Samstag, 28. September 2013

Eurasische Phantasmen

oder die Wiederkehr des Raumes

Vorstudien zur topographischen Hermeneutik Georgiens

von Dr. Frank Tremmel




Russland, das in seinen ersten, überwiegend feudalen, zum Teil aber in Nowgorod auch städterepublikanische Stadien unzweifelhaft Freiheitstendenzen in sich trug und von Byzanz nur Glauben und Kirche übernommen hatte, wurde seit seiner `Sammlung um Moskau´, bei der es die byzantinische Bürokratie und Staatshieratik als verfestigendes Staatsferment entlehnte, der große hieratisch-bürokratische Monolith von Europa, der sich nicht umsonst selbst als Nachfolger von Byzanz, nach dessen Fall, proklamierte. Alle alten östlich-bürokratischen Unfreiheitstendenzen wurden hier fortgesetzt und strahlen von da auf das daneben liegende Abendland aus.“

Europa-Asien ist kein einheitlicher Körper von verwandter gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und geistiger Formung, sondern eine Welt der größten Mannigfaltigkeit, von keiner Denk-, Sprach- oder Formgemeinschaft irgendwelcher Art, vielmehr von abgrundtiefsten Differenzen der seelischen Ausdrucksrichtung, geistigen Gegenstandsgestaltung und des praktischen Wollens;  eine Welt verschiedenartiger historischer Kulturgebilde teilweise riesiger Gestalt und ältester Fixierung, teilweise bisher flüchtiger Leere und wandelbarer Jungheit.“

Auch diese Völker stehen in Wahrheit, mögen sie nun aus alten Formen herausgetreten sein wie wir und neue suchen, oder mögen sie überhaupt erst heute auf die Bühne kommen, an einem Anfang. Auch sie ruhen in Wahrheit, wenn sie sich auf ihren geistigen Ursprung besinnen können, von dem sie weiterbauen können, auf dem alten gemeinsamen Mutterboden, der aus der europäischen Antike stammt. Auch sie können, wenn sie fruchtbar werden wollen, mit der Ausprägung, die das Lateinertum und das Angelsachsentum vom europäischen Boden her geschaffen haben, nichts anfangen, wie sie andererseits in den noch völlig ungeklärten, aus byzantinischen und asiatischen Elementen gemischten russischen Nebel nicht gehören. Auch sie werden, wenn sie es richtig anfangen, die Ausprägung eines jungen neuen Europäertums versuchen.“

Auf dem Mond werden wir nichts erfahren. Nichts darüber, wie wir leben sollen. Wir müssen kapieren, was wirklich wichtig ist, sonst sind wir verloren.“

Alfred Weber







Der georgische Traum vom Raum 

In den beiden Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte die Raumdimension nicht nur im Rahmen einer wiederentdeckten Geopolitik, sondern ebenso in den Kulturwissenschaften eine ungeahnte Renaissance. Neben den einschlägigen Theorien der jüngeren Vergangenheit wurden auch ältere Autoren wiederentdeckt. Friedrich Ratzel, Karl Haushofer, Carl Schmitt und Oswald Spengler erwiesen sich – mehr oder weniger explizit – als Wiedergänger eines Geschichts-. Kultur- und Politikverständnisses, das in den Konzeptionen eines Samuel P. Huntington und eines Alexander Dugin fröhliche Urständ feiert. Das Fragwürdige dieser Ansätze ist offenkundig und wird weidlich diskutiert. Weniger deutlich sind die methodologischen und politischen Alternativen. Neben einer grob empirischen Kartographie der Kulturen, die deren Grenzen nur allzu gerne mit den Grenzen alter und neuer Imperien identifiziert, finden wir die allgegenwärtigen Dekonstruktionen des Raums, die sich vor allem der kritischen Vivisektion der primordialen Mythen und der Apologie der Hybridität verschrieben haben. Tatsächlich tragfähige Konzepte einer topographischen Hermeneutik, die zudem der Politikwissenschaft als Demokratietheorie neue Impulse geben können, sind rar. Für Georgien, das seinen Ort immer wieder an der Schnittstelle so vieler Räume fand, das sich in seinem Kampf für Freiheit zwischen Ost und West fortwährend so vielen despotischen und imperialen Tendenzen ausgesetzt sah, ist eine solche Forschung geradezu überlebensnotwendig. Das sich unweit der Kaukasusregion vollziehende syrische Drama offenbart die Notwendigkeit, die Zivilisationstheorie um eine Hermeneutik des Raums zu erweitern. Die kulturelle Semantik Georgiens kann in ihren topologischen Tiefendimensionen und in ihren politischen Bezügen am ehesten durch eine kultursoziologische Konstellationsanalyse erschlossen werden, deren Grundlagen zu der Zeit entstanden, in der auch die eurasische Bewegung geboren wurde. Alfred Weber, mit dem Werk Oswald Spenglers intim vertraut, hatte sich nicht in den Solipsismus einer kulturellen Monadenlehre verrannt und konnte so das Wertvolle der Spenglerschen Symboltheorie kritisch aufheben. Weber, der 1919 mit Spengler in München noch persönlich diskutiert hatte, lieferte wertvolle Beiträge zu einer humanistischen Kulturtopologie und wandte sich zugleich gegen jede Form der Ideokratie und der Demokratieverachtung.

Es war zu erwarten, dass die „Krise des modernen Staatsgedankens in Europa“, die Alfred Weber bereits 1925 konstatierte und die heute erneut den europäischen Einigungsprozess begleitet, auch Auswirkungen auf die georgische Suche nach einer Staatsidee haben würde. Die Unfähigkeit der intellektuellen Elite Georgiens, ein einigermaßen kohärentes Konzept der Staatlichkeit zu formulieren, hat diese geistige Abwendung von Europa und die Suche nach vermeintlichen Alternativen beschleunigt. Ein großer Teil der jüngeren Generation der urbanen Intellektuellen beschäftigte sich lange Zeit lieber mit Fragen der sexuellen Revolution und mit ortsfremden Modernisierungsheorien, anstatt sich mit einer für Georgien angemessenen topologischen Bewusstseinsbildung zu befassen. Zur gleichen Zeit formierten sich Gruppierungen eines aggressiven religiös-ethnischen Nationalismus, die Georgiens Zukunft im Raum eines orthodoxen Commonwealth sehen. Die andauernde Agonie des georgischen Lebens, der Zerfall der Dörfer, die Zerstörung der gebildeten Mittelschichten, der um sich greifende pseudomoderne Nihilismus in allen kulturellen Bereichen, erzeugen eine geistige Atmosphäre, in der die „eurasische“ Option vielen plausibel erscheint. Bei diesen Überzeugungen handelt es sich allerdings vor allem um ein Amalgam aus Scheinevidenzen: Unproduktive ökonomische Abhängigkeitsbeziehungen und kaum noch tragfähige kulturelle Gemeinsamkeiten aus sowjetischer Zeit gehen mit passend erscheinenden ideellen Konzepten aus der Gedankenwelt des russische Exils der 1920er/30er Jahre eine wenig belastbare Verbindung ein. Diese instabile Allianz verfügt dennoch über eine nicht zu unterschätzende Anziehungskraft, die vor allem aus der Unfähigkeit der demokratischen Kräfte resultiert, einen tragfähigen Staatsgedanken zu formulieren. Eine um ihre kulturräumliche Tiefendimension gebrachte Zivilisationstheorie sieht sich mit der Wiederauferstehung der kulturmorphologischen und raumpolitischen Betrachtungsweisen eines Nikolai Trubetzkoi bzw. eines Petr Savickij konfrontiert. Es bleibt abzuwarten, ob daraus in Georgien in absehbarer Zeit auch geopolitische Schlussfolgerungen gezogen werden. Was diese Verschiebungen in der symbolischen Tektonik für den georgischen Genius loci bedeuten können, lässt sich aufgrund historischer Erfahrungen allerdings bereits heute beantworten.

