Samstag, 3. April 2010

Interview mit Dr. phil. Frank Tremmel, geführt von Marika Lapauri-Burk

I. Teil: Kulturanthropologie und Georgien


- Mir ist dein Interesse und Engagement für Georgien bekannt. Ich denke, insofern ist ein Gespräch mit Dir sicherlich interessant für die georgischen Leser und ich danke für das Gespräch heute.

Marika, zunächst habe ich meinerseits Ursache, mich zu bedanken, da mir die Gelegenheit geboten wird, über eine Kultur zu sprechen, von der ich glaube, dass sie trotz der in vielerlei Hinsicht schweren Herausforderungen, vor denen sie steht, nicht nur für die vergangene, sondern vor allem auch für die zukünftige geistige Entwicklung der Menschheit von großer Bedeutung ist. Das mag pathetisch klingen, aber die Menschheit wird nicht nur durch den Logos, sondern auch durch unsere Leidenschaften gebildet. Georgien ist in verschiedener Hinsicht ein Land, das uns die pathische Dimension unseres Menschseins vergegenwärtigt. Giordano Bruno hatte die metaphysische Bedeutung der Leidenschaft vor allem in der Wirklichkeit der Dichtung aufgewiesen. Das Georgien Nikolos Barataschwilis und Wascha-Pschawelas ist vielleicht mehr noch als Italien das Land der „Heroischen Leidenschaften und des individuellen Lebens“ , Ossip Mandelstam schreibt in „Ein paar Worte über die georgische Kunst“ von der „heroischen Zärtlichkeit“. Damit will ich hier nicht in komfortabler Lage ein idealisierendes Hohelied auf die Leiden der Georgier singen. Das käme mir frivol vor. Aber vielleicht können wir im Verlauf unseres Gesprächs auf den Zusammenhang von Gefühl und Kultur noch einmal zurückkommen.

- Dein Arbeitsbereich ist die historische Anthropologie, wir möchten heute gerne einiges von Dir hören, was Dich beschäftigt.

Im Grunde habe ich diese Frage schon ansatzweise beantwortet. Mich interessiert, wie aus Stimmungen historische Lebensstile werden, wie unsere Gefühle Form annehmen. Das sind zentrale Fragestellungen der historischen Kulturanthropologie, die mein Forschungsgebiet ist. Mir geht es nicht in erster Linie um das Licht des Logos, nicht um die reine Idee, sondern um den „Erdenrest zu tragen peinlich“ , wie Goethe das einmal beschrieben hat. Also, mich interessieren die historischen Erfahrungen, die wir endlichen Wesen machen, wenn unser Geist ins Übersinnliche vorzustoßen versucht. Ich möchte die Konkretion der Idee nachvollziehen. Um in der Lichtmetaphorik zu verbleiben, suche ich nach den historischen Prismen, in denen sich das Licht des Logos bricht und so das Spektrum seiner kulturellen Farben entfaltet. „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben“ , so hat es wiederum Goethe Faust in den Mund gelegt. Grigol Robakidse, der Goethe überaus schätzte, hat darauf hingewiesen, dass die Sonne in Georgien als Inbegriff des Lebens schlechthin gilt. Jede wesenhafte Erscheinung wurzelt im Licht der Sonne, aber „Alles“ („qwelapheri“) heißt „alle Farben“. Auch wenn bei den Georgiern das Auge nicht nur, wie bei Plotin, sonnenhaft ist, sondern die Sonne selbst ist, so pflegt doch der georgische Winzer zu sagen: "Das Auge ist in die Traube eingegangen" . So gesehen, Marika, interessieren mich vor allem die Farben und die Trauben. In der Sprache der modernen Kulturwissenschaft sind das sozusagen die Medien, die Kultur überhaupt erst ermöglichen. Es ist also nicht das unmittelbare Gefühl, sondern vor allem das Medium, das Kultur hervorbringt. Erich Rothacker, der deutsche Kulturanthropologe, über den ich promoviert habe, hat es einmal folgendermaßen ausgedrückt: „Nicht das Gefühl und der visionäre Traum, dessen Verwirklichung am Medium der künstlerischen Ausdrucksmittel scheitert, konstituiert ein Kunstwerk, sondern die ästhetische Vision, welche bereits im Medium der sinnlichen Ausdrucksmittel erfolgte, kennzeichnet den wahren Künstler.“ Das Geistige begegnet uns hier, um es in Anlehnung an Tamas Buatschidze zu sagen, nicht in Gestalt eines extramundanen idealen Seins im Sinne der platonischen Ontologie, aber auch nicht in den utilitaristischen Bedürfnissen. Das Medium ist vielmehr eine Form der Objektivität, die das „Vergessen des eigenen Selbst“ und die Betrachtung des Gegenstandes in seiner „Objektivität“ beinhaltet. Das wird durch kognitive, ästhetische und ethische Taten realisiert.

