ost-westlichen Raumordnungsphantasmen zu bannen. Von dem aus der
westeuropäischen Renaissance und Aufklärung hervorgegangenen
Humanismus unterscheidet sich der aus der „georgischen Renaissance“
hervorgegangene Anthropozentrismus dadurch, dass er Mensch und
Kosmos als miteinander verbunden betrachtet. Geist und Natur waren im
georgischen Neuplatonismus, wie er in der Akademie von Gelati seit
dem 12. Jahrhundert gepflegt wurde, keine unvereinbaren Gegensätze.
Die Theologie und die Erkenntnis vom Menschen sind so beispielsweise
im Denken Ioane Petrizis eine Einheit. Die Polarisierung von
Theozentrik und Anthropozentrik, von „Ursprungsbild und
Schöpfertat“ (Michael Landmann), die das westeuropäische Denken
bestimmt, prägten das geistige Leben Georgiens nicht in gleichem
Maße. Die georgische Anthropologie ist nicht hoministisch, sondern
kosmistisch. In Schota Rustawelis „Der Mann im Pantherfell“ fand
dieser kosmische Humanismus seinen vollendetsten poetischen Ausdruck.
Für
Trubetzkoi, den wichtigsten Theoretiker der eurasischen Bewegung,
ist die „Menschheit“ keine angemessene Kategorie der historischen
Analyse. Darin stimmt er mit Oswald Spengler überein. Die
sogenannte „allgemein-menschliche Zivilisation“ ist für ihn
lediglich ein ideologisches Konstrukt Europas, das seit seiner
Weltexpansion die Universalisierung seines eigenen Partikularismus
betreibt. Er sieht Russland an der Spitze einer antikolonialen
Allianz, die sich gegen die Vorherrschaft Europas wendet. Unabhängig
von der durchaus richtigen Einsicht, dass sich zumindest bislang
keine Weltkultur herausgebildet hat, vielmehr eine Pluralität der
Kulturen die bisherige(n) Weltgeschichte(n) bestimmte(n), verkennen
Trubetzkoi u.a. das Neue der seit dem 15./16. Jahrhundert
anbrechenden Geschichtsperiode der „Erdzusammenschrumpfung“
(Alfred Weber). Der moderne Zivilisationsprozess ist keineswegs mit
der Expansion Europas identisch. Die
modernen Naturwissenschaften lassen sich aus kulturellen Kontexten
lösen und als moderne Technologie global verwenden. Sie sind zwar
auch soziokulturell determiniert, aber ebenso durch einen
Gegenstandsbezug, der sich darin manifestiert, dass die Naturgesetze
im Kaukasus, in China und in Europa gleichermaßen gelten. Zudem
unterliegen sie einer intrinsischen, d.h. epistemischen
Determination. Es
ist, wie der französische Philosoph Paul Ricœur betont, nicht
allein die Technik, die der menschlichen Zivilisation den Charakter
der Universalität verleiht. Es ist in erster Linie der
„wissenschaftliche Geist“, der diese Einheit hervorbringt. Er
sorgt dafür, „dass jeder Mensch, vor eine geometrische oder
experimentelle Aufgabe gestellt, in der Lage ist, die gleiche
Schlussfolgerung zu ziehen, vorausgesetzt natürlich, er besitzt die
erforderlichen Kenntnisse“ (Paul Ricœur). Im Übergang vom
traditionellen Werkzeuggebrauch zur Technologie, d.h. der Anwendung
der wissenschaftlichen Erkenntnis auf die Technik, liegt der zweite
Ursprung der Universalität. Schafft der wissenschaftliche Geist eine
nominelle Einheit der Menschheit, so vollendet die Technologie bzw.
die Maschine sie faktisch (Ders.). Auch wenn bestimmte technische
Erfindungen innerhalb bestimmter Kulturen erfolgen, so durchbrechen
die technischen Revolutionen schließlich doch die Gehäuse der
Kulturen und schaffen einen universellen Zivilisationskosmos mit all
seinen Möglichkeiten und Abgründen. Es ist insbesondere die moderne
Kommunikationstechnologie, die diesen Prozess vollendet. Im Verlauf
dieses Prozesses wird der Mensch mit seinen Schöpfungen als
erdgeschichtlicher Wirkfaktor sichtbar. Wir erleben verstärkt die
„Austrocknungstendenz“ (Alfred Weber), die „Klimaerwärmung“
und zugleich die Geburt des ökologischen Bewusstseins. In dieser
Hinsicht sind die Einsichten der russischen Kosmisten, wie sie
beispielsweise im grandiosen wissenschaftlichen Lebenswerk Wladimir
Wernadskis zum Ausdruck kommen, bei weitem bedeutungsvoller als so
manche höchst einseitige Erkenntnis der Eurasier.