Die eurasische Bewegung ist in geistiger Hinsicht ein Produkt des russischen Exils. Sie hat keine georgischen Wurzeln. Nikolai Alexejew, Jakow Sadowski, Petr Suwtschinski, Nikolai Trubetzkoi, Georgi Florowski, Petr Savickij, Lew Karsawin u.a. schufen nach der Oktoberrevolution eine neue nationalpolitische Konzeption, die im Gegensatz zu den Ideen der exilierten russischen Liberalen, der linken Demokraten und der Monarchisten der nachrevolutionären Wirklichkeit immerhin Rechnung trug, den traditionellen Panslawismus weiterentwickelte und Russland kulturpolitisch im mittel- und ostasiatischen Raum verortet sah. Damit unterschieden sich die Eurasier von den antibolschewistischen Opponenten der russischen Revolution. Es handelte sich im wesentlichen um eine Bewegung, die in den intellektuellen Eliten die treibende Kraft der geistigen Erneuerung Russlands sahen. In dieser Hinsicht grenzten sie sich von den „Narodniki“ (Volkstümlern) ab, die vor allem die Bauern als das historische Subjekt einer agrarsozialistischen Rekonstitution der „Obschtschina“ (Dorfgemeinde) betrachteten. Das politische Ziel der Eurasier war vielmehr die Schaffung einer orthodoxen „ideokratija“ (Ideokratie), die Herrschaft einer Einheitspartei, welche die Gesellschaft nach ihren Idealen umgestalten sollte. Ähnlich wie die Bolschewisten hatten sie keine sozialen Wurzeln in den vorrevolutionären Klassen, Schichten und Milieus, betrieben andererseits aber eine Sakralisierung tradierter Lebensformen. Sie vertraten gewissermaßen einen von seinen kommunistischen und marxistischen Elementen gereinigten Bolschewismus auf ethno-religiöser Grundlage. Diese Verbindung des russischen Messianismus mit nationalrevolutionären Bestrebungen hatte durchaus immer wieder partielle Anhaltspunkte in der historischen Realität. Die frühe eurasische Bewegung ist ohne den Aufstieg des Stalinismus sowenig zu verstehen wie die neu-eurasischen Bestrebungen ohne die post-sowjetische Krise.



Revolution und asiatische Restauration

Bereits im September 1920, dem Jahr, in dem sich über Aserbaidschan der Druck auf die unabhängige Demokratische Republik Georgien verstärkte, fand in Baku mit 1800 Delegierten aus verschiedenen asiatischen Ländern der sogenannte „Kongress der Völker des Ostens“ statt, auf dem sich der ganze Zwiespalt der Russischen Revolution offenbarte. Bereits sehr schnell stellte sich heraus, dass diese Vertreter der nicht-europäischen Welt, Kasachen, Usbeken u.a., sich nicht als willfährige Instrumente einer europäischen Revolution verstanden. Die Revolution der nationalen Befreiung und die Revolution des Weltproletariats konnten nur durch fragile Kompromissformeln zusammengebunden werden. Die ausgebliebenen Revolutionen im Westen erzeugten ein sowohl praktisches als auch ideologisches Problem. Die russische Sowjetrepublik war ohne Schutzzonen und Rohstofflieferanten nicht lebensfähig. Das Getreide und Eisen aus der Ukraine, das Erdöl aus dem Kaukasus und die Baumwolle aus Zentralasien waren unverzichtbar. Lenin selbst betrachtete neben der Verwirklichung des der Elektrifizierung dienenden GOELRO-Plans und dem Aufbau des Genossenschaftswesens vor allem die Nationalitätenpolitik als zentrale Aufgabe der neuen Macht. Seine im Rahmen der NÖP (Neue Ökonomische Politik) zunehmende Fokussierung auf die Kulturarbeit anstelle des forcierten Klassenkampfes konnte aber innerhalb des bolschewistischen Systems nicht durchgeführt werden. Dabei scheiterte er an den Widersprüchen des von ihm selbst mit ins Leben gerufen repressiven politischen Regimes. Er sah durchaus, wie heikel das Thema Nation war und wie viel Fingerspitzengefühl es erforderte. Seine Balance der beiden Revolutionen im Spannungsfeld zwischen West und Ost brach jedoch schon zu seinen Lebzeiten auseinander. Weltrevolution und nationale Befreiung waren im Rahmen des bolschewistischen Systems nicht zu vermitteln. Die „asiatische Restauration“, vor der ihn Georgi Plechanow und die Menschewiki bereits 1905 gewarnt hatten, war daher unausweichlich. Bereits 1921 wurde unter der Leitung von Leo Trotzki der Kronstädter Matrosenaufstands vor St. Petersburg und die „Machnowschtschina“ in der Ukraine niedergeschlagen. Im gleichen Jahr okkupiert die Rote Armee Georgien und zerschlug die von Sozialdemokraten regierte unabhängige Demokratische Republik.

Der historische Marxismus hatte in seinen evolutionären und revolutionären Spielarten die kulturtopologische Dimension der Geschichte weitestgehend ausgeblendet. Die Entwicklungssequenz Feudalismus-Kapitalismus-Sozialismus/Kommunismus vernachlässigte räumliche und kulturelle Differenzierungen im Gesamtprozess. Die noch bei Marx in den berühmten „Grundrissen“ (1857/58) zu findende Unterscheidung der „Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen“ , zu denen auch die „asiatische“ gehört, seine vorsichtigen Skizzen der Alternativen einer zukünftigen russischen Entwicklung, wie sie sich in den Briefentwürfen an die Sozialrevolutionärin Vera Sassulitsch (1881) finden, wichen bereits in der Zeit der Zweiten Internationale einer zunehmend eurozentrischen, materialistisch-deterministischen Entwicklungstheorie, wie sie beispielsweise in Georgi Plechanows „Über materialistische Geschichtsauffassung“ (1898) und später in Karl Kautskys „Die materialistische Geschichtsauffassung“ (1927) kodifiziert wurde. Wenn Marx in „Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien“ (1853) den Kolonialismus scharf kritisierte und noch davon ausging, dass erst „wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, [] der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen [würde], der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte“, wurden später in der westeuropäischen Arbeiterbewegung recht fraglos progressiv-lineare Illusionen gehegt. Aber auch Marx hatte keinen Gedanken darauf verschwendet, was zu tun wäre, wenn die „am weitesten fortgeschrittenen Völker“ keine Anstrengungen in die von ihm prognostizierte Richtung unternehmen würden. Genau vor dieses Problem sahen sich die russischen Revolutionäre aber spätestens ab 1920 gestellt. Das Fehlen einer kulturtopologischen Perspektive, das die marxistische Antizipation einer zivilisatorischen Synchronisation kennzeichnet, wurde ihnen letztlich zum Verhängnis. Dieser Mangel kennzeichnet die gesamte liberal-progressive Geschichtsphilosophie Westeuropas und prägt bis heute die aus ihr hervorgegangenen Modernisierungstheorien. Genau hier lag die gedankliche Einsatzstelle der Eurasier.

Der „Aufbau des Sozialismus in einem Land“, dessen Voraussetzungen Nikolai Bucharin 1925 in einer Broschüre noch fragend sondierte, erwies sich als nicht zu bewältigende Zerreißprobe. Das Scheitern des „Kriegskommunismus“ und die sich immer stärker abzeichnenden Probleme einer fehlenden Entwicklungskonzeption offenbarten das ganze Dilemma. Schon recht bald nach Lenins Tod zeichnete sich endgültig das ideelle und praktische Auseinanderbrechen der scheinbar einheitlichen revolutionären Trajektorie ab. Die vor allem von Bucharin unterstützte NÖP hatte, von der herrschenden Partei beargwöhnt, dem nachrevolutionären Menschewismus u.a. neue Möglichkeiten eröffnet. Die „genetische Sichtweise“ (Kondratieff etc.), die einen an den objektiven Bedingungen der postrevolutionären Gesamtwirtschaft orientierten Industrialisierungsplan favorisierte, bot versierten nicht-bolschewistischen Fachleuten Betätigungsfelder für eine konstruktive Aufbaupolitik. Industrielle und landwirtschaftliche Entwicklung sollten sich ausgewogen vollziehen. Alexander W. Tschajanow entwickelte seine bahnbrechenden Gedanken zur Verbindung von bäuerlicher Familienwirtschaft, Genossenschaftswesen und Marktwirtschaft. Fragen der „Fundamentaldemokratisierung“ (Karl Mannheim), einer echten Föderalisierung bzw. gar des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen konnten allerdings längst nicht mehr gestellt werden. Der Kampf gegen die nationalen und religiösen Traditionen wurde weiterhin mit unbarmherziger Härte geführt. Zugleich formierte sich ein internationalistischer Ultrabolschewismus, der unter Trotzkis Führung auf die permanente Weltrevolution als Voraussetzung jeder sozialistischen Perspektive bestand. Diese Richtung forderte eine schnelle rücksichtslose Industrialisierung. Die „ursprüngliche sozialistische Akkumulation“ (Jewgeni A. Preobraschenski) sollte vor allem auf Kosten des Agrarsektors in Gang gesetzt werden. Sie sah eine schnelle Proletarisierung und Urbanisierung der Landbevölkerung vor. Die Vertreter einer „teleologischen Sicht“ auf die Wirtschaftsplanung forderten, alle Ressourcen zentralistisch diesen Zwecksetzungen unterzuordnen. Preobraschenski, als Vorsitzender des Präsidiums des Regionalkomitees für das Uralgebiet direkt in in die Ermordung der Zarenfamilie involviert, brach zwar 1929 mit dem Trotzkismus, konnte aber ab 1932 in leitenden Wirtschaftsfunktionen seine Konzeptionen durchsetzen. 1937 fiel auch er dem Großen Terror zum Opfer.