- Deine Kenntnisse über Georgien, Du warst auch nur einmal und sehr kurz in Georgien, sowie die Geschichte und Kultur, aber auch über die aktuellen Ereignisse, erstaunen mich immer wieder. Worüber wir sprechen wollen. Aber zuerst, was hat Dein Interesse zu Georgien erweckt?

Mich hat der gesamte osteuropäische Raum schon früh interessiert. Das lebte als stille Sehnsucht immer in mir. In gewisser Weise war meine Generation von den östlichen Wurzeln der deutschen Kultur abgeschnitten. Die westdeutsche Kultur war immer erstaunlich provinziell. Das wurde durch den nordamerikanischen Einfluss im Grunde sogar verstärkt. Von einem Mitteleuropa, das einmal im engen kulturellen Austausch mit Osteuropa stand, erfuhren wir vielleicht ansatzweise etwas im Deutschunterricht im Gymnasium, wenn es um Kafkas Prag ging. Unsere kulturgeschichtlichen Verbindungen mit dem Baltikum, der Bukowina, mit Galizien, mit Russland und Georgien waren uns völlig unbekannt. Das war terra incognita. Mein Interesse entstand in den Achtzigerjahren, während meines Studiums. Ich las begeistert Georg Lukács und wollte mehr über Ungarn erfahren, später kam mein Interesse für die Denker des „Prager Frühlings“ hinzu, aber auch für die Polen, so z.B. Leszek Kolakowski u.a. Dann, mit der Perestroika, trat auch die russische Kultur verstärkt in unser Bewusstsein. Das hatte mich allerdings schon vorher beschäftigt. Alfred Weber war in dieser Hinsicht mein geheimer Mentor. Der „Geist von Heidelberg“ hatte doch schon in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg viele Osteuropäer angezogen, Alfred Weber seinerseits hatte selbst in Prag gelehrt. Franz Kafka und Max Brod waren seine Schüler. So gab es beispielsweise zu der Zeitschrift „Logos“, die 1910 als „internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur“ gegründet wurde, Parallelgründungen in Russland und Litauen. Das drang allerdings erst nach und nach in mein Bewusstsein. Inspiriert war ich vor allem von einer halbmythischen, romantischen Mitteleuropaidee, die allerdings auch viele Intellektuelle in Prag, Budapest und Warschau in den Achtzigern beschäftigte. Georgien war zunächst nur ein Namen, der für mich eine eigentümliche Aura hatte, aber noch ganz unbestimmt. Dass das Land nach 1918 bereits eng mit unserer Geschichte verknüpft war, die erste sozialdemokratische Republik immerhin mit deutscher Hilfe zustande kam, viele georgische Intellektuelle in Deutschland studiert hatten, dass wurde mir erst in den Neunzigerjahren bekannt. Davor hatte ich lediglich gehört, dass die Georgier auf philosophischem Gebiet, insbesondere in den Bereichen Anthropologie, Kulturphilosophie und Ethik bereits in den Sechzigern vieles vorweggenommen hatten, was später im „Neuen Denken“ der Perestroikazeit relevant wurde. Da die Texte aber aufgrund der sprachlichen Barriere nicht zugänglich waren, hatte das nur den Charakter von Hörensagen. Also, mein Interesse an Georgien entstand in dieser Zeit und hat seitdem nicht nachgelassen. Mein tatsächlich nur kurzer Aufenthalt in Tbilissi 2007 war dann eine Erfüllung meiner Träume. Da gab es kein Moment der Enttäuschung. Es war wie eine Rückkehr an einen Ort, der mir immer schon vertraut war.