Mit
dem Bewusstwerden des Zivilisationsprozesses ist die Pluralität der
Kulturen nicht aufgehoben. Sie wird vielmehr überhaupt erst
wahrgenommen. Die neue Globalgeschichte (Bruce Mazlish), die aus dem Zeitalter des
Imperialismus hervorgeht und deren Vorschein wir eben erst erleben,
überwindet die klassische Weltgeschichtsschreibung der Kulturen (Arnold Toynbee etc.) und schafft die
Voraussetzungen für die Aufhebung des Partikularismus. Die
eurasische Periode kannte keine echte Pluralität und auch die
revolutionäre Epoche
der „Weltaufschließung“ (Alfred Weber) mündet zunächst in das
moderne Weltsystem der expansiven Machtstaaten. Erst heute stehen
wir, wie Paul Ricœur schreibt, „
in der Abenddämmerung des Dogmatismus, an der Schwelle zum wahren
Dialog“. Unsere Geschichtsphilosophien waren und sind in die
Kulturen eingeschlossen, aus denen sich die moderne Technologie
längst befreit hat. Bislang „haben wir keine Möglichkeit, die
Koexistenz dieser vielfältigen Stile zu denken; wir verfügen über
keine Geschichtsphilosophie, um das Problem der Koexistenz zu lösen.“
Wir sehen das Problem, sind aber außerstande die Totalität
vorwegzunehmen. „Sie wird die Frucht der menschlichen Geschichte
sein, die Frucht der Geschichte der Menschen, die diese schlimme
Auseinandersetzung zu führen haben.“ (Paul Ricœur). In unserer
Übergangsepoche, die vielleicht am besten durch den Vergleich mit
dem 16. und 17. Jahrhundert charakterisiert werden kann, bilden sich
neue planetare Ordnungsstrukturen heraus. Das
darauf folgende 18. Jahrhundert kann als geistige Vorwegnahme der
Globalgeschichte verstanden werden. Das von Wilhelm von Oranien
implementierte politische Gleichgewichtssystem, das zweifellos nur
ein Notbehelf war, aber immerhin eine gewisse Regulierung der rohen
machtpolitischen Bestrebungen mit sich brachte, ermöglichte
zugleich ein neues Daseinsgefühl, wie es sich der Architektur und
Musik des Barock ausdrückte. Auch in den Werken des georgischen
Fürsten, Mönchs, Diplomaten und Schriftsteller Sulchan-Saba
Orbelianis, in seinem Lexikon zur georgischen Sprache, in seinen
Reiseberichten und in seinem großartigen Fabelbuch, spüren wir die
Atmosphäre dieser Epoche. Der deutsche Kultursoziologe Alfred Weber
hat diese geistig-seelische Trajektorie des „Allharmonismus“, die
weit über die oft damit verbundene „Vernunftapotheose“
hinausgeht, folgendermaßen beschrieben: „Sie bedeutet die
Eröffnung des Raumes einer undogmatischen, alle Seelentiefe in sich
einfangende und in sich wiedergebenden vollendeten Sprache, zu der
die Menschheit, die ganze Menschheit – denn sie ist nach kurzer
Aufschließungsperiode jedermann verständlich – immer wieder
zurückkehren kann und wird, weil sie die Schleusen zu
aller-allgemeinsten Untergründen öffnet und aus der Transzendenz
getränktes Fühlen in Strömen sich ergießen lässt“ (Alfred Weber). Diese „unerschöpfliche Symbolik“, diese „universelle
Menschheitssprache“ (Ders.), ließ in Umrissen bereits eine
Erfahrung erahnen, die sich erst am Ende des 20. Jahrhundert
konkretisierte. Der Zusammenhang von Mensch und Kosmos, von Natur und
Geist wurden in bislang nie gekannter Tiefe und Weite thematisiert.