Als entscheidende, sich durchsetzende Kraft erwies sich die terroristische Funktionärsbürokratie in Verbindung mit dem halbasiatischen Erbe Russlands. Auf der Grundlage dieses Bündnisses leitete Stalin seine „Zweite Revolution“ ein. Der Nationalitätenpolitik, für die Stalin als Volkskommissar seit 1917 verantwortlich war, kam dabei eine Schlüsselrolle zu. Im Verbund mit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und der rigorosen Konzentration auf den Aufbau der Schwerindustrie wurde eine anthropologische Transformation vorangetrieben, aus der das neue Sowjetvolk und der Homo sovieticus hervorgehen sollte. Spätestens zu Beginn der 1930er Jahre wurde deutlich, dass die entwicklungspolitischen Erfolge der NÖP neue nationale Eliten hervorgebracht hatten, die in Weißrussland, Zentralasien und im Kaukasus keineswegs völlig mit den traditionellen Werten brachen. Es bildeten sich neue Formen des „Nationalkommunismus“ aus. Stalin, der die internationalistischen Illusionen der Bolschewiki nie geteilt hatte, begann in dieser Zeit – nachdem er sich in den innerparteilichen Machtkämpfen durchsetzen konnte – mit seiner Zerstörung aller traditionellen Lebensformen. Die Zwangskollektivierungen und die Industrialisierung dienten vor allem der imperialen Disziplinierung der eurasischen Bauernvölker. Eine weitere Differenzierung der nationalen Kulturen, die den Zivilisationsprozess begleitet und die doch ideologisch befürwortet wurde, musste nun um jeden Preis unterbunden werden. Mit Hilfe von Zwangsrequirierungen wurden systematisch Lebensmittelengpässe und Hungersnöte ausgelöst. Alleine in der Ukraine starben auf diese Weise nahezu 3,5 Millionen Menschen. Zum Teil schloss Stalin damit an eine bereits aus zaristischen Zeiten bekannte Praxis an, zum Teil bediente er sich aber auch neuer Mittel. Umsiedlungen, willkürliche Neugliederungen ethnischer und nationaler Räume und eine repressive Sprachpolitik wurden durch ideologischen Terror und den Aufbau eines zentralistischen industriellen Planstaates ergänzt. Stalin schuf eine eurasische Ideokratie, die byzantinisch-theokratische Herrschaftspraxis, eine messianische Sozialreligion und industriellen Ultramodernismus vereinte.

Bereits in den Anfängen der Formierung dieser neuen Herrschaftsform spielte Georgien eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zu der immer wieder perpetuierten Behauptung, dass Stalin sein Heimatland dabei privilegiert behandelt hätte, zeigen die historischen Fakten ein anderes Bild. Das Land wurde vielmehr zur Probe aufs Exempel des neuen Imperiums. Nachdem Georgien 1921 von der Roten Armee erobert worden war, begannen auf Initiative Lenins Anstrengungen, die drei kaukasischen Republiken ökonomisch zu vereinen. Grigori K. (Sergo) Ordschonikidse, der bereits 1907 in Baku zusammen mit Stalin im Untergrund gearbeitet hatte und ab 1917 in der Ukraine, der Krim und dem Nordkaukasus als Reorganisator des Staatswesens tätig war, stieß bei dem Versuch, die Direktiven Lenins durchzusetzen, auf erbitterten Widerstand im Zentralkomitee der KP Georgiens. Die Erfahrungen einer unabhängigen menschewistischen Bauernrepublik waren noch nicht verblasst und so bekannte sich die vergleichsweise geschickt operierende Führungsmannschaft der georgischen Kommunisten (Philipe Macharadse, Budu Mdiwani, Michael Okudshawa, Kote Zinzadze, Lado Dumbadse) zur Stärkung des Souveränitätsprinzips innerhalb des sowjetischen Systems. Ende 1921 gab Lenin daher sein Ziel auf. Stalin, dessen Einfluss als Generalsekretär ständig zunahm, unterstützte in dieser Auseinandersetzung jedoch bereits nach Kräften das Zentralkomitee in Moskau. Der Konflikt verschärfte sich zusehends und zog sich über das ganze Jahr 1922 hin. Da es sich nicht um den einzigen, wenngleich schwersten Konflikt dieser Art handelte, wurde auf Ersuchen des Politbüros eine Kommission gebildet, die einen Plan zur Neuregelung der Beziehungen der Russischen Föderation mit den anderen Republiken vorlegen sollte. An der Spitze stand Stalin in seiner Eigenschaft als Nationalitätenkommissar. Seine neue Funktion als Generalsekretär ermöglichte es ihm nun auch, die Zusammensetzung solcher Kommissionen zu bestimmen. So kooptierte er auch in diesem Fall seine politischen Freunde und setzte eigenhändig den Text der Resolution für das sogenannte „Autonomisierungsprojekt“ auf. Der sah die Eingliederung der „unabhängigen Republiken“ in die Russische Föderation als „autonome Republiken“ vor. Hier liegen die praktisch-politischen Anfänge einer Umformung der russischen Staatsidee, die als „asiatische Restauration“ bezeichnet werden kann. Diese Versuche werden in immer neuen Anläufen bis in die jüngste Vergangenheit unternommen.

Die Zentralkomitees Aserbaidschans und Armeniens stimmten zu, die Georgier und Weißrussen zeigten sich widerspenstig. Ordschonikidse verstärkte über das transkaukasische Regionskomitee (Zakkrajkom) den Druck und nutze seinen Aufstieg in der Partei, um dem georgischen Zentralkomitee Befehle zu erteilen, die auf die Durchführung der stalinschen Pläne abzielten. Stalin telegrafierte Mdiwani am 29. August 1922, dass von nun an die Beschlüsse der höheren Regierungsstellen der RSFSR für alle Republiken bindend seien. Der Gegensatz spitze sich erneut zu und Lenin, der bereits schwer erkrankt war, nahm zusehends Kenntnis von den Ereignissen. Wenngleich er zu diesem Zeitpunkt noch den Informationen Stalins vertraute und sich für den georgischen Konflikt als solchen nicht interessierte, verwarf er doch das „Autonomisierungsprojekt“ und bestand im Rahmen der neuen Machtverhältnisse auf einer „Föderation gleichberechtigter Republiken“ mit einem gemeinsamen Exekutivkomitee. Lenin verfolgte die Angelegenheit von seinem Landhaus in Gorki von nun an mit größter Aufmerksamkeit und empfing Ende September nicht nur Ordschonikidse, sondern auch Okudshawa, Dumbadse und Minadse. Stalin zeigte sich allerdings von Lenins Kritik nur geringfügig irritiert, warf ihm nun seinerseits „nationalen Liberalismus“ vor und beschuldigte ihn zugleich des „Zentralismus“. Lenin wurde zunehmend zum Opfer seiner eigenen Ideologie. Der Internationalismus konnte im Rahmen des bolschewistischen Staates nur zentralistisch durchgesetzt werden. Die Georgier erhielten daher selbst von Bucharin und Lenin nur geringe Unterstützung. Der großrussische Chauvinismus ließ sich nur kritisieren, wenn zugleich die Unabhängigkeitsbestrebungen der anderen Völker als kleinbürgerliche Nationalismen gebrandmarkt wurden. Stalin nutze dieses Dilemma geschickt zur Stärkung seiner Position. Ordschonikidse befahl dem georgischen Zentralkomitee sogar, das Land zu verlassen und sich in Moskau zur Verfügung zu halten. Daraufhin nahmen die Georgier Zuflucht zu einer bis dahin beispiellosen Geste und reichten ihren kollektiven Rücktritt ein. Ordschonikidse ernannte sofort ein neues Zentralkomitee aus jungen und willfährigen, aber unfähigen Leuten. Entscheidend war jedoch, dass durch die spektakuläre georgische Initiative innerhalb des sowjetischen Herrschaftssystems ein latenter Konflikt manifest wurde. Seine Freilegung bedrohte die gesamte fragile Struktur der Modernisierungsdiktatur mit ihrem antikolonialen Anspruch und lenkte Lenins Aufmerksamkeit daher erneut auf die Kaukasusrepublik.