- Z. Z. bist Du mit Uznadzes Werken beschäftigt. Mit welchen Zielen? Oder, was interessiert Dich jetzt an Uznadze.

Neben der Geschichtswissenschaft und der Ethnologie gehört die Psychologie zu den fundierenden Wissenschaften einer historischen Anthropologie, um deren Epistemologie bis heute gerungen wird. Uznadze, der 1909 in Halle über den russischen Philosophen Wladimir Solowjow promoviert hat, später über Leibniz und Henri Bergson Monographien veröffentlichte, hat sich immer um die philosophische Fundierung der Psychologie bemüht. Die von Eduard Kodua herausgegebenen philosophischen Werke Uznadzes dokumentieren das. Im Mittelpunkt des Werkes von Dimitri Uznadze steht bekanntlich der Begriff „Einstellung“ (russ. „ustanovka“, engl. „set“). Die französische Übersetzung „attitude“ kommt aber dem deutschen Begriff „Haltung“ näher, der auch in der deutschen Kulturanthropologie eine zentrale Rolle spielt. Dabei geht es nicht nur um eine individualpsychologische Kategorie, sondern um eine fundamentale anthropologische Sichtweise, die auch auf den Bereich der Kultur angewandt werden kann. Insbesondere Uznadzes Schüler Angia Botschorischwili hat daraus dann eine umfassende Philosophische Anthropologie entwickelt. Das dürfte aber bei euch alles bekannt sein. Mich interessiert der kulturanthropologische Ertrag dieses Ansatzes. Während bei uns die philosophische Kulturanthropologie in den Sechzigern abbrach, wurde sie bei euch fortgesetzt. Bedauerlich ist nur, dass jetzt, wo wir uns hierzulande wieder damit beschäftigen, die Georgier offenbar kaum noch Interesse daran haben. Die Bedingungen unter denen die Werke, die den Bezug insbesondere zur deutschen philosophischen Kultur dokumentieren, in der Angia Botschorischwili Bibliothek (Philosophisches Institut) aufbewahrt werden, sind katastrophal. Das alte Uznadze Institut ist ebenfalls in einem schlimmen Zustand. In einem Internetvideo kann man eine junge Frau sehen, die im halbzerfallenen Institut in Bernheims verstaubtem „Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie“ blättert. Uznadze hatte diese Bücher, die damals modernster Standard waren, aus Deutschland mitgebracht. Wo ist ein moderner David Saradschischwili, der sich dieses Erbes annimmt?

- Du beschäftigst Dich viel mit den Ost-West Fragen. Diese Thematik bekommt immer mehr „Schwung“, aber es entstehen auch immer mehr Missverständnisse. Woran liegt das? Ist die Behandlung der Problematik in dieser „Breite“, charakteristisch für die aktuelle Zeit? Ich weiß von den georgischen Autoren, die Du auch kennst, K. Gamsachurdia, G. Robakidze, G. Kikodze und anderen. Später hat Mamardaschwili das Thema der 20er Jahre,das auch später vielfach beschrieben wurde, aufgegriffen. Also, gibt es ein Ost-West-Problem generell, wie es scheint. Was ist heute, bzw. in neuer Zeit hinzugekommen?