So wie damals nach den Religions- und Bürgerkriegen, den Hegemonialkämpfen und mit dem beginnenden Kolonialismus ein neues europäisches Staatensystem entstand, so erleben wir gegenwärtig offenbar die Geburt eines Systems polyzentrischer Großräume und Regionen, das sich unter dem Druck ökologischer Gefährdungen in globalen Kommunikationsprozessen zu einer neuartigen Schicksalsgemeinschaft formiert. Dieser chaotisch erscheinende Prozess lässt sich nicht in den traditionellen geschichtsphilosophischen und politischen Kategorien fassen. „Es gilt vielmehr, die inneren Gesetze dieses Prozesses verstehen zu lernen, der offensichtlich nicht linear verläuft – wie es das gute alte Fortschrittsmodell insinuierte – sondern multiform diachron `dialektisch´ in einem morphogenetischen Spannungsfeld von höchster Komplexität“ (Nicolaus Sombart). Den neuen Integrationen entsprechen, entgegen den Träumen von Großraumimperien, mindestens ebenso viele neue Differenzierungen. Die Herausbildung der neuen Wirtschafts-, Sicherheits- und Rechtsräume, in denen vergleichsweise homogene wissenschaftlich-technische Standards erfüllt werden müssen, wird von Differenzierungsprozessen begleitet, die ihren Ausdruck im Begriff der „kulturellen Identität“ finden. „Entstanden ist er in der `Dritten Welt´, und stellte dem Universalismus der nördlichen Hemisphäre den Anspruch auf Eigenständigkeit von alten Kulturvölkern entgegen, die darauf bestanden, dass sie mehr als nur `Entwicklungsländer´ waren“ (Ders.). Unabhängig von den modischen Konnotationen, die dem Begriff im postmodernen Diskurs der metropolitanen Reflexionseliten mittlerweile zugeschrieben wurden, unabhängig auch von der Indienstnahme durch diverse ethno-religiöse Fundamentalismen, bleibt er ein Schlüssel zum Verständnis der neuen Weltordnung. „Das Pochen auf `kulturelle Identität´ ist ein Protest gegen die widerstandslose Unterwerfung unter die ideologischen Forderungen der Eingemeindung in die One World. Vom `Prozess´ her gesehen ein `Widerstand´, bezeichnet er doch die Nahtstelle der Entwicklung, an der die `Vielheit in der Einheit´ sich differenziert, ohne die die eine Welt zur Wüste würde“ (a.a.O.). Daraus leitet sich die Fragestellung ab, wie sich Herkunft und Zukunft zu den Lebensformen der globalen Ära verbinden. Diese Problemstellung der ehemaligen „dritten Welt“ bestimmt nach dem Ende des ideologischen Gegensatzes von Freiheit und Kommunismus unsere Epoche.
So wie damals nach den Religions- und Bürgerkriegen, den Hegemonialkämpfen und mit dem beginnenden Kolonialismus ein neues europäisches Staatensystem entstand, so erleben wir gegenwärtig offenbar die Geburt eines Systems polyzentrischer Großräume und Regionen, das sich unter dem Druck ökologischer Gefährdungen in globalen Kommunikationsprozessen zu einer neuartigen Schicksalsgemeinschaft formiert. Dieser chaotisch erscheinende Prozess lässt sich nicht in den traditionellen geschichtsphilosophischen und politischen Kategorien fassen. „Es gilt vielmehr, die inneren Gesetze dieses Prozesses verstehen zu lernen, der offensichtlich nicht linear verläuft – wie es das gute alte Fortschrittsmodell insinuierte – sondern multiform diachron `dialektisch´ in einem morphogenetischen Spannungsfeld von höchster Komplexität“ (Nicolaus Sombart). Den neuen Integrationen entsprechen, entgegen den Träumen von Großraumimperien, mindestens ebenso viele neue Differenzierungen. Die Herausbildung der neuen Wirtschafts-, Sicherheits- und Rechtsräume, in denen vergleichsweise homogene wissenschaftlich-technische Standards erfüllt werden müssen, wird von Differenzierungsprozessen begleitet, die ihren Ausdruck im Begriff der „kulturellen Identität“ finden. „Entstanden ist er in der `Dritten Welt´, und stellte dem Universalismus der nördlichen Hemisphäre den Anspruch auf Eigenständigkeit von alten Kulturvölkern entgegen, die darauf bestanden, dass sie mehr als nur `Entwicklungsländer´ waren“ (Ders.). Unabhängig von den modischen Konnotationen, die dem Begriff im postmodernen Diskurs der metropolitanen Reflexionseliten mittlerweile zugeschrieben wurden, unabhängig auch von der Indienstnahme durch diverse ethno-religiöse Fundamentalismen, bleibt er ein Schlüssel zum Verständnis der neuen Weltordnung. „Das Pochen auf `kulturelle Identität´ ist ein Protest gegen die widerstandslose Unterwerfung unter die ideologischen Forderungen der Eingemeindung in die One World. Vom `Prozess´ her gesehen ein `Widerstand´, bezeichnet er doch die Nahtstelle der Entwicklung, an der die `Vielheit in der Einheit´ sich differenziert, ohne die die eine Welt zur Wüste würde“ (a.a.O.). Daraus leitet sich die Fragestellung ab, wie sich Herkunft und Zukunft zu den Lebensformen der globalen Ära verbinden. Diese Problemstellung der ehemaligen „dritten Welt“ bestimmt nach dem Ende des ideologischen Gegensatzes von Freiheit und Kommunismus unsere Epoche.