Zudem verlor Ordschonikidse in der Auseinandersetzung mit seinen Landsleuten die Nerven und wurde handgreiflich. Er schlug in der Gegenwart Alexei Rykows, des Stellvertreters Lenins, ein Parteimitglied, einen Anhänger Mdiwanis, ins Gesicht. Es ging dabei nicht mehr nur um einen Konflikt zwischen Zielen und Methoden. Lenin wurde noch kurz vor seinem Tod innerhalb seiner eigenen Partei mit dem Wesen der neuen Macht konfrontiert, die er selbst ins Leben gerufen hatte. Seine vehemente Kritik der bürgerlichen Demokratie, die er untrennbar mit dem Kapitalismus verwoben sah, seine fraglose Anwendung dikatorisch-terroristischer Mittel, führten keine neue „proletarische Demokratie“ und auch keine neue wirkliche Föderation herbei, die den zaristischen „Völkerkerker“ nachhaltig öffnete. Ordschonikidse und Stalin waren von Lenin als tatkräftige Vertreter seiner Politik jahrelang protegiert worden. Sie eroberten für ihn den Kaukasus. Im Gegensatz zu den Idealisten wie Lunatscharski und Bucharin waren sie die eigentlichen Protagonisten des Bolschewismus. Ihre Rohheit und administrative Bedenkenlosigkeit waren ein Produkt der Gewalt und des Terrors, derer sich Lenin zuvor selbst bedient hatte. Was sich als innerparteilicher Konflikt noch recht harmlos darstellte kostete zwischen 1921 und 1924 allein nur in Georgien 30.000 Menschen das Leben. Allein nach dem August-Aufstand 1924 wurden 7000 Menschen erschossen, mehrere zehntausend Menschen nach Sibirien und Zentralasien deportiert. Dabei handelte es sich nur um einen Vorgeschmack des Terrors, der zunächst vor allem die alten Eliten und die Anhänger des georgischen Sozialdemokratie betraf. Unter Stalin selbst wurden dann nahezu 50.000 Georgier, darunter große Teile auch der neuen intellektuellen Elite, systematisch vernichtet. Lenins „Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens“ war schon recht bald endgültig ihrer antikolonialen und antiimperialistischen Legitimationen entkleidet. Sein Werk, das er noch in seinen letzten Lebensmonaten gegen den Mann, den er selbst an die Macht gebracht hatte und gegen große Teile seiner eigenen Partei verteidigen musste, blieb ein nicht zu vollendender Torso. So wie bereits unter Lenin die Rätedemokratie zur Farce wurde, so beginnt die neue Macht Ende der 1930er Jahre mit der Rehabilitierung der imperialen Vergangenheit auch den Internationalismus zu Grabe zu tragen. Iwan der Schreckliche wird unter Stalin als „Vereiniger der russischen Länder“ gefeiert. Die Rolle der orthodoxen Kirche und des Mönchtums als Träger der byzantinischen Zivilisation wird neu bewertet. Die Rehabilitierung der russischen Geschichte unter Ausschluss demokratischer Bestrebungen führte auch zur Relativierung der zaristischen Kolonialpolitik. War es ihr nicht zu verdanken, dass die unterworfenen Völker die Etappe des Kapitalismus überspringen konnten, um zugleich mit den Russen an den Segnungen der revolutionären Ära teilzunehmen?



Eurasien und der Übergang zur Globalgeschichte

Der schwierige „Weg vom Gottesreich zum Nationalstaat“, den der aus Syrien stammende Politikwissenschaftler Bassam Tibi am Beispiel des arabischen Orients beschrieb, konnte auch im Raum des russischen Imperiums nicht bis zu Ende gegangen werden. Daran wurden die Völker in diesem Raum – neben ihrer Lage innerhalb der kapitalistischen Weltwirtschaft und der internationalen politischen Ordnung – vor allem durch die nicht genügend vollzogene Verbindung von nationaler und demokratischer Idee bzw. durch die soziokulturelle Kraftlosigkeit der Klassen und Gruppierungen, die eine solche Synthese hätten verwirklichen können, gehindert. Ähnlich wie in Afrika und im Vorderen Orient, wurde auch in Russland die Schwäche der demokratischen Nationalbewegung durch eine Pan-Ideologie kompensiert, die oftmals realistisch perzipierte kulturräumliche Momente mit einer unproduktiven und künstlichen Überhöhung der eigenen Rückständigkeit verknüpfte. Kulturelle Deformationen, die der semiperipheren Abhängigkeit und dem einheimischen Despotismus entspringen, werden zur kulturellen Identität uminterpretiert. Zugleich gelang es diesen Bewegungen nicht, das durchaus reale Problem zu lösen, die vitale Tiefendimension, den „ethisch-mythischen Kern einer Kultur“ (Paul Ricœur) mit der modernen Weltzivilisation zu verbinden. Die Formierung lebensfähiger regionaler Geschichtskörper blieb fragmentarisch und unterlag der despotischen Gewaltsamkeit. Das Scheitern des klassischen Panslawismus, der mit dem Zerfall der Tschechoslowakei und Jugoslawiens Ende des 20. Jahrhunderts endgültig manifest wurde, berührte allerdings die russische Suche nach einer neuen nationalkulturellen Identität nicht. Die russischen Slawophilen hatten an dieser zunächst eher westslawischen Bewegung kaum Anteil, da das zaristische Russland in vielen osteuropäischen Ländern als Besatzungsmacht auftrat und mit den Habsburger Reich verbündet war. Erst die große geopolitische Auseinandersetzung zwischen dem britischen Weltreich und dem russischen Imperium, der Orient- oder Krimkrieg (1853-1856), verstärkten den Einfluss des Panslawismus auf die russische Politik. Der innere Zerfall des Osmanischen Reiches weckte die Begehrlichkeiten der großen Mächte in Ost und West. In der damals wie heute aufgeworfenen „Orientalischen Frage“ ging es um die Verbindungswege nach Ostasien und um die Vorherrschaft in Zentralasien. Der Keim und zugleich das Kernstück der politischen Ideologie der Eurasier liegt in einer eigentümlich doppelseitigen Verbindung von britischer Geopolitik und russischem Panslawismus. Im Kampf um die große „Weltinsel“ (Halford Mackinder) wird, genährt mit dem Blut der Völker des Vorderen Orients, Afghanistans und Transkaukasiens, ein neuer Mensch geboren.

