Samstag, 2. August 2014

Warschauer Aufstand 1. August 1944

Über den Warschauer Aufstand ist in Polen und Deutschland viel geforscht, viel geschrieben und viel gestritten worden. Die Journalistin Constanze von Bullion, Jahrgang 1964, ein Jahr jünger als ich, hat nun aus gegebenem Anlass für die Süddeutsche Zeitung die Ausstellung über den Warschauer Aufstand in der Berliner Gedenkstätte „Die Topographie des Terrors“ besucht und findet immer noch viele Fragen unbeantwortet, vor allem eine: „Hatte dieser Aufstand überhaupt Sinn? Die Antwort liegt für sie auf der Hand:Junge Leute, von nationaler Euphorie angesteckt, wurden da in eine aussichtslose Schlacht geschickt. Und hinterher? Hat man ihnen die Wangen auf den Gedenkfotos koloriert.“

Über das realhistorisch Aussichtslose dieses Aufstands lässt sich wahrlich diskutieren und es liegt mir fern, heute einem Mitglied meiner Generation Thomas Carlyles hinreißende, aber extreme Geschichtsauffassung in „Über Helden und Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte“ (1841) anzuempfehlen. Carlyle war immerhin Realist genug, um zu wissen, dass „Demokratie die Verzweiflung darüber ist, dass es keine Helden gibt, die sich regieren; und Befriedigtsein darüber, dass man sich mit ihren Fehlern abfinden muss.“ Ihm war allerdings, im Gegensatz zu Frau von Bullion, auch bewusst, dass„Liebe stets der Anfang von Wissen ist, so wie Feuer der Anfang des Lichts ist.“ Selbst wenn wir Carlyle heute nicht mehr ganz folgen mögen, bleibt die Frage, ob sich Geschichte und Mensch so einfach verrechnen lassen, wie es uns der liberale Zeitgeist nahegelegen möchte. Die Demission des Heroischen und die Verabschiedung nationaler Illusionen ist das eine, das allzu selbstgefällige „Befriedigtsein“ darüber etwas anderes. Vielleicht hat Frau von Boullion etwas sehr Entscheidendes vergessen, ein Moment von Spontaneität, von Freiheitswollen, dass jenseits aller mystifizierenden Reden von der "Opfernation" im polnischen Volk lebt, etwas, was wir nicht heroisieren müssen, um es zu lieben, etwas, was Euripides bereits in den „Troerinnen“ zu würdigen wusste und was somit am Anfang der europäischen Kultur stand.

Jedermann soll sich hüten, aus der Sicht solcher Momente eine evolutive tragische Geschichtsphilosophie oder Soziologie zu entwickeln. Wir kennen unsere eigenen spontanen Kräfte kaum, die imstande sind, extrem fesselnde und verstrickende äußere Bedingungen, wenn die Stunde es erfordert, zu brechen. Sollten wir das besser wissen für die Menschheit im ganzen? Sicher nicht. - Was die Geschichte bringt, ist unendlich viel Tragik. Was sie aber auch bei allen evolutiven Zwangsabläufen zulässt, ja immer wieder aufruft und bisher nie vergeblich aufgerufen hat, ist, spontan wieder Herr des Schicksals zu werden. Es ist kleinmütig, sich irgendeinem anderen Geschichtsbild anzuvertrauen.“ Alfred Weber, Das Tragische und die Geschichte, Hamburg 1943

Solange dieses Moment in der deutschen Nation keinen verstehenden Widerhall findet, solange wir unsere eigenen Desillusionierungen zur Weltanschauung erheben, haben wir den Teil unserer Vergangenheit, der die Trümmerwüste und die Toten von Warschau verursacht hat, nicht wirklich überwunden. Der französische Anthropologe Louis Dumont mag recht gehabt haben, als er die Deutschen wohlwollend durch „Hingabe und Bildung“ charakterisierte, einen ausgeprägten Sinn für das tragische Moment der Freiheit haben wir trotz Schiller nie entwickelt – die Polen dagegen schon. Was ist „Hingabe“, was ist „Kultur“ ohne „Freiheit“? Vielleicht ist sie es, die den Polen auch ganz ohne nachträgliche Kolorierung ein lebendiges und menschliches Gesicht gibt. Kann es sein, dass wir bei unseren Fragen über Bedingungen und Folgen dieses spontane Moment vergessen? Ist es vielleicht gerade dieses Unverständnis, das die Deutschen bis heute in Europa so unsympathisch macht? Vielleicht war und ist gerade das Unzeitgemäße des Auftstands ein Indiz für die existentielle Menschlichkeit, die sich in ihm manifestierte. Diese Fragen stellen sich nicht in einem globalen Raum bezugsloser multipler Identitäten, sondern nur im Raum der Nation, verstanden nicht als Ethnos, sondern als Ethos, d.h. als Form der Freiheit.

Frau von Bullions kritizistische Nivellierung der Sinnfrage trägt allerdings nicht zum besseren Verständnis dieses tragischen Aufstands bei, auch dann nicht, wenn sie von dem polnischen Historiker Piotr Zychowicz u.a. in ihrer Beurteilung Rückendeckung erhält. Diese neue deutsch-polnische Mesalliance der Anti-Nationalisten ist für uns Deutsche moralisch bequem und zugleich fatal. In diesem Bedeutungskosmos ist der Aufstand in der Tat am Ende so sinnlos wie das Attentat auf Hitler vom 20. Juli, 11 Tage zuvor. Nach Vytautas Kavolis, dem liberalen litauischen Kulturwissenschaftler und zeitlebens ambitionierten Vertreter eines Polylogs der Kulturen, "zieht" diese Sichtweise "die unverantwortliche praktische Folgerung nach sich, dass alle Nationalismen gleich behandelt werden - entweder (wie bei den meisten Sozialwissenschaftlern) mit einer gewissen Feindseligkeit oder aber mit dem Blick auf ihren baldigen Niedergang". Das gilt leider auch für unsere Journalisten. Ich fände es bedauerlich, wenn wir, die wir ja mittlerweile auch in der Verantwortung für eine nachfolgende Generation stehen, nichts anderes zu vermitteln wüssten. Es ist, neben dem mangelnden Sinn für das Tragische in der Geschichte, vor allem die Ortlosigkeit des Fragens, die meinen Dissens mit Frau von Bullion und vielen Mitgliedern meiner Generation verursacht, einer Generation, die mittlerweile die deutsche Superiorität in Europa für zweifellos gegeben hält und sich zugleich hinsichtlich ihrer Verantwortung in ein vermeintlich übernationales Weltbürgertum verabschiedet hat.




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