„Zwei
Möglichkeiten der Menschheit, durch die Zeit zu gehen“
Das
Ende des Sowjetkommunismus hat die zu Beginn der Russischen
Revolution bestehenden ost-westlichen Probleme nicht gelöst. Die
Hauptrichtung der damaligen Revolution, die
agrar-sozialistisch-demokratische „Narodnitschestwo“,
die in der einzigen allgemeinen und freien Wahl nach dem Fall des
Zarismus und vor dem Staatsstreich der Bolschewisten sechzig Prozent
der Stimmen auf sich vereinte, war bereits eine Partei, deren
Ideologie aufklärerische und romantisch-konservative Elemente
zusammenführte. Ihr Einfluss auf die orientalischen Völker des
russischen Reiches war enorm. Der Narodniki-Schriftsteller Gleb
Uspenskij war für die von russischen Bauernsiedlern enteigneten
baschkirischen Nomaden eingetreten, Alexander Herzen begrüßte den
Unabhängigkeitskampf der Kasachen unter Bay Esset, der Ethnologe und
Narodnik Dimitri Klemenc hatte die Freisprechung der während des
japanisch-russischen Krieges rebellierenden altai-türkischen
„Burchanisten“ erwirkt, nachdem sich bereits Wladimir Korolenko
erfolgreich gegen die staatskirchlich betriebene Verfolgung der
Udmurten aus dem Wjatka-Gebiet (europäischer Teil des Vorural)
gewandt hatte. Wenngleich
die Narodnikibewegung die georgische Bauernschaft nicht erreichte,
war ihr Einfluss auf die Intellektuellen doch erheblich. So regte sie
die Volkskunde und die Formung des georgischen Nationalbewusstseins
an. Zu den Vertretern dieser Richtung gehörte Nikolai Nikoladze, ein
Freund Alexander Herzens. Noch
nach der bolschewistischen Machtergreifung stürzten 1918 die
Turkmenen in Aschchabad zusammen mit den russischen
Sozialrevolutionären (Partei der Narodniki) die dort bereits
etablierte kommunistische Diktatur und waren imstande, eine
demokratische Gegenregierung ein Jahr lang aufrechtzuerhalten. Auch
die geistige Elite der Jakuten widersetzte sich unter dem Einfluss
der bereits zur Zarenzeit nach Sibirien deportierten Narodniki der
Oktoberrevolution. Das jakutische Nationalkomitee unterstütze die
Regierung Alexander Kerenskis. Aber selbst in der „Narodnitschestwo“
war der Konflikt zwischen den Interessen einer großrussischen
expansiven Bauernkolonisation, die sich hinter der Forderung nach
Verteilung allen
Landes unter alle
Bauern verbarg, und den demokratisch-antikolonialen Tendenzen nicht
zu übersehen. Derartige Ansprüche waren zwar auf dem Dritten
Parteikongress der Sozialrevolutionäre stillschweigend beiseite
gestellt worden, aber schon diese Vernachlässigung des Problems
nutzte den Bolschewiki, insofern die Völker in den orientalischen
Randgebieten Russlands aufgrund dieser Unklarheiten oftmals eine
neutrale Position zwischen den „Weißen“ und den „Roten“
einnahmen. Hinzu kam, dass die „Weißgardisten“ sich auf die
Kosaken stützten, die so viel Land der orientalischen Völker an
sich gerissen hatten.