Na ja, die Ost-West-Gegensätzlichkeiten sind Teil eines umfassenden kulturellen Differenzierungsprozesses der Menschheit. Es ist gewissermaßen eine Paradoxie, dass jetzt, wo die Menschheit nicht mehr nur eine zoologische Kategorie ist, wie Oswald Spengler meinte, sondern immer mehr zu einem medialen Erfahrungsraum wird, die Gegensätze stärker werden. Das Problem hat sicher viele Aspekte, aber mir scheint, dass wir heute an einem Punkt angekommen sind, wo die Kommunikation nicht nur auf dem Realismus der extensionalen Logik gründen darf. Wir müssen die Differenzierung der Kulturen als semantisches Phänomen ernst nehmen. Die Vagheiten, die Mehrdeutigkeiten der lokalen Sprachen sind die Bedingungen eines schöpferischen Lebens. Der Sprachwissenschaftler Guram Ramischwili hat dazu, nebenbei bemerkt, sehr wichtige Einsichten gewonnen. Tatsächlich werden diese Phänomene bei uns schnell als Nationalismus oder als regionale Idiosynkrasien abgewertet. In Osteuropa, wo die Folgen eines nivellierenden „Internationalismus“ noch in Erinnerung sind, ist man in dieser Hinsicht sensibler. Damit möchte ich keinem bornierten Lokalpatriotismus das Wort reden. Es gehörte übrigens zu den großen Leistungen des Kultursoziologen Alfred Weber, dass sie die Differenz von „Zivilisationsprozess“ und „Kulturbewegung“ von konservativ-pessimistischen Konnotationen gereinigt hat und sie so der Forschung als fruchtbares Instrument zur Erforschung der Globalisierungsprozesse zur Verfügung stellen konnte. Der Ost-West-Gegensatz hat also verschiedene Dimensionen. Es handelt sich um eine spannungsreiche Kulturbegegnung, die der geopolitischen Formierung von Großräumen unterliegt und unter Bedingungen eines globalen Zivilisationsprozesses abläuft. Letztlich ist es ein Kapitel aus der menschlichen Bewusstseinsgeschichte mit dem Titel „Kultur und Macht“.

- Du hast unbemerkt mit deiner ganzen Tat und... Georgien verteidigt viel geschrieben an verschiedene Institutionen in den schwierigen Zeiten nach dem Augustkrieg 2008. Wie war dein Eindruck? Wie reagierte die deutsche Gesellschaft darauf? .... warum?

Insgesamt reagiert sie nur wenig. Das hängt mit dem von mir angesprochenem Provinzialismus zusammen. Die deutsche Lebenswelt wurde nach 1989 vergleichsweise unpolitisch globalisiert. Im Grunde haben die Westdeutschen das Gefühl, dass alles bleibt wie es ist, nur etwas internationaler, etwas bunter, mehr Urlaubsziele. So wie wir innenpolitisch immer alle die Mitte besetzen, so ist es auch außenpolitisch. Das ist in vielerlei Hinsicht illusorisch, da wir natürlich Teil weltpolitischer Auseinandersetzungen sind und auch machtpolitisch immer tiefer in sie hineingeraten. Ich fürchte, dass unser Sonntagsliberalismus zunehmend einem ganz traditionellen Imperialismus weichen wird. Da darf man sich keinen Illusionen hingeben. Wir leben immer noch im Zeitalter des Imperialismus, wenngleich sich, auch darin folge ich Alfred Weber, ein „Ende der bisherigen Geschichte“ abzeichnet. Der Machtstaat des 19. Jahrhunderts zeigt in der imperialen Aufblähung zunehmend Risse und entspricht kaum noch den Erfordernissen unserer Ära. Was die konkrete Frage anbelangt, die Deutschen sind den USA gegenüber kritisch wie weiland Alexis de Tocqueville , den Russen gegenüber gibt es eine Mischung aus Misstrauen und Idealisierung. Der russische Philosoph Fedor Stepun, der in Heidelberg studiert hat, mit Max Weber und Georg Simmel die Zeitschrift „Logos“ gründete und von 1926-1937 in Dresden als Kultursoziologe wirkte, hatte bereits1930 „Formen deutscher Sowjetophilie“ untersucht – da ließe sich heute einiges ergänzen. Gleichzeitig korrespondiert diese Naivität mit einem nicht weniger problematischen Desinteresse an den kulturellen Leistungen der Osteuropäer, inklusive der Russen. Also, was soll ich sagen, wir leben hier in der tiefsten Provinz.