Einen Namen erhält er aber erst in dem Jahr, in dem die Rote Armee in Tbilissi einmarschierte und die georgische Regierung ihren Weg nach Frankreich antrat. 1921 wird in Sofia der Sammelband „Ischod k Vostoku“ („Der Auszug nach Osten“) herausgegeben, dessen Vorwort mit folgenden Worten endet: „Die russischen Menschen und die Menschen der `Russländischen Welt´ sind weder Europäer noch Asiaten. Da wir mit den verwandten und uns umgebenden Kultur- und Lebenselementen verschmolzen sind, schämen wir uns nicht, uns Eurasier zu nennen.“ Die Herausgeber sind durchaus ernstzunehmende Fachwissenschaftler: Der Geograph Petr Savickij, der Musikologe Petr Suwtschinski, der Slawist und Sprachwissenschaftler Nikolai Trubetzkoi und der Theologe Georgi Florowski. Sie schreiben die erste Anthropologie des neuen eurasischen Menschen. Den Feinverästelungen dieser Welt- und Menschensicht soll hier nicht nachgegangen werden, zumal sie uns hier nur in ihrem Bezug auf die symbolische Topographie Georgiens interessiert. Die Originalität dieser Bewegung liegt nicht so sehr in ihrer „Historiosophie“, die in der Regel auf ältere russische Geschichtsphilosophien, wie die des 1885 in Tbilissi verstorbenen Naturwissenschaftlers Nikolai Danilewski und die des Schriftstellers und Religionsphilosophen Konstantin Leontjew (1831-1891) zurückgriff. Zusammen mit der Kulturmorphologie Oswald Spenglers bilden deren Werke die wesentlichen Inspirationsquellen der eurasischen Geschichtsinterpretationen. Weitaus interessanter sind ihre Gedanken zur Raumtheorie, die den geographischen „mestoraswitije“-Begriff (in etwa: Kulturlandschaft) mit Ideen der strukturalistischen Sprachwissenschaft und Ergebnissen der ethnologischen und historischen Forschung verbanden. Die Eurasier Nikolai Trubezkoi und Roman Jakobson waren immerhin führende Vertreter des Prager Strukturalismus. Es gelang ihnen allerdings nicht, eine wirkliche Hermeneutik der sehr komplexen und vielgliedrigen eurasischen Raumstruktur zu schaffen. Ansätze dazu wurden allzu schnell vom „geilen Drang aufs große Ganze” (Walter Benjamin) überwältigt. Metaphysische Überinterpretationen und naturalistische Reduktionen brachten die Eurasier, ähnlich wie schon Spengler, um die Resultate ihrer Anstrengungen. Die Fixierung auf die hergebrachten dichotomen Bilder von Europa und Russland, auf die essentialistische Unterscheidung von westlichem Atomismus und östlichen Organizismus lassen Feduns Diktum vom „vollkommen fiktiven“ Charakter der eurasischen Lehre plausibel erscheinen. Auch die messianische Erwartung einer neuen organischen Epoche, die den Kritizismus hinter sich lässt, bleibt eigentümlich abstrakt. Vieles scheint wie der schwache Widerschein des Bolschewismus, der im Exil mit einigen heimelig anmutenden Versatzstücken aus der Asservatenkammer des russischen Traditionalismus ausstaffiert wurde. Dies gilt umso mehr, als die Orientierung an Asien zu einem Zeitpunkt stattfand, in der auch das Japan der Meiji-Ära und China unter Sun Yat-sen bereits erhebliche Modernisierungsanstrengungen unternahmen. Während sich Wjatscheslaw Iwanow in Russland dem Erbe der griechischen Antike zuwandte und Ossip Mandelstam 1922 in „Menschenweizen“, noch unter dem Schutz Bucharins, die „Neubelebung des Europäertums“ beschwor, wurde im europäischen Exil der Weg in die formlosen Weiten Asiens beschritten. Alexander Blok, der 1918 in seinem Poem “Die Skythen“ noch eine Ode auf den moralischen Sieg Russlands über den Westen anstimmte, starb bereits 1921 völlig entkräftet in seiner Wohnung in Petrograd an Unterernährung.

Die Eurasier verkennen den Sinn ihrer eigenen Entdeckung. Ihr Versuch, die Zeit in den eurasischen Raum zu bannen, hinderte sie an der Ausarbeitung einer angemessenen historischen Anthropologie. Sowenig wie der Mehrzahl der Marxisten gelingt es ihnen, die kulturräumliche Dimension der Geschichte in ihrer komplexen und zum Teil auch widersprüchlichen Einheit mit dem Zivilisationsprozess zu denken. Ein bestimmtes historisches „Verhältnis von Mensch und Erde“ (Alfred Weber) wird zu einer ubiquitären Ontologie verdinglicht bzw. hypostasiert. Die erste „Dauerperiode“ der Menschheitsgeschichte (4000 v. Chr. bis 1500/1600 n. Chr.), d.h. die innerlich und äußerlich zusammenhängende Geschichte, also die Universalgeschichte“, war tatsächlich „geographisch auf Eurasien“ (Ders.) beschränkt. Das eurasische System der Alten Welt (William H. McNeill, Imanuel Geiss) bildete lange Zeit die raumzeitliche Grundstruktur der Geschichte und ihrer Interpretationen, wurde aber spätestens ab 1600 n. Chr. durch eine „revolutionäre Übergangsperiode“ abgelöst, die ein „ganz neues Verhältnis von Mensch und Erde“ (Alfred Weber) herbeiführte. So wie vermutlich Afrika unsere Gattung hervorbrachte, die sich von dort auf unserem Planeten verbreitete, so schleuderte Zentralasien immer neue Völker aus seinem Inneren heraus. In immer neuen Wanderungsbewegungen überlagerten diese Viehzüchter und Hirtenvölker die Ackerbauvölker in der benachbarten Fruchtbarkeitszone. Aus diesen ethno-kulturellen Synthesen gingen die ersten Hockkulturgebiete der Erde hervor: Zum einen die in Indien, China und dann auch in Japan noch immer bestehenden Hochkulturen, deren Sozialstruktur und mentale Haltung zwar durch weitere Wanderungen befruchtet, aber ansonsten über weite Zeiträume weitestgehend unverändert blieben, zum anderen im Westen, wo durch die Wanderungseinbrüche immer neue Hochkulturen mit unterschiedlichen geographischen Zentren entstanden, d.h. die „Primärkulturen“ in Babylonien, Ägypten, Kreta, Hatti, ab 1200 v. Chr. dann als Sekundärkulturen erster Stufe die persische, jüdische, griechische, römische und ab 600 bis 800 n. Chr. , der Islam, Russland und das Abendland als Sekundärkulturen zweiter Stufe. Dieser eurasische Gesamtkomplex war in seiner mentalen Struktur bis 1200 v. Chr. durch eine chtonisch-magische Haltung geprägt, die darauf folgend durch das Nebeneinander von mythischer und intellektueller Daseinserfassung abgelöst wird. Mit der primären „Achsenzeit“ (Karl Jaspers) werden zwischen 800 und 200 v. Chr. in China, Indien, dem Iran, in Israel und in Griechenland die aber bereits die bis heute wirkenden geistigen Grundkategorien der historischen Menschheit geschaffen. Eurasien begann, sich selbst zu transzendieren. Daoismus und Konfuzianismus, Jainismus und Buddhismus, Zoroastrismus, der prophetische Messianismus und die antike Philosophie brachten ein neues Selbstbewusstsein des Menschen hervor, der sich aus mythischen und naturhaften Bindungen befreite. Mit dem Manichäismus, dem Späthellenismus und vor allem durch das Christentum trat dann endgültig „die universellste Verbundenheit, die allgemeinmenschliche Sympathiekohärenz“ (Weber 1946, 228) ins Bewusstsein. Die Renaissance und das 18. Jahrhundert bringen diesen Prozess schließlich auf den Begriff des Humanismus. Der Zivilisationsprozess befreit sich aus seiner kulturräumlichen Einbettung und schafft zugleich eine Vielzahl neuer Räume. Auch in dieser Hinsicht ist Georgien, an der Schnittstelle unterschiedlicher geistiger Trajektorien gelegen, nicht in die ost-westlichen Raumordnungsphantasmen zu bannen. Von dem aus der westeuropäischen Renaissance und Aufklärung hervorgegangenen Humanismus unterscheidet sich der aus der „georgischen Renaissance“ hervorgegangene Anthropozentrismus dadurch, dass er Mensch und Kosmos als miteinander verbunden betrachtet. Geist und Natur waren im georgischen Neuplatonismus, wie er in der Akademie von Gelati seit dem 12. Jahrhundert gepflegt wurde, keine unvereinbaren Gegensätze. Die Theologie und die Erkenntnis vom Menschen sind so beispielsweise im Denken Ioane Petrizis eine Einheit. Die Polarisierung von Theozentrik und Anthropozentrik, von „Ursprungsbild und Schöpfertat“ (Michael Landmann), die das westeuropäische Denken bestimmt, prägten das geistige Leben Georgiens nicht in gleichem Maße. Die georgische Anthropologie ist nicht hoministisch, sondern kosmistisch. In Schota Rustawelis „Der Mann im Pantherfell“ fand dieser kosmische Humanismus seinen vollendetsten poetischen Ausdruck.