Bis
heute – die gegenwärtigen Ereignisse im Vorderen Orient stellen
es erneut unter Beweis – ist es nicht gelungen, im eurasischen Raum eine
kohärente Verbindung von bäuerlicher Emanzipation, demokratischer
Bewegung und nationaler bzw. regionaler Integration herzustellen.
Die einzelnen Elemente fielen immer wieder auseinander und wurden zu
autoritären Ideologien und diktatorischen Regimen zwangsvereinigt.
Drei
Jahre bevor in Sofia die intellektuelle Gründungsurkunde der
eurasischen Bewegung veröffentlicht wurde, hatte Woodrow Wilson, der damalige Präsident der Vereinigten Staaten, das Selbstbestimmungsrecht der
Völker gefordert und Tomáš Garrigue Masaryk, der im November zum
Staatspräsidenten der Tschechoslowakei gewählt wurde,
veröffentlichte seine Kampfschrift „Nová Evropa“, eine
Apologie des „nationalen Prinzips“. Alfred Weber, der von
1904-1907 als Professor für Nationalökonomie in Prag gelehrt hatte
und der mit ihm befreundete Masaryk waren sich damals einig in ihrem
Bestreben, die Gleichberechtigung der Deutschen, Ungarn und Slawen
innerhalb des österreichischen Verfassungssystems zu realisieren
und in ihrer gemeinsamen Ablehnung des zaristischen Expansionismus.
Masaryks Botschaft aus dem Jahre 1918 stand Weber als überzeugter
„Mitteleuropäer“ jedoch ablehnend gegenüber. Er mochte dessen
eigentümlicher Melange aus Wilsonismus und Panslawismus nichts
abzugewinnen und hat ihm seine Abkehr vom „fragilen Kunstwerk“
des österreichischen Staates zeitlebens nie ganz verziehen. In
dieser Zeit nimmt Weber im Rahmen der Auseinandersetzungen um die
deutsche Kriegszielpolitik, in der er der „Mitteleuropa“-Konzeption
Friedrich Naumanns nahe stand, Kontakte zur litauischen, zur
finnischen, zur ukrainischen und zur georgischen
Unabhängigkeitsbewegung auf. Er unterstützte die Gründung eines
litauischen Staates, setzt sich für eine unabhängige finnische
Monarchie und für die Ukrainische Volksrepublik (1917-1920) ein,
kritisiert zugleich das Bündnis der Deutschen mit den
osteuropäischen Großgrundbesitzern und engagiert sich für
umfassende Agrarreformen. Anfang Juni 1919 trifft er Akaki
Tschenkeli, den damaligen Außenminister Georgiens in Berlin. Nach
dem Besuch des menschewistische Politikers unterstützt Weber die
Anerkennung der georgischen Selbständigkeit. Sein Scheitern als
Exponent bestimmter geistiger und politischer Strömungen
Mitteleuropas und die Niederlage des unabhängigen Georgiens sind
Teile eines zusammenhängenden Prozesses, der unsere Geschichte bis
heute prägt. Partikel des Wilsonismus, des Leninismus/Trotzkismus,
der Eurasischen Ideologie und der mackinderschen Geopolitik bestimmen
auch heute in immer neuen Mischungen die globale Politik. Es sind
genau diese Mesalliancen fragwürdiger und längst überständiger
Machtpolitik, die nicht nur zum Untergang Mitteleuropas beitrugen und
die Kaukasusregion unter das bolschewistische Joch zwangen, sondern
die auch bis heute jede Lösung regionaler Konflikte und jede echte
Entwicklung im eurasischen Raum unmöglich machen. Dieser
unerlöste Raum rückt den Beginn der Globalgeschichte immer wieder
in unabsehbare Ferne. Das Drama des
syrischen Volkes belegt erneut den schwierigen „Abschied von der
bisherigen Geschichte“ (Alfred Weber).