- Du hast den politisch heiße Frühling in Georgien miterlebt. Welchen Eindruck hast Du bekommen? Wie wirkte das ganze sozusagen „nach außen“?

Dieser heiße Frühling wurde hier ziemlich kalt serviert und gibt den meisten Deutschen eher Anlass zu Beunruhigung. Während es im August vergangenen Jahres noch gewisse Sympathien für Georgien gab, entsteht nun der Eindruck einer korrupten „Bananenrepublik“ unter nordamerikanischem Protektorat. Die georgische Oppositionsbewegung profitiert keineswegs von der Staatskrise, sondern unterliegt der gleichen mentalen Inflation wie die Regierung. Die Georgier schmoren zu sehr im eigenen Saft. Die zweifellos vorhandenen Fähigkeiten, der Sinn für das Schauspiel, für Ironie, welche die eingangs angesprochenen Leidenschaften performativ sublimieren könnten, die rhetorische Begabung der Georgier, die, wie Ernesto Grassi am Beispiel des italienischen Renaissancehumanismus aufzeigte, eine wichtige Komponente jedes politischen Gemeinsinns ist, das alles weicht einer unheilvollen Melange aus Misstrauen und Phrasenhaftigkeit. Die im guten Sinne pathetischen Fähigkeiten der Georgier brauchen eine Form, damit Pathos nicht in Pathologie umschlägt. Dafür wäre übrigens auch die philosophische Kultur- und Geschichtsanthropologie ein wichtiges Organon, sie ist gewissermaßen ein Instrument des Sensus Communis. Aber solange Bernheims Lehrbuch, dass übrigens der Kunst und der Phantasie neben dem historischen Tatsachenwissen große Bedeutung zumaß, in alten Regalen verstaubt, wird wohl auch die politisch-moralische Phantasie, derer die Georgier so sehr bedürfen, wenig Chancen haben. Trotzdem sollten wir vielleicht nicht pessimistisch enden, nicht wahr. Lass mich Alfred Weber zitieren: „Aber wir [...] können uns sagen, daß jeder von uns etwas bedeutet [...]. Nicht bloß [...] durch sein Tun, vor allem aber durch die Art seiner Existenz. Sehr viele Lichter machen hell. Und sehr viele Wärmequellen warm. Ihr friert und ängstigt euch im heutigen Dasein. Es liegt an euch und an jedem einzelnen von euch, das zu verändern.“

II. Teil: Liberalismus und Globalisierung

- In den letzten Zeiten gibt es vermehrt Diskussionen über der Rolle bzw. den Platz Georgiens in der globalisierten Welt. Man diskutiert über den Liberalismus der Georgier, über die Identitätsfragen, Alltagskultur, über verschiedene georgische Phobien, über die Journalistische Ethik. Können wir diese Themen zusammen führen und kannst uns bitte etwas dazu sagen, was - deiner Meinung nach - die Globalisierung “gestern”, also etwa in den 80/90 er Jahren, bedeutet und wie man das heute betrachtet? Meinen Beobachtungen nach, hat man in Georgien zu spät angefangen, über solche Themen zu diskutieren. Ist das vielleicht so, dass wir über “Gestern” reden und lassen wir etwas Wichtiges außer Acht?