Für Trubetzkoi, den wichtigsten Theoretiker der eurasischen Bewegung, ist die „Menschheit“ keine angemessene Kategorie der historischen Analyse. Darin stimmt er mit Oswald Spengler überein. Die sogenannte „allgemein-menschliche Zivilisation“ ist für ihn lediglich ein ideologisches Konstrukt Europas, das seit seiner Weltexpansion die Universalisierung seines eigenen Partikularismus betreibt. Er sieht Russland an der Spitze einer antikolonialen Allianz, die sich gegen die Vorherrschaft Europas wendet. Unabhängig von der durchaus richtigen Einsicht, dass sich zumindest bislang keine Weltkultur herausgebildet hat, vielmehr eine Pluralität der Kulturen die bisherige(n) Weltgeschichte(n) bestimmte(n), verkennen Trubetzkoi u.a. das Neue der seit dem 15./16. Jahrhundert anbrechenden Geschichtsperiode der „Erdzusammenschrumpfung“ (Alfred Weber). Der moderne Zivilisationsprozess ist keineswegs mit der Expansion Europas identisch. Die modernen Naturwissenschaften lassen sich aus kulturellen Kontexten lösen und als moderne Technologie global verwenden. Sie sind zwar auch soziokulturell determiniert, aber ebenso durch einen Gegenstandsbezug, der sich darin manifestiert, dass die Naturgesetze im Kaukasus, in China und in Europa gleichermaßen gelten. Zudem unterliegen sie einer intrinsischen, d.h. epistemischen Determination. Es ist, wie der französische Philosoph Paul Ricœur betont, nicht allein die Technik, die der menschlichen Zivilisation den Charakter der Universalität verleiht. Es ist in erster Linie der „wissenschaftliche Geist“, der diese Einheit hervorbringt. Er sorgt dafür, „dass jeder Mensch, vor eine geometrische oder experimentelle Aufgabe gestellt, in der Lage ist, die gleiche Schlussfolgerung zu ziehen, vorausgesetzt natürlich, er besitzt die erforderlichen Kenntnisse“ (Paul Ricœur). Im Übergang vom traditionellen Werkzeuggebrauch zur Technologie, d.h. der Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnis auf die Technik, liegt der zweite Ursprung der Universalität. Schafft der wissenschaftliche Geist eine nominelle Einheit der Menschheit, so vollendet die Technologie bzw. die Maschine sie faktisch (Ders.). Auch wenn bestimmte technische Erfindungen innerhalb bestimmter Kulturen erfolgen, so durchbrechen die technischen Revolutionen schließlich doch die Gehäuse der Kulturen und schaffen einen universellen Zivilisationskosmos mit all seinen Möglichkeiten und Abgründen. Es ist insbesondere die moderne Kommunikationstechnologie, die diesen Prozess vollendet. Im Verlauf dieses Prozesses wird der Mensch mit seinen Schöpfungen als erdgeschichtlicher Wirkfaktor sichtbar. Wir erleben verstärkt die „Austrocknungstendenz“ (Alfred Weber), die „Klimaerwärmung“ und zugleich die Geburt des ökologischen Bewusstseins. In dieser Hinsicht sind die Einsichten der russischen Kosmisten, wie sie beispielsweise im grandiosen wissenschaftlichen Lebenswerk Wladimir Wernadskis zum Ausdruck kommen, bei weitem bedeutungsvoller als so manche höchst einseitige Erkenntnis der Eurasier.

Mit dem Bewusstwerden des Zivilisationsprozesses ist die Pluralität der Kulturen nicht aufgehoben. Sie wird vielmehr überhaupt erst wahrgenommen. Die neue Globalgeschichte (Bruce Mazlish), die aus dem Zeitalter des Imperialismus hervorgeht und deren Vorschein wir eben erst erleben, überwindet die klassische Weltgeschichtsschreibung der Kulturen (Arnold Toynbee etc.) und schafft die Voraussetzungen für die Aufhebung des Partikularismus. Die eurasische Periode kannte keine echte Pluralität und auch die revolutionäre Epoche der „Weltaufschließung“ (Alfred Weber) mündet zunächst in das moderne Weltsystem der expansiven Machtstaaten. Erst heute stehen wir, wie Paul Ricœur schreibt, „ in der Abenddämmerung des Dogmatismus, an der Schwelle zum wahren Dialog“. Unsere Geschichtsphilosophien waren und sind in die Kulturen eingeschlossen, aus denen sich die moderne Technologie längst befreit hat. Bislang „haben wir keine Möglichkeit, die Koexistenz dieser vielfältigen Stile zu denken; wir verfügen über keine Geschichtsphilosophie, um das Problem der Koexistenz zu lösen.“ Wir sehen das Problem, sind aber außerstande die Totalität vorwegzunehmen. „Sie wird die Frucht der menschlichen Geschichte sein, die Frucht der Geschichte der Menschen, die diese schlimme Auseinandersetzung zu führen haben.“ (Paul Ricœur). In unserer Übergangsepoche, die vielleicht am besten durch den Vergleich mit dem 16. und 17. Jahrhundert charakterisiert werden kann, bilden sich neue planetare Ordnungsstrukturen heraus. Das darauf folgende 18. Jahrhundert kann als geistige Vorwegnahme der Globalgeschichte verstanden werden. Das von Wilhelm von Oranien implementierte politische Gleichgewichtssystem, das zweifellos nur ein Notbehelf war, aber immerhin eine gewisse Regulierung der rohen machtpolitischen Bestrebungen mit sich brachte, ermöglichte zugleich ein neues Daseinsgefühl, wie es sich der Architektur und Musik des Barock ausdrückte. Auch in den Werken des georgischen Fürsten, Mönchs, Diplomaten und Schriftsteller Sulchan-Saba Orbelianis, in seinem Lexikon zur georgischen Sprache, in seinen Reiseberichten und in seinem großartigen Fabelbuch, spüren wir die Atmosphäre dieser Epoche. Der deutsche Kultursoziologe Alfred Weber hat diese geistig-seelische Trajektorie des „Allharmonismus“, die weit über die oft damit verbundene „Vernunftapotheose“ hinausgeht, folgendermaßen beschrieben: „Sie bedeutet die Eröffnung des Raumes einer undogmatischen, alle Seelentiefe in sich einfangende und in sich wiedergebenden vollendeten Sprache, zu der die Menschheit, die ganze Menschheit – denn sie ist nach kurzer Aufschließungsperiode jedermann verständlich – immer wieder zurückkehren kann und wird, weil sie die Schleusen zu aller-allgemeinsten Untergründen öffnet und aus der Transzendenz getränktes Fühlen in Strömen sich ergießen lässt“ (Alfred Weber). Diese „unerschöpfliche Symbolik“, diese „universelle Menschheitssprache“ (Ders.), ließ in Umrissen bereits eine Erfahrung erahnen, die sich erst am Ende des 20. Jahrhundert konkretisierte. Der Zusammenhang von Mensch und Kosmos, von Natur und Geist wurden in bislang nie gekannter Tiefe und Weite thematisiert. 

So wie damals nach den Religions- und Bürgerkriegen, den Hegemonialkämpfen und mit dem beginnenden Kolonialismus ein neues europäisches Staatensystem entstand, so erleben wir gegenwärtig offenbar die Geburt eines Systems polyzentrischer Großräume und Regionen, das sich unter dem Druck ökologischer Gefährdungen in globalen Kommunikationsprozessen zu einer neuartigen Schicksalsgemeinschaft formiert. Dieser chaotisch erscheinende Prozess lässt sich nicht in den traditionellen geschichtsphilosophischen und politischen Kategorien fassen. „Es gilt vielmehr, die inneren Gesetze dieses Prozesses verstehen zu lernen, der offensichtlich nicht linear verläuft – wie es das gute alte Fortschrittsmodell insinuierte – sondern multiform diachron `dialektisch´ in einem morphogenetischen Spannungsfeld von höchster Komplexität“ (Nicolaus Sombart). Den neuen Integrationen entsprechen, entgegen den Träumen von Großraumimperien, mindestens ebenso viele neue Differenzierungen. Die Herausbildung der neuen Wirtschafts-, Sicherheits- und Rechtsräume, in denen vergleichsweise homogene wissenschaftlich-technische Standards erfüllt werden müssen, wird von Differenzierungsprozessen begleitet, die ihren Ausdruck im Begriff der „kulturellen Identität“ finden. „Entstanden ist er in der `Dritten Welt´, und stellte dem Universalismus der nördlichen Hemisphäre den Anspruch auf Eigenständigkeit von alten Kulturvölkern entgegen, die darauf bestanden, dass sie mehr als nur `Entwicklungsländer´ waren“ (Ders.). Unabhängig von den modischen Konnotationen, die dem Begriff im postmodernen Diskurs der metropolitanen Reflexionseliten mittlerweile zugeschrieben wurden, unabhängig auch von der Indienstnahme durch diverse ethno-religiöse Fundamentalismen, bleibt er ein Schlüssel zum Verständnis der neuen Weltordnung. „Das Pochen auf `kulturelle Identität´ ist ein Protest gegen die widerstandslose Unterwerfung unter die ideologischen Forderungen der Eingemeindung in die One World. Vom `Prozess´ her gesehen ein `Widerstand´, bezeichnet er doch die Nahtstelle der Entwicklung, an der die `Vielheit in der Einheit´ sich differenziert, ohne die die eine Welt zur Wüste würde“ (a.a.O.). Daraus leitet sich die Fragestellung ab, wie sich Herkunft und Zukunft zu den Lebensformen der globalen Ära verbinden. Diese Problemstellung der ehemaligen „dritten Welt“ bestimmt nach dem Ende des ideologischen Gegensatzes von Freiheit und Kommunismus unsere Epoche.