Dieser
mühsame Abschied prägt auch die Agonie des georgischen Lebens. Die
aus der Warteschleife der Geschichte überkommenen Probleme, die durch
die russische Revolution nicht gelöst werden konnten, bestimmen
immer noch die Gegenwart der kleinen Kaukasusrepublik. Ein Teil der
intellektuellen Elite des Landes versucht, in immer neuen
Fluchtbewegungen der Aktualität ihres Daseins zu entgehen. Wo
gestern noch die georgischen Neokonservativen in den geostrategischen
Planspielen des US-amerikanischen Unilateralismus den Platz ihres
Landes zu finden versuchten, wird heute über eine Verortung im
eurasischen Großraum spekuliert. Die sogenannte „Linke“ beerbt
trotzkistische Phantasien einer permanenten Weltrevolution und
gefällt sich in ihrer elitären Dekonstruktion vermeintlicher oder
tatsächlicher georgischer Traditionen. Begriffe ohne Anschauung
bestimmen die Debatten. Neuerdings souffliert offenbar der tote
Spross des großen russischen Dichterpaares, Lew Gumiljow, aus seinem
Grab die neuen Stichworte des politischen Diskurses. Das "silberne
Zeitalter", das mit der akmeistischen „Sehnsucht nach Weltkultur“
(Ossip Mandelstam) endete, wird erneut verabschiedet. Wo Nikolai
Gumiljow noch das Gilgameschepos, die Werke Heinrich Heines und Samuel
Coleridge ins Russische übertrug und uns die Abessinischen Lieder
schenkte, wo Anna Achmatowa die Wahrheit ihrer klaren und zutiefst
humanen Poesie überlieferte, wird heute die obskure Ethnoideologie
ihres Sohnes gepflegt. Die „kulturellen Protuberanzen“ (Alfred
Weber), die kreativen „Explosionen“ (Jurij Lotman) der Noo- oder
Semiospäre werden auf die biochemische „Passionarität“ des
eurasischen Raums reduziert. Georgien, das als Inspirationsquelle
der russischen Symbolisten und Akmeisten eine so große Rolle
spielte, verschwindet so als geistiger Topos zwischen modernistischem
Sphärenflug und völkischem Furchenglück. Der komplexe Zusammenhang
von Zivilisationsprozess und kultureller Topographie, der die
geistige Ökologie des Kaukasusraums bestimmt, wird
auseinandergerissen und so entsteht eine zunehmend unfruchtbarere
Landschaft. Die Flucht in fremde Großräume und die sie noch immer
beherrschenden expansiven Machtstaaten, zerstören die feinen
kulturellen Differenzierungen und die kunstvolle Polyphonie der
Kaukasusregion. Im Kern ist diese Kulturzerstörung eine Zerstörung
der Aisthesis. Der „physiognomische Takt“ (Oswald Spengler), der
uns „das Phänomen als Bild und Gestalt in situ“ (Nicolaus
Sombart) wahrnehmen lässt und der jeder topographischen Hermeneutik
zugrunde liegt, prägt sich kaum noch aus. Die Flucht vor der
Aktualität des Geistes, entstanden aus abgründiger Angst vor der
Unfruchtbarkeit, vernichtet die Fähigkeit zur Gestaltwahrnehmung,
die den Zusammenhang von schöpferischer Tat, Symbol und Raum
erschließt. Der auch in Georgien gepflegte Rückgriff auf Carl
Schmitt hat daher nicht die geringste Ahnung von der sowohl
praktisch-politisch als auch kultursoziologisch anspruchsvollen
Aufgabe, den neuen „Nomos der Erde“, den globalgeschichtlichen
Zusammenhang von „Ortung und Ordnung“ zu erfassen. Genau hier
entsteht die Notwendigkeit, die zwei verschiedenen Möglichkeiten der
Menschheit durch die Zeit zu gehen, in ihrem komplexen Zusammenhang
zu erforschen:
„Die
Zivilisation bringt einen gewissen Zeitsinn auf der Grundlage der
Akkumulation und des Fortschritts hervor, während die Art und Weise,
wie ein Volk seine Kultur entfaltet, auf dem Gesetz der
schöpferischen Selbstloyalität besteht“ (Paul Ricœur).