Marika, das ist ein sehr komplexes Thema, aber ich möchte versuchen, es in einer kulturanthropologischen Sicht zu beleuchten. Wenn wir den Liberalismus seiner konkreten historischen, nationalen und parteipolitischen Kleider entledigen, wenn der Kaiser gleichsam nackt vor uns steht, dann verkörpert er die abstrakte Ideologie des Universalismus, des okzidentalen Rationalismus. Er setzt das Individuum aus traditionalen Bindungen frei und ist insofern der mentale Motor einer globalen Bewusstwerdung. Darin liegt, so denke ich, seine relative Bedeutung und Berechtigung. Bei uns hat sich diese Kernstruktur des Liberalismus seit den 1960er Jahren durchgesetzt, war aber damals noch durch andere Weltanschauungen gezähmt. Aber der Liberalismus ist in erster Linie eine negative Emanzipationsbewegung. Negativ in dem Sinne, dass er lediglich über Freiheiten „von“ etwas und nicht von Freiheiten „zu“ etwas spricht. Der berühmte, in Riga geborene, aber heute als britischer Philosoph angesehene, Ideenhistoriker Isaiah Berlin spricht deshalb vom Konzept der „negativen Freiheit“, um den Liberalismus zu kennzeichnen. „Die negative Freiheit ist jene, in der man meint, der Tiger und das Lamm besäßen das gleiche Recht auf Freiheit und man könne nichts daran ändern, dass der Tiger das Lamm frisst“, hat wohl Berlin auf die Frage des iranischen Philosophen Ramin Jahanbegloo nach der Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit geantwortet. Das heißt, das Individuum wird aus den konkreten Ethosformen der Kulturen herausgelöst und einer scheinbar natürlichen Freiheit überlassen. Das ist kurz gesagt, unsere gegenwärtige Situation. Nahezu alle Kulturen der Vergangenheit waren lokale oder regionale Formen der Moral - die Globalisierung, inklusive der Postulierung universaler Menschenrechte, setzt das Individuum aus diesen Bindungen und Verpflichtungen frei, duldet die Kulturen nur noch als Folklore, die dem dauernden Vorwurf der Idiosynkrasie ausgesetzt sind. Auch Berlin erkannte, dass dies nicht ausreicht. Er sucht nach einem Ausgleich zwischen positiver und negativer Freiheit. Damit die liberale Freiheit nicht zum Sozialdarwinismus entartet, soll sie eingeschränkt werden. Dabei greift Berlin auf die Werte der Kulturen zurück, die der liberale Universalismus aber gerade zersetzt. Die Liberalen bekommen Angst vor dem Geist, den sie aus der Flasche ließen, aber die traditionellen Zaubersprüche, um ihn wieder in die Flasche zu bekommen, sind wirkungslos. Der Liberalismus zerstört die Kulturen, in die er nun die zügellose Freiheit zurückbinden will – das ist seine unauflösbare Paradoxie. Da die Georgier keine Tiger sind, birgt der Liberalismus für sie Gefahren, die nicht zu unterschätzen sind.

Mir geht es nicht um eine Apologie der traditionellen Werte und Kulturen. Ich akzeptiere die neue Situation der Globalisierung. Es ist auch verständlich, dass die Georgier individuelle Freiheitsrechte in Anspruch nehmen wollen. Aber ich bin entschieden der Auffassung, dass der Liberalismus ein falsches Bewusstsein einer richtigen Aufgabe ist. Der Liberalismus scheitert am Problem der Alterität. Er vermag das Problem des Anderen nicht zu lösen. Wozu gibt es überhaupt andere Egos, welchen Sinn haben sie? Radikale Liberale wie Friedrich A. Hayek haben konsequenterweise sogar den Sinn von Begriffen wie Menschheit oder Gesellschaft geleugnet. Es gibt nur das Ich, alles andere ist Grenze, negative Beschränkung. Wenn es nicht gelingt, gleichsam im Ich einen Punkt aufzufinden, der auf die anderen Menschen verweist, der die Menschheit im Ich bezeichnet, dann „Gnade uns Gott“. Das ist genau das Problem des Deutschen Idealismus und auch der an ihn anschließenden Philosophischen Anthropologie. Nun will ich hier nicht zu sehr ins philosophische Detail gehen. Der deutsche Philosoph Hans-Georg Gadamer hat die Aufgabe einmal folgendermaßen umrissen: „Wie können wir, die wir ebenso sehr ein Sinnenwesen wie ein Sittenwesen sind, ebenso sehr von naturhaften Instinkten durchzogen und beherrscht werden, wie von der motivierenden und kontrollierenden Macht unserer Ideen bewegt werden, den Ausgleich finden, der das Gesetz unserer Natur erfüllt.“