Zwei Möglichkeiten der Menschheit, durch die Zeit zu gehen“

Das Ende des Sowjetkommunismus hat die zu Beginn der Russischen Revolution bestehenden ost-westlichen Probleme nicht gelöst. Die Hauptrichtung der damaligen Revolution, die agrar-sozialistisch-demokratische „Narodnitschestwo“, die in der einzigen allgemeinen und freien Wahl nach dem Fall des Zarismus und vor dem Staatsstreich der Bolschewisten sechzig Prozent der Stimmen auf sich vereinte, war bereits eine Partei, deren Ideologie aufklärerische und romantisch-konservative Elemente zusammenführte. Ihr Einfluss auf die orientalischen Völker des russischen Reiches war enorm. Der Narodniki-Schriftsteller Gleb Uspenskij war für die von russischen Bauernsiedlern enteigneten baschkirischen Nomaden eingetreten, Alexander Herzen begrüßte den Unabhängigkeitskampf der Kasachen unter Bay Esset, der Ethnologe und Narodnik Dimitri Klemenc hatte die Freisprechung der während des japanisch-russischen Krieges rebellierenden altai-türkischen „Burchanisten“ erwirkt, nachdem sich bereits Wladimir Korolenko erfolgreich gegen die staatskirchlich betriebene Verfolgung der Udmurten aus dem Wjatka-Gebiet (europäischer Teil des Vorural) gewandt hatte. Wenngleich die Narodnikibewegung die georgische Bauernschaft nicht erreichte, war ihr Einfluss auf die Intellektuellen doch erheblich. So regte sie die Volkskunde und die Formung des georgischen Nationalbewusstseins an. Zu den Vertretern dieser Richtung gehörte Nikolai Nikoladze, ein Freund Alexander Herzens. Noch nach der bolschewistischen Machtergreifung stürzten 1918 die Turkmenen in Aschchabad zusammen mit den russischen Sozialrevolutionären (Partei der Narodniki) die dort bereits etablierte kommunistische Diktatur und waren imstande, eine demokratische Gegenregierung ein Jahr lang aufrechtzuerhalten. Auch die geistige Elite der Jakuten widersetzte sich unter dem Einfluss der bereits zur Zarenzeit nach Sibirien deportierten Narodniki der Oktoberrevolution. Das jakutische Nationalkomitee unterstütze die Regierung Alexander Kerenskis. Aber selbst in der „Narodnitschestwo“ war der Konflikt zwischen den Interessen einer großrussischen expansiven Bauernkolonisation, die sich hinter der Forderung nach Verteilung allen Landes unter alle Bauern verbarg, und den demokratisch-antikolonialen Tendenzen nicht zu übersehen. Derartige Ansprüche waren zwar auf dem Dritten Parteikongress der Sozialrevolutionäre stillschweigend beiseite gestellt worden, aber schon diese Vernachlässigung des Problems nutzte den Bolschewiki, insofern die Völker in den orientalischen Randgebieten Russlands aufgrund dieser Unklarheiten oftmals eine neutrale Position zwischen den „Weißen“ und den „Roten“ einnahmen. Hinzu kam, dass die „Weißgardisten“ sich auf die Kosaken stützten, die so viel Land der orientalischen Völker an sich gerissen hatten.

Bis heute – die gegenwärtigen Ereignisse im Vorderen Orient stellen es erneut unter Beweis – ist es nicht gelungen, im eurasischen Raum eine kohärente Verbindung von bäuerlicher Emanzipation, demokratischer Bewegung und nationaler bzw. regionaler Integration herzustellen. Die einzelnen Elemente fielen immer wieder auseinander und wurden zu autoritären Ideologien und diktatorischen Regimen zwangsvereinigt. Drei Jahre bevor in Sofia die intellektuelle Gründungsurkunde der eurasischen Bewegung veröffentlicht wurde, hatte Woodrow Wilson, der damalige Präsident der Vereinigten Staaten, das Selbstbestimmungsrecht der Völker gefordert und Tomáš Garrigue Masaryk, der im November zum Staatspräsidenten der Tschechoslowakei gewählt wurde, veröffentlichte seine Kampfschrift „Nová Evropa“, eine Apologie des „nationalen Prinzips“. Alfred Weber, der von 1904-1907 als Professor für Nationalökonomie in Prag gelehrt hatte und der mit ihm befreundete Masaryk waren sich damals einig in ihrem Bestreben, die Gleichberechtigung der Deutschen, Ungarn und Slawen innerhalb des österreichischen Verfassungssystems zu realisieren und in ihrer gemeinsamen Ablehnung des zaristischen Expansionismus. Masaryks Botschaft aus dem Jahre 1918 stand Weber als überzeugter „Mitteleuropäer“ jedoch ablehnend gegenüber. Er mochte dessen eigentümlicher Melange aus Wilsonismus und Panslawismus nichts abzugewinnen und hat ihm seine Abkehr vom „fragilen Kunstwerk“ des österreichischen Staates zeitlebens nie ganz verziehen. In dieser Zeit nimmt Weber im Rahmen der Auseinandersetzungen um die deutsche Kriegszielpolitik, in der er der „Mitteleuropa“-Konzeption Friedrich Naumanns nahe stand, Kontakte zur litauischen, zur finnischen, zur ukrainischen und zur georgischen Unabhängigkeitsbewegung auf. Er unterstützte die Gründung eines litauischen Staates, setzt sich für eine unabhängige finnische Monarchie und für die Ukrainische Volksrepublik (1917-1920) ein, kritisiert zugleich das Bündnis der Deutschen mit den osteuropäischen Großgrundbesitzern und engagiert sich für umfassende Agrarreformen. Anfang Juni 1919 trifft er Akaki Tschenkeli, den damaligen Außenminister Georgiens in Berlin. Nach dem Besuch des menschewistische Politikers unterstützt Weber die Anerkennung der georgischen Selbständigkeit. Sein Scheitern als Exponent bestimmter geistiger und politischer Strömungen Mitteleuropas und die Niederlage des unabhängigen Georgiens sind Teile eines zusammenhängenden Prozesses, der unsere Geschichte bis heute prägt. Partikel des Wilsonismus, des Leninismus/Trotzkismus, der Eurasischen Ideologie und der mackinderschen Geopolitik bestimmen auch heute in immer neuen Mischungen die globale Politik. Es sind genau diese Mesalliancen fragwürdiger und längst überständiger Machtpolitik, die nicht nur zum Untergang Mitteleuropas beitrugen und die Kaukasusregion unter das bolschewistische Joch zwangen, sondern die auch bis heute jede Lösung regionaler Konflikte und jede echte Entwicklung im eurasischen Raum unmöglich machen. Dieser unerlöste Raum rückt den Beginn der Globalgeschichte immer wieder in unabsehbare Ferne. Das Drama des syrischen Volkes belegt erneut den schwierigen „Abschied von der bisherigen Geschichte“ (Alfred Weber).