Das
von der Russischen Revolution nicht gelöste und in den eurasischen
Phantasmen nur noch gesteigerte Problem der Formlosigkeit betrifft vor allem die
widersprüchliche Verbindung von Raum, Gewalt und Zivilisationsprozess. Die
Anfang der 1920er Jahre durch das Erscheinen von Nikolai Bucharins
Buch „Ökonomik der Transformationsperiode“ ausgelöste Debatte
über die „Unkosten der Revolution“, die den Zivilisationsbruch,
die Zerstörung der gegenständlichen und persönlichen
Produktivkräfte ansatzweise thematisierte und der Einführung der
NÖP voranging, blieb noch sehr an der Oberfläche der
zugrundeliegenden Phänomene. Ausgeblendet wurde nicht nur die Fragen
der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, sondern auch die Probleme
der kulturräumlichen Organisation Eurasiens und der menschlichen
Personalität. Bucharin hielt bis zu seinem Tod an der Idee einer Ost
und West umgreifenden „ganzheitlichen sozialistischen Kultur“
fest. Seine Gefängnisschriften „Der Sozialismus und seine Kultur“
(1937), die der Autor bereits als Opfer der „asiatischen
Restauration“ verfasste, demonstrieren diese utopische Perspektive.
Darin ähnelte er Anatoli Lunatscharski, dem ersten Volkskommissar
für das Bildungswesen, der dem Schicksal Bucharins vermutlich nur
durch seinen Tod in Frankreich 1933 entging. Bucharin begründete
kulturpolitisch immerhin die moderne Wissenschaftsforschung, die in den Werken
von Wladimir Wernadski und Konstantin Megrelidze ihre ersten
Höhepunkte erreichte. Beide gingen über den Rahmen der
Wissenschaftsforschung im engeren Sinn hinaus und schufen die Grundlagen einer global- und entwicklungsgeschichtlichen Theorie
des Denkens ("Noogenese"). Zusammen
mit den Werken der Ökonomen Nikolai Kondratjew und Alexander
Tschajanow, der Psychologen Lew Wygotskij und Dimitri Uznadze und den
Forschungen des genialen Kulturtheoretikers Michail Bachtins sind
ihre Erkenntnisse das wahre Vermächtnis der Revolution, die seit
1905 bis heute unser aller Dasein umwälzt. Bachtin hatte zusammen
mit seinen Forschungen zur ästhetischen Tätigkeit und zur Dialogik
bereits Ansätze zu einer Raumtheorie („Chronotopos“) geschaffen,
die weit über dem Niveau der eurasischen Phantasmen eines Gumiljow
lagen. Hier
öffnet sich die Humanwissenschaft den Dimensionen der Bedeutung und
der Freiheit. Die Aneignung und Aufhebung dieses Erbes beendet den
Weltbürgerkrieg, nicht der falsche Thermidor eines neuen eurasischen
Imperiums. Alexander
Eichenwald, ein Wirtschaftswissenschaftler, hatte bei einer
Gegenüberstellung in der Lubjanka Gelegenheit, mit seinem Lehrer
Bucharin über dessen letzte Zielsetzungen zu sprechen. Er war
verwundert darüber, wovon sein Lehrer ihn mit Eifer zu überzeugen
versuchte. Die neue wissenschaftliche Aufgabe bestünde darin, alle
Ideologie, Ökonomie und Politik zu vergessen. Es komme darauf an,
den Sinn und den Wert des menschlichen Lebens zu ergründen.
Eichenwald konnte die rätselhafte Botschaft nicht recht deuten.
Bucharin hat sein Buch über die „menschliche Natur“ nicht mehr
schreiben können, sowenig wie wir wissen, was Konstantin Megrelidze
uns in seinem zweiten Buch über die Entwicklung des menschlichen
Bewusstseins mitteilen wollte. Bucharin wurde im März 1938
erschossen. Megrelidze starb im September 1944 im Lager Kaiski,
nördlich von Kirow. 1953
vollendete der bereits fünfundachtzigjährige Alfred Weber in Heidelberg sein
letztes Werk mit dem Titel „Der dritte oder der vierte Mensch. Vom
Sinn des geschichtlichen Daseins“. Iwan Jessenin, von 1945 bis 1949
als Kulturoffizier in Deutschland für die Hochschulen, Universitäten
und Volksbildung zuständig, fühlte sich noch dreißig Jahre später von dem Buch besonders
angesprochen und charakterisierte Weber als unverwechselbaren Denker und letzten universalhistorisch
arbeitenden deutschen Soziologen.
Die
Schlussfolgerungen aus den vorliegenden topographisch-hermeneutischen
Studien zur eurasischen Problematik werden
durch
Zurab Papaskiri und Bejan Khoravas Forschungen
zur russischen Kolonialpolitik im Kaukasusraum zusätzlich belegt:
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