Die philosophische Kulturanthropologie ist letztlich ein Versuch, den Gesamtaufbau von Kulturen aus dem Ineinandergreifen von Sinnlichkeit und Sittlichkeit zu begreifen. Das vorantreibende Moment dieses Zusammenhangs ist die menschliche Phantasie, die in Verbindung mit dem werktätigen Handeln, die ästhetische, d.h. formierende Qualität kultureller Prozesse begründet. Eben diese normativen Lebensformen zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit, aber auch zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwischen Tradition und Utopie verdeutlichen das Soziomoralische als anthropologisches Grenzphänomen: Der Mensch begegnet sich immer nur indirekt. Er ist auf Vermittlung hin angelegt. Es ist das Fremdwerden des Eigenen, die ständige Überschreitung der topischen Vertrautheit, d. h. unsere projektive Vernunft, die letztlich die Weltgesellschaft hervorbringt. Aber solange der Mensch ein endliches, d.h. raumzeitlich organisiertes Wesen ist, bedarf er der Kultur, d.h. einer konkreten, anschaulichen Lebensform. Aus dieser `Dialektik´ kommen wir nicht heraus. Ein konkreterer Universalismus muß immer auch ein universellerer Partikularismus sein. Das ist auch die Anthropologie Wascha-Pschawelas. Der Punkt, an dem im Individuum die Menschheit entsteht, ist unsere Einbildungskraft, unsere Phantasie.

Auf das Problem des Liberalismus angewendet heißt das, wenn die Freiheit nicht immer auch gleichzeitig die kulturellen Bedingungen der Freiheit mitproduziert, dann endet diese Art von Freiheit im Nichts. Wenn wir uns am Ende von allem emanzipiert haben, kommt dies dem Versuch gleich, im luftleeren Raum zu atmen. Diese Schwerelosigkeit ist tödlich. Zurab Karumidze hat in einem Aufsatz den Ästhetizismus der Georgier vergleichsweise skeptisch kommentiert. Er charakterisiert die Nationen in Anlehnung an einen Gedanken des dänischen Philosophen Kierkegaard als moralische, religiöse und ästhetische. Als Beispiel für die ersten moralischen Nationen nennt er Deutschland, für die religiösen Russland und für die ästhetischen eben Georgien. Über Typologien lässt sich bekanntlich streiten, dennoch würde ich darin einen wahren Kern sehen. Allerdings glaube ich, dass gerade der ästhetische Weltzugang die Georgier zur Entwicklung einer Lebenskunst befähigt, die den Gegensatz von negativer und positiver Freiheit zu überwinden imstande ist. Vielleicht sind die Georgier diejenigen, die Friedrich Schillers Projekt eines „ästhetischen Staates“ zur Staatsräson erheben werden. Es ist die Fähigkeit des Menschen zu spielen, die unsere Freiheit begründet. Im Spiel, in der Phantasie verbindet sich Freiheit und Notwendigkeit, werden neue kulturelle Formen hervorgebracht, entstehen neue Formen der menschlichen Verbundenheit. Bereits Giorgi Eristawi, der georgische Schriftsteller und Dramatiker, hatte Schillers Gedichte genutzt, um den von ihm geforderten zukünftigen Aufbau des georgischen Staates zu verdeutlichen. Wenn also die Sphäre der Interessen, der liberalen Gesellschaft, der von Journalisten gestalteten Öffentlichkeit nicht brüderlich transzendiert wird, dann wird auch in Georgien die Selbstzerfleischung kein Ende nehmen. Schon Hegel hat die bürgerliche Gesellschaft als ein „geistiges Tierreich“ bezeichnet und die Notwendigkeit von Assoziationen betont, die über die liberale Interessenvertretung hinausgehen. Die Idealisten sind manchmal realistischer als die sogenannten Pragmatiker. Aber das ist ein Thema für ein ganzes Buch, wie mir scheint.









Dezember, 2009

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