Dieser mühsame Abschied prägt auch die Agonie des georgischen Lebens. Die aus der Warteschleife der Geschichte überkommenen Probleme, die durch die russische Revolution nicht gelöst werden konnten, bestimmen immer noch die Gegenwart der kleinen Kaukasusrepublik. Ein Teil der intellektuellen Elite des Landes versucht, in immer neuen Fluchtbewegungen der Aktualität ihres Daseins zu entgehen. Wo gestern noch die georgischen Neokonservativen in den geostrategischen Planspielen des US-amerikanischen Unilateralismus den Platz ihres Landes zu finden versuchten, wird heute über eine Verortung im eurasischen Großraum spekuliert. Die sogenannte „Linke“ beerbt trotzkistische Phantasien einer permanenten Weltrevolution und gefällt sich in ihrer elitären Dekonstruktion vermeintlicher oder tatsächlicher georgischer Traditionen. Begriffe ohne Anschauung bestimmen die Debatten. Neuerdings souffliert offenbar der tote Spross des großen russischen Dichterpaares, Lew Gumiljow, aus seinem Grab die neuen Stichworte des politischen Diskurses. Das "silberne Zeitalter", das mit der akmeistischen „Sehnsucht nach Weltkultur“ (Ossip Mandelstam) endete, wird erneut verabschiedet. Wo Nikolai Gumiljow noch das Gilgameschepos, die Werke Heinrich Heines und Samuel Coleridge ins Russische übertrug und uns die Abessinischen Lieder schenkte, wo Anna Achmatowa die Wahrheit ihrer klaren und zutiefst humanen Poesie überlieferte, wird heute die obskure Ethnoideologie ihres Sohnes gepflegt. Die „kulturellen Protuberanzen“ (Alfred Weber), die kreativen „Explosionen“ (Jurij Lotman) der Noo- oder Semiospäre werden auf die biochemische „Passionarität“ des eurasischen Raums reduziert. Georgien, das als Inspirationsquelle der russischen Symbolisten und Akmeisten eine so große Rolle spielte, verschwindet so als geistiger Topos zwischen modernistischem Sphärenflug und völkischem Furchenglück. Der komplexe Zusammenhang von Zivilisationsprozess und kultureller Topographie, der die geistige Ökologie des Kaukasusraums bestimmt, wird auseinandergerissen und so entsteht eine zunehmend unfruchtbarere Landschaft. Die Flucht in fremde Großräume und die sie noch immer beherrschenden expansiven Machtstaaten, zerstören die feinen kulturellen Differenzierungen und die kunstvolle Polyphonie der Kaukasusregion. Im Kern ist diese Kulturzerstörung eine Zerstörung der Aisthesis. Der „physiognomische Takt“ (Oswald Spengler), der uns „das Phänomen als Bild und Gestalt in situ“ (Nicolaus Sombart) wahrnehmen lässt und der jeder topographischen Hermeneutik zugrunde liegt, prägt sich kaum noch aus. Die Flucht vor der Aktualität des Geistes, entstanden aus abgründiger Angst vor der Unfruchtbarkeit, vernichtet die Fähigkeit zur Gestaltwahrnehmung, die den Zusammenhang von schöpferischer Tat, Symbol und Raum erschließt. Der auch in Georgien gepflegte Rückgriff auf Carl Schmitt hat daher nicht die geringste Ahnung von der sowohl praktisch-politisch als auch kultursoziologisch anspruchsvollen Aufgabe, den neuen „Nomos der Erde“, den globalgeschichtlichen Zusammenhang von „Ortung und Ordnung“ zu erfassen. Genau hier entsteht die Notwendigkeit, die zwei verschiedenen Möglichkeiten der Menschheit durch die Zeit zu gehen, in ihrem komplexen Zusammenhang zu erforschen:Die Zivilisation bringt einen gewissen Zeitsinn auf der Grundlage der Akkumulation und des Fortschritts hervor, während die Art und Weise, wie ein Volk seine Kultur entfaltet, auf dem Gesetz der schöpferischen Selbstloyalität besteht“ (Paul Ricœur).

Das von der Russischen Revolution nicht gelöste und in den eurasischen Phantasmen nur noch gesteigerte Problem der Formlosigkeit betrifft vor allem die widersprüchliche Verbindung von Raum, Gewalt und Zivilisationsprozess. Die Anfang der 1920er Jahre durch das Erscheinen von Nikolai Bucharins Buch „Ökonomik der Transformationsperiode“ ausgelöste Debatte über die „Unkosten der Revolution“, die den Zivilisationsbruch, die Zerstörung der gegenständlichen und persönlichen Produktivkräfte ansatzweise thematisierte und der Einführung der NÖP voranging, blieb noch sehr an der Oberfläche der zugrundeliegenden Phänomene. Ausgeblendet wurde nicht nur die Fragen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, sondern auch die Probleme der kulturräumlichen Organisation Eurasiens und der menschlichen Personalität. Bucharin hielt bis zu seinem Tod an der Idee einer Ost und West umgreifenden „ganzheitlichen sozialistischen Kultur“ fest. Seine Gefängnisschriften „Der Sozialismus und seine Kultur“ (1937), die der Autor bereits als Opfer der „asiatischen Restauration“ verfasste, demonstrieren diese utopische Perspektive. Darin ähnelte er Anatoli Lunatscharski, dem ersten Volkskommissar für das Bildungswesen, der dem Schicksal Bucharins vermutlich nur durch seinen Tod in Frankreich 1933 entging. Bucharin begründete kulturpolitisch immerhin die moderne Wissenschaftsforschung, die in den Werken von Wladimir Wernadski und Konstantin Megrelidze ihre ersten Höhepunkte erreichte. Beide gingen über den Rahmen der Wissenschaftsforschung im engeren Sinn hinaus und schufen die Grundlagen einer global- und entwicklungsgeschichtlichen Theorie des Denkens ("Noogenese"). Zusammen mit den Werken der Ökonomen Nikolai Kondratjew und Alexander Tschajanow, der Psychologen Lew Wygotskij und Dimitri Uznadze und den Forschungen des genialen Kulturtheoretikers Michail Bachtins sind ihre Erkenntnisse das wahre Vermächtnis der Revolution, die seit 1905 bis heute unser aller Dasein umwälzt. Bachtin hatte zusammen mit seinen Forschungen zur ästhetischen Tätigkeit und zur Dialogik bereits Ansätze zu einer Raumtheorie („Chronotopos“) geschaffen, die weit über dem Niveau der eurasischen Phantasmen eines Gumiljow lagen. Hier öffnet sich die Humanwissenschaft den Dimensionen der Bedeutung und der Freiheit. Die Aneignung und Aufhebung dieses Erbes beendet den Weltbürgerkrieg, nicht der falsche Thermidor eines neuen eurasischen Imperiums. Alexander Eichenwald, ein Wirtschaftswissenschaftler, hatte bei einer Gegenüberstellung in der Lubjanka Gelegenheit, mit seinem Lehrer Bucharin über dessen letzte Zielsetzungen zu sprechen. Er war verwundert darüber, wovon sein Lehrer ihn mit Eifer zu überzeugen versuchte. Die neue wissenschaftliche Aufgabe bestünde darin, alle Ideologie, Ökonomie und Politik zu vergessen. Es komme darauf an, den Sinn und den Wert des menschlichen Lebens zu ergründen. Eichenwald konnte die rätselhafte Botschaft nicht recht deuten. Bucharin hat sein Buch über die „menschliche Natur“ nicht mehr schreiben können, sowenig wie wir wissen, was Konstantin Megrelidze uns in seinem zweiten Buch über die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins mitteilen wollte. Bucharin wurde im März 1938 erschossen. Megrelidze starb im September 1944 im Lager Kaiski, nördlich von Kirow. 1953 vollendete der bereits fünfundachtzigjährige Alfred Weber in Heidelberg sein letztes Werk mit dem Titel „Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins“. Iwan Jessenin, von 1945 bis 1949 als Kulturoffizier in Deutschland für die Hochschulen, Universitäten und Volksbildung zuständig, fühlte sich noch dreißig Jahre später von dem Buch besonders angesprochen und charakterisierte Weber als unverwechselbaren Denker und letzten universalhistorisch arbeitenden deutschen Soziologen. 
 


Die Schlussfolgerungen aus den vorliegenden topographisch-hermeneutischen Studien zur eurasischen Problematik werden durch Zurab Papaskiri und Bejan Khoravas Forschungen zur russischen Kolonialpolitik im Kaukasusraum zusätzlich belegt:

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